Zeit steht allen zur Verfügung. Menschen wie Institutionen. Mit Geld beispielsweise ist das eine andere Sache: Aus Geld kann man nur etwas machen, wenn man es wirklich hat, und das ist keineswegs der Normalfall. Aus Zeit hingegen kann jeder etwas machen, obwohl sich alle mehr oder weniger an die Formel gewöhnt haben: „Ich habe …“ oder „Wir haben keine Zeit für so etwas“ – was immer es sein mag.
Zeit ist allgegenwärtig und umgibt den Menschen immer und das in mehrfachem Sinne: Wir werden in eine bestimmte Zeit hineingeboren. Zuvor haben wir etwa neun Monate im Bauch unserer Mutter verbracht. Auf uns wartet eine bestimmte Lebenszeit und in jedem Moment unseres Lebens werden wir eine Sekunde, eine Minute älter, wobei wir selbst oft das Gefühl haben, dass Sekunden oder Minuten rasant schnell vergehen oder sich endlos hinziehen. Überall ist Zeit als lebensbestimmender Faktor im Spiel.
Auch Institutionen existieren in der Zeit und leben von Zeit – und auch sie in mehrfachem Sinne. Schulen zum Beispiel sind in ganz besonderem Maße zeitbestimmende Institutionen, und zwar bezogen auf die Gesellschaft und jeden einzelnen Menschen. Schule gehört genaugenommen zu den zeitreichsten Institutionen in der Gesellschaft und hat historisch gesehen ständig an Zeitumfang und an Qualität zugenommen. Das aber war kein Spaziergang, sondern bedurfte härtester Anstrengungen von Lehrkräften, von Eltern, der Wissenschaft und von Institutionen. Zu einem der wichtigsten Ergebnisse dieser Anstrengungen, die allerdings noch lange nicht beendet sind, kann man die Ganztagsschule zählen.
Beschleunigung und Verlangsamung an Ganztagsschulen
Ganztagsschulen lehren und erfordern einen neuen Zeitgebrauch. An vorderster Stelle steht dabei, dass sie das uralte pädagogische Problem des Verhältnisses von Beschleunigung und Verlangsamung neu oder zumindest besser als gebräuchliche Schulen lösen können. Schule ist immer an ein bestimmtes, ihr von der Gesellschaft eingeräumtes Zeitlimit gebunden. Es sollen und müssen Ergebnisse erreicht werden. Das aber verführt oft zu schnellem Abarbeiten von Inhalten, zu Hast und Eile. Dem einzelnen Kind oder Jugendlichen werden dabei wenig Zeit und Möglichkeiten zur Vertiefung, zu individueller Verarbeitung, zur Vergewisserung durch Gespräche mit anderen und zur Erschließung weiterer Quellen zugestanden. Aber auch die Eltern können diese Bedürfnisse und Erfordernisse oft nicht auffangen. Manche Kinder finden zu Hause gar nicht die entsprechenden Bedingungen vor, um das in der Schule Gelernte zu vertiefen und verarbeiten. In anderen Elternhäusern wiederum werden sie mit Bildungsangeboten förmlich überflutet und dadurch auf andere Weise hilflos.
Das schwierige Problem des Wechsels zwischen Beschleunigung und Entschleunigung beziehungsweise Verlangsamung können Ganztagsschulen vor allem dadurch lösen, dass sie Kindern großflächig geordnete Tagesabläufe und eine klare Rhythmisierung des Tages anbieten. Aus Untersuchungen geht hervor, dass es etliche Kinder gibt, die eine solche Rhythmisierung täglicher Abläufe nicht mehr kennen. Das beginnt mit „entsorgter“ Frühstückszeit zu Hause, setzt sich oft in der Schule durch ungenügende Strukturierung unterrichtlicher Einheiten, durch mangelnde Pausenzeiten und schließlich über unausgefüllte – also nicht mit Gewinn für die Persönlichkeit verbundene – nachmittägliche Zeiten zu Hause oder auf der Straße fort.
Selbstständigkeit und Kreativität statt zeitlichem Korsett
Ganztagsschulen können dem auf sehr eindrucksvolle Weise einerseits entgegenwirken, andererseits nicht nur ein Gegenbild entwickeln, sondern auch Neues schaffen. Das ist möglich, indem sie strukturierte und rhythmisierte Abläufe anbieten und außerdem von vornherein mit der Selbstständigkeit und Kreativität der Kinder rechnen und diese zugleich fördern und entwickeln. Die Kinder werden nicht in vorgegebene Abläufe über den ganzen Tag wie in ein Korsett hineingepresst, sondern mit ihren Interessen und Bedürfnissen gesehen. Ihnen wird Zeit für individuelle Aktivitäten, für Ruhe und Besinnung eingeräumt. Und was ebenso wichtig ist: Ihnen werden Bezugspersonen zur Verfügung gestellt, die beraten, anleiten, helfen, trösten. Diese Personen sind nicht nur Lehrkräfte. Vielmehr können sich die Schülerinnen und Schüler durch die multiprofessionellen Teams an vielen Ganztagsschulen mit ihren Belangen auch an Sozialarbeiter, Erzieherinnen und Erzieher und andere pädagogische Mitarbeitende wenden. Gleichzeitig wird ihnen in der Ganztagsschule aber auch die Möglichkeit gegeben, sich unaufgefordert zurückzuziehen.
Wie viele, mir aus In- und Ausland bekannte Schulen haben sich auch die drei in diesem Kapitel vorgestellten Schulen auf den Weg gemacht, anders und neuartig mit Zeit umzugehen. Schulen, die sich auf einen solchen Weg begeben, verweisen zu Recht darauf, dass dieser Weg Zeit braucht. Mit einem rasch erstellten Konzept und einer Umsetzungsdauer von einem oder zwei Jahren ist hier noch kein Erfolg zu erzielen. Alle, die solche mutigen Schulen fördern, begleiten, besuchen, sollten ihnen zugleich Zeit lassen, sich zu erproben, und ihnen dabei helfen, Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, wenn sie es alleine nicht schaffen.
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