Die Ganztagsschullandschaft in Deutschland bietet kein einheitliches Bild. Schulische Angelegenheiten werden ausschließlich von den einzelnen Bundesländern selbst geregelt. Dadurch gibt es ganz unterschiedliche Vorgaben für die Gestaltung von Ganztagsschulen. Hinzu kommen die unterschiedlichen Traditionen von Ost- und Westdeutschland. Das Schulsystem der DDR war beispielsweise flächendeckend auf ganztägige Betreuung von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet. Dies wurde durch Unterricht am Vormittag, eine Mittagsmahlzeit, Unterricht bzw. Hortbetreuung am Nachmittag mit Erzieherinnen und Erziehern gewährleistet. Viele dieser Strukturansätze sind auch heute noch zu finden. In den alten Bundesländern gab es nur vereinzelt Schulen, die von jeher ganztägige Beschulung und/oder Betreuung für alle Schülerinnen und Schüler anboten und organisierten. Es waren vor allem Gesamtschulen und Internate.
Bereits 1973 hatte der Deutsche Bildungsrat empfohlen, den Anteil von Ganztagsschulen in Deutschland schrittweise auf bis zu 30% zu steigern. Dieser Vorschlag wurde von den Bundesländern nicht umgesetzt. Vielfach scheiterte die Umsetzung an den Finanzen, aber auch an der ablehnenden Haltung der Bildungspolitik; und das, obwohl sich die Nachfrage der Eltern nach Ganztagsplätzen auch Ende der 80er bis Mitte der 90er Jahre auf 20 bis 40 Prozent belief.
Seit den 90er Jahren setzen einzelne Bundesländer, vor allem die neuen, weiter auf ein Betreuungsangebot im Hort, der morgens vor Unterrichtsbeginn und im Anschluss an die Unterrichtszeit bis in den späten Nachmittag für Schulkinder Spielzeiten, Lernangebote und Hausaufgabenbetreuung bietet – teilweise müssen Eltern hierfür bezahlen. Andere Bundesländer führen vor allem im Grundschulbereich eine gesicherte Schulzeit bis mittags (Schule mit festen Öffnungszeiten) oder eine erweiterte Schulzeit über die Mittagszeit hinaus (Über-Mittag-Betreuung) ein. In den meisten der westdeutschen Bundesländer entstanden auch in den weiterführenden Schulen vereinzelt schulische Ganztagsangebote am Nachmittag (Schule mit Betreuungsangebot) oder gebundene Ganztagsschulen, wie zum Beispiel die Gesamtschulen in NRW. In den ostdeutschen Bundesländern gibt es nach wie vor in allen Regionen Schulen mit eigenem Hort, der von Schülerinnen und Schülern besucht werden kann.
Die Situation im Ganztagsbereich wandelt sich seit einigen Jahren deutlich. Das liegt auch an der Unterstützung der Ganztagsschulprogramme der Länder durch das Investitionsprogramm des Bundes (IZBB) für den Ganztagsbereich.Deutschland gehört unter den Industrienationen nach wie vor zu den wenigen Ländern, in denen die tägliche Schulzeit für die meisten Grundschulkinder im Durchschnitt nicht einmal bis zum Mittag reicht. Die Akzeptanz für Ganztagsschulen in der Bildungspolitik und bei der Bevölkerung steigt in den letzten Jahren zusehends. 2004 waren laut einer Repräsentativumfrage des Instituts für Schulentwicklungsforschung 56% der befragten Bürger dafür, dass mehr Ganztagsschulen in Deutschland eingerichtet werden. Besonders im Grundschulbereich stimmten Eltern für den Ausbau des Ganztagsschulangebots, damit ihre Kinder möglichst frühzeitig eine gute, individuelle Förderung erhalten; aber auch, um eine ganztägige Betreuung zu ermöglichen. In Deutschland besuchten im Jahr 2004 mehr als 8,7 Mio. Schülerinnen und Schüler die allgemeinbildenden Schulen im Primarbereich und Sekundarbereich I (einschließlich Sonderschulen). Von ihnen nahmen immerhin fast 1,1 Mio. (12,5%) am Ganztagsschulbetrieb teil (KMK 2006). Die Zahlen steigen weiterhin und vielleicht wird in Deutschland schon in wenigen Jahren die flächendeckende Versorgung mit Ganztagsschulen selbstverständlich sein.
Wozu führen eine erweiterte Lernzeit und differenzierte Lehrmethoden?
Die Ansprüche und Forderungen an junge Erwachsene haben sich in den letzen Jahren erheblich erweitert. Die Anforderungen an die Qualifikationen und auch an das Fähigkeitsniveau von Schulabgängern sind gestiegen. Umfangreiches Fachwissen allein, auf das normalerweise überwiegend in Schulen hingearbeitet wird, macht noch nicht zukunftsfähig. Junge Menschen müssen auch bestimmte Fähigkeiten erwerben, die praktisch „quer“ zu den Schulfächern liegen. Man nennt sie Schlüsselkompetenzen, das sind beispielsweise Fähigkeiten zur Planung oder zum Umgang mit Medien, Sprach- und Kommunikationskompetenzen, Teamfähigkeit. Es handelt sich aber auch um Orientierungswissen. Schwierige Zusammenhänge, Medienprodukte oder technische Systeme wie Internet verlangen von den Menschen heute praktisch Expertenwissen, das sich im Alltag als notwendiges Orientierungswissen darstellt.
Dies alles bedeutet, dass attraktive und zukunftsträchtige Berufe eine entsprechende Vorbereitung in der Schule verlangen. Für anspruchsvolle berufliche Kompetenzen werden eben hohe Grundfähigkeiten benötigt, die durch eine ganztägige Schule mit ihren erweiterten Lernzeiten und veränderten Lehrmethoden erworben werden können.
Beispiel
Annika Hillebrand geht in die sechste Klasse einer Realschule. In der Schule lernt sie reichlich Fachwissen. Aber nach Hause kommt sie oft mit vielen Fragen, die in den Fächern wenig behandelt werden – warum das Ozonloch wächst, warum Atomkraftwerke gefährlich sind, wieso Firmen mit Gewinnen keine Arbeitsplätze schaffen, warum es in Afrika mehr Krankheiten und Epidemien gibt. Ihre Eltern waren mit den Fragen oft überfordert. Seit ihre Schule Ganztagsschule geworden ist, findet sie Raum und Zeit und vor allem Menschen, die ihre Fragen beantworten oder ihr zeigen, wo sie Antworten auf ihre Fragen finden kann.
Eine Bildungseinrichtung wie die Ganztagsschule mit der erweiterten Lernzeit ermöglicht vielfältige Erfahrungen, sie kann Wissen „aufschließen“, Aufklärung leisten und somit auch Orientierung bieten. Sie bereitet auf die Anforderungen der Wissensgesellschaft vor.
Die Ganztagsschule ist dazu durchaus in der Lage. Grundvoraussetzung ist eine
erweiterte Lernzeit und
differenzierte Lehrmethoden.
Um Schlüsselkompetenzen, Orientierungswissen und Fachwissen zu vermitteln, muss die Schule mit speziellen Methoden und Lernverfahren arbeiten (z. B. Experimente, Projekte, Erkundungen in der Praxis). Dies braucht mehr Flexibilität und vor allem auch mehr Zeit, als es die halbtägige Schule ermöglicht.
Welche Möglichkeiten bietet die gebundene Ganztagsschule?
Im Gegensatz zur offenen Form sind in der gebundenen Form der Ganztagsschule Unterricht und Angebote sowie Pausen und Entspannungsphasen über den ganzen Tag verteilt und in den Tagesablauf integriert. Die gebundene Ganztagsschule wird von ALLEN Schülerinnen und Schülern der Schule besucht. Sie bietet Gelegenheit, das pädagogische Konzept auf die Bedürfnisse aller Kinder und Jugendlichen abzustimmen. Pausen, Freizeitangebote und Unterricht können flexibel über den ganzen Tag gelegt werden. Somit kann dem starren traditionellen Schulrhythmus ein beweglicher, den gesundheitlichen Erkenntnissen entsprechender Tages- und Wochenrhythmus entgegengesetzt werden, der auf einen altersentsprechenden Bewegungsdrang, auf Konzentrationsfähigkeit, auf Lernwünsche und Erholungsbedürfnisse Rücksicht nimmt. Es geht um einen Wechsel von Lern- und Freizeitaktivitäten, von Ruhe und Bewegung, von Anspannung und Entspannung für die Schülerinnen und Schüler.
Tagesstruktur einer gebundenen Ganztagsschule
Copyrigth: Holtappels, 2003
Eine Intensivierung von Lernförderung und Lerngelegenheiten kann erst gelingen, wenn möglichst alle Schülerinnen und Schüler am Ganztagsunterricht teilnehmen, wie dies in der gebundenen Form der Fall ist. Hier ist der Schultag für alle Schülerinnen und Schüler pädagogisch ganzheitlich gestaltet und zeitlich rhythmisiert. Kinder und Jugendliche können durch die erweiterte Lernzeit gezielter gefördert und ihrem jeweiligen Entwicklungsstand entsprechend fachlich unterstützt werden. Dies wird unterstützt durch:
stabilere Gruppenkonstellationen
eine größere personelle Kontinuität
die systematischere und effektivere Kooperation zwischen Lehrkräften
und sozialpädagogischem Personal, Honorarkräften, Ehrenamtlichen
sowie außerschulischen Partnern.
Quelle:
WAS IST EIGENTLICH EINE GANZTAGSSCHULE?
Eine Informationsbroschüre für Eltern und Interessierte mit DVD
Katrin Höhmann, Ilse Kamski, Thomas Schnetzer Werkstatt „Entwicklung und Organisation von Ganztagsschulen“, Institut für Schulentwicklung (IFS)
ISBN 10: 3-9810519-6-3
ISBN 13: 978-3-9810519-6-4