An der Allgemeinen Förderschule Pestalozzi in Lübbenau werden lernbeeinträchtigte Kinder individuell gefördert. Die Tage der Ganztagsschule sind jedoch gezählt.
Von Katharina Zabrzynski
Im Grunde war die Aufgabe eindeutig formuliert: Die Sechstklässler sollen auf den nächsten zwei Seiten ihrer Lektüre bestimmte Schlüsselwörter suchen. Aber Jonas* hat der Lehrerin nicht richtig zugehört, schnell überblättert er die Seiten und wird nervös, weil er die Wörter nicht findet. „Lesen ist doof“, sagt er. Heike Gärtner spürt seine Unruhe. Während sie noch bei einer Schülerin verweilt, fordert sie ihn auf, sich schon mal der zweiten Übung zu widmen. Doch Jonas ärgert lieber einen Mitschüler. Erst bei der nächsten Aufgabe ändert er sein Verhalten. Die Schülerinnen und Schüler lesen jetzt nacheinander laut vor. Wenn ihnen dabei Fehler unterlaufen, klopfen die Mitschüler kurz auf ihren Tisch. Jonas kennt das Spiel. Tief über seinem Buch gebeugt, verfolgt er den Text und wirkt zufrieden, wenn er einen Lesefehler entdeckt.
Heike Gärtner ist einen solchen Unterrichtsverlauf gewohnt. Als Leiterin der Klasse 6b hat sie es mit der leistungsstärkeren, aber auch verhaltensauffälligeren der beiden sechsten Klassen zu tun. „Ich kenne alle meinen Schüler sehr gut“, sagt sie, „die Klasse ist ja nicht groß und ich kann mich jedem Kind widmen.
Individuelles Förderprogramm für alle Schüler
Die Schule besuchen Kinder und Jugendliche mit einer Lernbeeinträchtigung oder sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen. Das ist die Aufnahmebedingung. Doch viele Schülerinnen und Schüler bringen gleich mehrere Bedarfe mit. Oft waren sie vorher auf einer Regelschule, haben dort Misserfolge gehabt und sind entsprechend verhaltensauffällig. Einige sind körperlich beeinträchtigt, sie nässen ein, müssen Medikamente einnehmen oder leiden unter einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Für alle Schüler wird ein individueller Förderplan erstellt. „Wenn ein Kind neu zu uns kommt, versuchen wir durch ständige Gespräche mit dem Kind und untereinander schnell herauszufinden, wo es steht“, sagt die Schulleiterin Inge Nevoigt. „Die Förderpläne werden nach regelmäßigen Klassenkonferenzen in Absprache mit den Lehrkräften erstellt. Eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern ist da sehr wichtig.
Eine Klasse zählt im Schnitt ein Dutzend Schülerinnen und Schüler. Die kleinen Klassen und eine angemessene Rhythmisierung des Schulaltags sind wichtige Voraussetzungen für eine individuelle Förderung der Kinder und Jugendlichen. In der gebundenen Ganztagsschule gibt es einen offenen Unterrichtsbeginn, Arbeitsstunden, Unterricht nach Stundentafel einschließlich zahlreicher Erholungspausen und vielseitiger Angebote in den Arbeitsgemeinschaften. Auch bei der inhaltlichen Gestaltung des Unterrichts wird auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler geachtet. „Wir setzen unterschiediche Lenrmethoden ein, wechseln zwischen Frontalunterricht, Gruppen- und Einzelarbeit“, erklärt Nevoigt. Dieses individuelle Eingehen auf die Schülerinnen und Schüler haben sich die Pädagogen im Laufe der Jahre erarbeitet und geben es immer an neue Lehrkräfte weiter. „Neue Kollegen sind oft noch einen Frontalunterricht gewohnt und merken schnell, dass die Kinder nicht das machen, was sie wollen. Dann bekommen sie einen Kollegen an die Seite, bei dem sie sich Tipps holen können.“
Individuelle Förderung durch Binnendifferenzierung
Mathematikunterricht in der Klasse 6b. In Einzelarbeit setzen die Schülerinnen und Schüler Lük-Kästen zusammen und arbeiten dabei mit unterschiedlichen Aufgabenheften. Viele rechnen laut, bevor sie die Plättchen auf die Felder setzen. Jonas sitzt nun in der ersten Reihe, Mathe ist sein Lieblingsfach. „Manchmal darf ich auch die Wahlaufgaben machen“, sagt er stolz. Dass er gut im Rechnen ist, sieht man an seinem Lük-Kasten, der ist doppelt so groß wie der seines Banknachbarn. Jonas klappt den fertiggebauten Kasten um und schaut zufrieden auf das symmetrische Muster: alle Aufgaben richtig gelöst. Dann dreht er sich zu seinem Mitschüler um und tippt auf ein Feld hin: „Das ist falsch, das musst du nochmal rechnen“.
Jedes Kind entsprechend seiner Begabung fördern. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, bekommen die Pestalozzi-Schüler entweder unterschiedliche Aufgaben oder zusätzlich Wahlaufgaben, sofern sie in einem Fach überdurchschnittliche Leistungen erbringen. Wenn die Schülerzahl es erlaubt, werden in einer Jahrgangsstufe zwei kompetenzorientierte Klassen gebildet. Gerade in der zehnten Klasse sei eine solche Binnendifferenzierung wichtig, besteht bei einigen Jugendlichen doch die Chance, dass sie die Förderschule nicht nur mit einem Abgangszeugnis, sondern mit einer Berufsreife abschließen. „In der leistungsstärkeren Gruppe orientieren sich die Lehrkräfte am Lehrplan der Oberschule“, sagt Nevoigt. „Vorher erklären wir den Schülern aber, dass sie in den beiden Gruppen unterschiedlich bewertet werden, dass sie eventuell sogar schlechtere Noten bekommen werden als in der Parallelklasse, obwohl sie besser sind.“
Inklusion ist der richtige Weg
Die Tage der Schule sind gezählt. Wie alle Bundesländer hat Brandenburg entschieden, die EU-Behindertenrechtskonvention im Bildungsbereich umzusetzen und Förderschulen in den kommenden Jahren abzuschaffen. Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf sollen künftig an regulären Schulen unterrichtet werden. Inklusion lautet das Ziel. Die Pädagogen der Pestalozzi-Schule bereiten sich auf die Umstellung vor. Sie besuchen Schulen, die Förderschüler in den Unterricht einbinden und einige von ihnen unterrichten bereits stundenweise an Regelschulen in der Region. Nevoigt hält die Inklusion grundsätzlich für den richtigen Weg. „Es funktioniert aber nur, wenn man es nicht nur halbherzig macht“, sagt sie. „Viele Schulen setzen auf die soziale Integration. Das was wir machen, nämlich auf das einzelne Kind schauen und ihm so viel Bildung wie möglich vermitteln, damit es im späteren Leben zurecht kommt, wird an vielen dieser Regelschulen nur mitbedient.“ Solange sich dies nicht ändere, seien Förderschulen nicht per se schlecht. Bestätigt bekomme sie es regelmäßig von Eltern, die bedauern, dass sie ihr Kind nicht gleich auf der Förderschule untergebracht haben. „Sie sehen, dass es ihren Kindern bei uns gut geht. Dass sie nicht mehr einnässen, besser schlafen und keine Verweigerungshaltung an den Tag legen“.
*Name gändert.
Foto: www.brandenburg-abc.de