Sozialpolitische Argumente und Begründungen für eine ganztägige Schulorganisation
Im Zuge der Diskussion der letzten Jahre wurden – wie bereits angedeutet – weniger bildungspolitische als vielmehr sozial- und arbeitsmarktpolitische Argumente zur Begründung eines Ausbaus ganztägiger schulischer Betreuungsformen angeführt (vgl. Holtappels 1994, Holtappels 1995, Witting 1997). Dies zeigt sich im politischen Sektor unter anderem in vielen Pressemitteilungen und Informationen der zuständigen Ministerien zum Thema (vgl. etwa die jeweiligen Internet-Auftritte). Als zentraler Ausgangspunkt für eine sozialpolitische Argumentation dient zumeist der Verweis auf den tiefgreifenden Wandel der Institution Familie. Die Familie, bestehend aus einem erwerbstätigen Vater, einer Mutter als Hausfrau und zwei oder mehr Kindern in schulpflichtigem Alter ist nicht mehr vorherrschendes Modell familialer Gegenwart. (Witting 1997). Durch die steigende Erwerbstätigkeit der Mütter (so sind laut Mikrozensus 1999 57,8 % der Mütter in Zwei-Eltern-Familien und 58,2 % der alleinerziehenden Mütter erwerbstätig) ergeben sich hinsichtlich der Betreuung von Kindern im schulpflichtigen Alter während der Arbeitszeit zunehmend Konflikte, die eine Vereinbarung von Familie und Beruf erschweren.
Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin ergab, dass durch ein umfassendes Betreuungsangebot von Kindern diese Disparitäten erheblich ausgeglichen werden könnten. So konnte beispielsweise ein Zusammenhang zwischen der Intensität der Kinderbetreuung und der Erwerbsbeteiligung von Müttern nachgewiesen werden. Aber nicht nur die tatsächliche Beteiligung am Erwerbsleben, sondern auch der Wunsch, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, steigt offensichtlich mit der Intensität der Kinderbetreuung (vgl. Büchel, Spieß 2002).
Ein weiterer Aspekt des Wandels des Familienbildes ist die steigende Anzahl von Ein-Eltern-Familien. Laut Mikrozensus 1999 sind mittlerweile 22,7 % der Familien mit Kindern Ein-Eltern-Teil-Familien. 19,2 % der Kinder wachsen in diesen Familienformen auf. Besonders diese Familien sind für eine Erwerbstätigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts auf eine geregelte Unterbringung der Kinder während der Arbeitszeit angewiesen. Alternativen zu einer ganztägigen Betreuung in der Schule wären entweder unbeaufsichtigte Zeiten für die Kinder bzw. kostenpflichtige Angebote des privaten Marktes oder aber die Aufgabe des Berufes und die daraus resultierende Inanspruchnahme von Sozialtransferleistungen (Arbeitslosengeld, Sozialhilfe usw.). Eine solche Argumentation impliziert allerdings nicht per se ein ganztägiges schuli-
sches Angebot im Sinne einer „echten“ Ganztagsschule. Vielmehr würde eine reine organisierte „Beaufsichtigung“ oder „Verwahrung“ der Schüler am Nachmittag – ob in der Schule oder außerhalb – diesen Ansprüchen genügen. Weitergehende Argumentationen in dieser Richtung fordern neben einer reinen Beaufsichtigung noch eine Verlagerung der schulbezogenen Elterntätigkeiten (Hausaufgabenbetreuung, häusliche Nachhilfe usw.) in die Nachmittagsbetreuung, so dass alle schulbezogenen Aktivitäten an den Ort ihres Entstehens verlagert und die Elternhäuser diesbezüglich entlastet werden würden. Aber auch dies wäre mit einer pädagogisch organisierten Nachmittagsbetreuung an Halbtagsschulen (oder anderen Institutionen) erreichbar und impliziert noch keine Argumentation für ein „echtes“ schulisches Ganztagsangebot.
Auf der veränderten Familienzusammensetzung basiert noch ein drittes komplexeres Argument. Angesichts sinkender Geburtszahlen und dadurch bedingter Folgeprobleme wie niedrigen Kinderzahlen in den Familien (laut Mikrozensus 1999 wachsen 30,5 % der Kinder als Einzelkinder auf), sinkenden Kinderzahlen in der unmittelbaren Wohnnachbarschaft usw. haben Kinder – besonders in städtischen Wohnumfeldern – zunehmend nur geringe Möglichkeiten, mit Geschwistern oder auch Gleichaltrigen jene Form kindzentrierter Kommunikation und Interaktion zu erleben, die eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung von Solidarität in der Gruppe der Gleichen darstellt? (Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, 1990, zitiert nach Ludwig 1993). Diese fehlenden Kontaktmöglichkeiten mit anderen Kindern werden durch für freies Spielen zunehmend ungeeignete Wohnumfelder verstärkt (vgl. Ludwig 1993) Stetig steigender Verkehr in den Städten und immer weniger ungenutzte Flächen verdrängen die Spielaktivitäten entweder auf reglementierte Flächen (Spielplätze, Sportplätze etc.) oder aber in die Wohnungen, die in der heute üblichen Form Kindern nur geringe unmittelbare Erfahrungs- und Betätigungsmöglichkeiten bieten (vgl. Colberg-Schrader 1989) (Ludwig 1993). Aus dieser Entwicklung wird die Forderung an die Schule abgeleitet, einerseits angesichts zunehmend flexibler und vielfältiger werdender Familienformen erzieherisch kompensatorische Aufgaben zu übernehmen und andererseits ein Ort zu sein, an dem die Schüler über den Unterricht hinaus Kontakte mit anderen Kindern knüpfen können, um die ansonsten mangelhafte oder ganz fehlende Sozialisation im Umgang mit anderen Kindern sicherzustellen. Dies stellt erhebliche Ansprüche an die Schule hinsichtlich ihrer pädagogischen Ausgestaltung. Der Erziehungsauftrag – laut Grundgesetz eigentlich zuförderst Aufgabe der Familien (vgl. Art. 6 Abs. 2 GG) – würde in den Schulen mehr in den Blickpunkt rücken.
von Dipl. päd. Falk Radisch und Prof. Dr. Eckhard Klieme
Quelle:
Wirkung ganztägiger Schulorganisation, Bilanzierung der Forschungslage Literaturbericht im Rahmen von „Bildung Plus“
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Zusammengestellt: Sabine Schweder
Datum: 23.12.2005
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