Schüler mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf lernen an der Regelschule Winzerla gemeinsam. Die Lehrkräfte wollen mit differenzierten Lernformen alle Schüler gleich gut fördern. In der Lernzeit entscheiden die Schüler selbst, welche Aufgaben des Wochenplans sie lösen.
Von Britta Kuntoff
„Sehen Sie sich hier ringsum! Wie gefällt Ihnen die Gegend? Sie ist die schönste, welche ich auf die Dauer gekannt habe.“ – Wer die Abfahrt Göschwitz auf der Bundesautobahn 4 nimmt, muss nur wenige hundert Meter fahren, um zu verstehen, warum Johann Wolfgang von Goethe beim Anblick Jenas so ins Schwärmen geriet. Geschehen vor fast zweihundert Jahren. Das Panorama aus Muschelkalkhängen und Mischwäldern ist geblieben. DDR-Plattenbau und die beiden Schornsteine des Heizkraftwerks sind hinzugekommen. Im Stadtteil Winzerla kann man diese Mischung aus Romantik und Industrie besonders gut durch die Fensterscheibe des Musikraums der Regelschule betrachten. In der Carl-Zeiss-Stadt wird eben Wert auf guten Durchblick gelegt – das gilt erst recht für die Lehrkräfte der Regelschule Winzerla, die ihr Augenmerk auf neue Lernkonzepte legen und erfolgreich neue Lernformen erproben.
Die Regelschule Winzerla im Süden von Jena hat sich fünf Jahre lang auf den Weg hin zu einer gebundenen Ganztagsschule gemacht; 2009 ist aus dem Plan Wirklichkeit geworden. 249 Schülerinnen und Schüler besuchen hier die Jahrgangsstufen fünf bis zehn. Sie können den Hauptschul-, den Qualifizierenden Hauptschul- oder einen Realschulabschluss erreichen.
Länger gemeinsam lernen
Die Schulform der Regelschulen in Thüringen ist im Zuge der Umstrukturierung des Schulwesens nach der Wende entstanden und ermöglicht es den Jugendlichen in Winzerla, länger gemeinsam zu lernen. Denn ab der siebten Klasse teilt sich hier der Unterricht in einigen Fächern wie etwa Englisch und Mathematik. Das Leistungsniveau dieser Kurse unterscheidet sich nach den Anforderungen des angestrebten Abschlusses. Der Klassenverbund aber bleibt. Dagmar Zipfel, seit 2004 stellvertretende und seit letztem Jahr kommissarische Schulleiterin, sieht in dieser integrativen Arbeit einen klaren Vorteil: „Kinder, die auf einem Gebiet schwächer sind, haben dafür anderswo Stärken, von denen die mit den manchmal besseren Noten etwas lernen können.“
Vielfalt, die auch viele Probleme bedeuten kann, zumal knapp ein Fünftel der Schüler einen sonderpädagogischen Förderbedarf hat. „In unseren Klassen sitzen mitunter Schüler beisammen, von denen der eine Siebtklässler nur schwer bis Einhundert zählen kann, der andere dagegen bei der Matheolympiade erfolgreich ist“, erzählt Dagmar Zipfel. „Und alle wollen wir bestmöglich fordern und fördern.“ Aber wie kann das gelingen? Die kommissarische Schulleiterin ist sich sicher: „Wir müssen den Unterricht verändern, sonst funktioniert Schule heute nicht mehr.“
Individuelle Lernzeit
Alte Lernmodelle zu überdenken und neue Ansätze umzusetzen, daran arbeitet die Regelschule Winzerla seit Jahren, auch innerhalb des Netzwerkes Ganztagsschule. Ein Ergebnis ist die individuelle Lernzeit, in der die Kinder der Klassenstufen fünf bis sieben an drei Wochenstunden Aufgaben eines Wochenplanes lösen. Diese Zeit gewinnen sie, weil die Fächer Mathematik, Deutsch und Englisch je eine ihrer regulären Wochenstunden abgeben. In den Klassenstufen acht bis zehn findet die individuelle Lernzeit einmal wöchentlich statt.
„Während der individuellen Lernzeit entscheiden die Kinder, welche Aufgaben sie erledigen“, sagt Dagmar Zipfel, und die zwölfjährige Jasmin erklärt: „Zum Beispiel löse ich Aufgaben für Englisch, das ist gerade ein Vokabelpuzzle. Neben mir schreibt Maximilian etwas für Deutsch und betreut werden wir alle von unserem Mathelehrer.“In dieser besonderen Lernsituation können leistungsschwache Kinder auch von einem zweiten Fachlehrer in einem anderen Raum eine intensive und individuelle Förderung bekommen. Jasmin weiß die individuelle Lernzeit zu schätzen:„Wir lernen selbständig zu arbeiten und uns die Zeit gut einzuteilen.“
„In der individualisierten Lernzeit ist auch nur individualisierter Unterricht möglich“, sagt Dagmar Zipfel. In einigen Köpfen ihrer Kollegen musste der Gedanke an offenes Lernen und kooperative Lernmethoden erst wachsen. „Bei dieser Art zu lernen und zu lehren ist das Ergebnis meist offener als beim Frontalunterricht. Die Lehrer müssen sich auch mal zurücknehmen und die Kinder machen lassen. Das fällt nicht jedem unserer 35 Lehrer leicht“, bekennt Dagmar Zipfel. (—) Kathrin Löber, Lehrerin für Geografie und Sozialkunde fügt hinzu: „Schule muss sich umgestalten. Acht, neun Stunden im Ganztagsbetrieb kann kein Schüler nach altem Muster pauken.“
Phasen des Lernens und der Entspannung
Damit der lange Tag Schule gelingt, ist die Zeit zwischen dem Unterrichtsbeginn um 7.30 Uhr und dem Schulschluss um 14 oder 15 Uhr im Sinne des Rhythmisierungsgedankens nach Phasen des Lernens und des Entspannens strukturiert: Nach der ersten 45minütigen Unterrichtstunde frühstücken die Kinder, dann folgen bis zum Mittagessen zwei Doppelblöcke Unterricht á 90 Minuten, dazwischen liegen dreißig Minuten Pause.
An zwei Tagen in der Woche haben die Schüler der fünften und sechsten danach Schulschluss, die ab der siebten Klasse bis 14 Uhr Unterricht. Montags und donnerstags wählen die Kinder aus dem Nachmittagsangebot, ob sie beispielsweise lieber Trommeln, sich beim Handball austoben oder den Kurs besuchen, der Raum für Mädchen- oder Jungenfragen bietet. Das Mittagsband am Dienstag ist ganz dem Lesen verpflichtet. „Da liest die ganze Schule, eine ganze Stunde lang. Das haben wir uns ausgedacht, um die Lust am Lesen zu wecken“, so Dagmar Zipfel.
Die Regelschule Winzerla hat einen Antrag gestellt, um Gemeinschaftsschule zu werden. „Die Entscheidung für eine bestimmte Schullaufbahn ist nach der vierten Klasse viel zu früh. Deshalb möchten wir die Kinder durchgängig von Klasse eins bis acht unterrichten“, erzählt die kommissarische Schulleiterin. Zukunftsmusik. Doch das Konzept einer Schule des gemeinschaftlichen Lernens und Lebens scheint schon jetzt aufzugehen: Es ist 15.45 Uhr. Für Angelique aus der 5b ist die Schule eigentlich längst vorbei, doch sie ist immer noch da. Das Mädchen poliert emsig den Wasserhahn ihres Klassenzimmers bis er glänzt. Freiwillig. In ihrem zweiten Zuhause soll es schließlich schön und gemütlich sein.