Fragen zum Offenen Unterricht an Falko Peschel
gesammelt aus dem Forum I auf dem 5. Ganztagsschulkongress
Wie geht man mit der sich immer weiter öffnenden Leistungsschere um? Wie kann man bei größtmöglicher Offenheit die notwendigen Kenntnisse bei den Kindern absichern? Wie viel Zeit kann man dem Kind auf einem bestimmten Lernstand lassen? Wie kontrolliert man den Lernstand des einzelnen Kindes?
Die Fragen zeigen sehr anschaulich einen Blickwinkel auf Schule und Unterricht, bei dem davon ausgegangen wird, dass „Lehren“ automatisch „Lernen“ zur Folge hat. Dies ist nicht der Fall. Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen Lehren und Lernen. Kein Lehrer kann ein Kind „Lernen-machen“, er kann nichts „absichern“, er kann nicht so einfach einen anderen Lernstand erzeugen. Und selbst bei der „Kontrolle“ muss er sehr stark umdenken, wenn sie sinnvoll sein soll und statt einfach Auswendiggelerntem eher kompetenzbezogen Leistung misst.
Fragen zum offenen Unterricht
Beitrag „“ in vollständiger Fassung.
Verschiedenartigkeit der Kinder ist eine Tatsache
Die große Verschiedenartigkeit der Kinder ist zunächst einmal eine Tatsache. Von daher muss man in jedem Unterricht die Leistungsschere zulassen. Wenn man (wie es auch eigentlich ist) Lernen als dauerhafte Verhaltensänderung und nicht als kurzfristiges Auswendiglernen definiert, muss man die Unterschiedlichkeit der Kinder zur Basis des Unterrichts machen. D.h. man transportiert nicht in einer Schulstunde einen bestimmten Stoff auf einem bestimmten Niveau vom Lehrer zum Schüler, sondern lässt jedes Kind selbstgesteuert und selbstbestimmt dort weiterlernen, wo es sich entsprechend seinem Entwicklungsstand, seinen Lernbedürfnissen und Lernvoraussetzungen gemäß befindet.
Interessanterweise laufen nach meinen Erfahrungen bzw. der wissenschaftlichen Evaluation des Konzeptes die Kenntnisse und Kompetenzen der Kinder im Offenen Unterricht der Grundschule den Lehrplanvorgaben voraus bis stark voraus – und zwar in allen (!) Leistungsgruppen. Das ist letztendlich auch logisch, denn jedes Kind kann (interessen- und selbstbestimmungsmotiviert) dort weiterlernen, wo es gerade steht. Der Lehrgang würde hingegen die zu einem großen Teil erheblichen Vorkenntnisse der Kinder ignorieren und bei Null anfangen – was noch nicht einmal den „schwächeren“ Kindern wirklich nützt, denn die sind meist noch gar nicht auf dem entsprechenden Entwicklungsstand. Und dann nützt auch der Lehrgang bzw. das Unterrichten nichts …
In meiner Evaluation haben die Kinder in Normtest- und Vergleichsarbeiten hochsignifikant überdurchschnittlich abgeschnitten, obwohl es keine einzige „Unterrichtsstunde, keine Einführungs- oder Übungsphase gab – und zwar gerade in Bereichen, in denen sonst stark geübt wird (Rechtschreiben, Mathematik) waren die Ergebnisse auch bei den schwachen Schülern weit überdurchschnittlich.
Diese Leistungen haben sich entwickeln können, weil jedes Kind solange auf seinem Entwicklungsstand verweilen konnte, wie es das benötigt hat und nicht zu früh das Können von etwas vortäuschen musste, was es von seinen Voraussetzungen her noch gar nicht leisten kann. Bewegt sich das Kind aber in einem Umfeld, in dem 25 Kinder drum herum gerne – und in der Regel auf hohem Niveau – an ihren Sachen arbeiten, so ist eine ständige Herausforderung vorhanden, die höchst anspornend und motivierend wirkt.
Eine Anzahl von Fehlern, sagt nichts über das tatsächliche Leistungsvermögen aus …
Im Gegensatz zum traditionellen Unterricht kann man in einem (komplett) auf Lehrgänge und Arbeitsmaterialien verzichtenden Unterricht Leistungsstand und -entwicklung der Kinder kontinuierlich verfolgen, da die Eigenproduktionen nicht auf auswendig gelernten Wörtern oder Techniken beruhen, sondern zum entsprechenden Zeitpunkt genau das Können des Einzelnen wiedergeben. Zusätzlich kann man diese Entwicklung durch Norm- und Überforderungstests (vgl. Peschel 2002, 2003) erfassen, bei denen die Aufgaben so gestellt sein müssen, dass wirklich die ganze Bandbreite der Leistungen jedes einzelnen Kindes der Klasse beurteilt werden kann. Da es bei der Leistungsmessung in der Schule nicht darum gehen kann, was jemand wie gut von einem in den letzten vier Wochen durchgenommenen Thema behalten hat, sondern darum, was er (umfassend) in einem bestimmten Gebiet leistet bzw. leisten kann, können nicht vordergründige Kriterien der Leistungsmessung zur Bewertung herangezogen werden: die Anzahl der falschen Wörter in einem Text oder die Anzahl der Fehler in einer bestimmten Menge an Mathematikaufgaben sagt so erst einmal nichts über die eigentliche Leistung aus.
Messkriterien sollten immer diagnostischer Art sein
Die Messkriterien sollten immer diagnostischer Art sein, d. h. es geht um eine umfassende Einordnung der individuellen Entwicklung eines Kindes in einem Fach, die man nur dann in den Bezug zur Norm setzt, wenn dies sinnvoll erscheint. Eine derartige umfassende Leistungsmessung unterscheidet sich in ihrer Aussagekraft um Welten von geübten Diktaten oder der üblichen Abfrage auswendig gelernter Rechentechniken. Solche Aufgabenstellungen haben zwar Tradition, sind aber absolut willkürliche Instrumente der Leistungsmessung – was vor allem an den z. T. gravierenden Notenschwankungen abzulesen ist, die manche Lehrer den Kindern bescheinigen: Kein Kind kann in der Regel innerhalb von sechs Wochen seine Fachkompetenz so verlernen, dass es z. B. von „guten“ Leistungen auf „ausreichende“ oder „mangelhafte“ Leistungen rutscht. Hier hat die Leistungsmessung versagt, nicht das Kind.
Offener Unterricht ist eben keine Methode, sondern eine bestimmte Einstellung zu Kind und Welt
In diesem Unterricht bekommen Anwesende – vor allem, wenn sie länger zugegen sind – die Entwicklung der Kinder hautnah mit, denn diese sitzen nicht still in Bankreihen und reagieren auf den Lehrer, sondern legen ihr Lernen „offen“. Sie produzieren Geschichten und Kniffelaufgaben und forschen auf ihrem Niveau. Alle Anwesenden werden zwangsläufig in den Lernprozess mit einbezogen – und erleben die tragende Lernatmosphäre: Sie bekommen Sachen gezeigt, sollen sich Texte durchlesen, werden nach Informationen über bestimmte Themen gefragt und sollen sich die schwierigsten Matheaufgaben der Welt ausdenken, deren Lösungen ihnen dann wenig später stolz präsentiert werden. Wer einmal in diesen Sog gerät, sich mit der Abgabe seiner alles bestimmenden und überschattenden Macht abfinden kann, der lernt das Lernen von Kindern neu kennen – und wird zwangsläufig mitgerissen. Aber – man muss sich darauf einlassen. Und zwar ganz, denn Offener Unterricht ist eben keine Methode, sondern eine bestimmte Einstellung zu Kind und Welt.
Datum: 19.09.2008