Im Gespräch mit Dr. Ludwig Stecher

Herr Stecher, was sind die wichtigsten Ergebnisse aus der ersten Erhebungsphase der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ – kurz: StEG – in Deutschland? Gab es Ergebnisse, die Sie besonders überrascht haben?

Der zentralste Befund in StEG ist sicher, dass die Ganztagsschulen in Deutschland auf einem guten Weg sind. Dies betrifft beispielsweise die Teilnahmequoten. In den offenen Ganztagsgrundschulen – bei denen die Teilnahme für die Schülerinnen und Schüler freiwillig ist – nehmen immerhin 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler im Bundesdurchschnitt diese Angebote wahr.  Zu den zentralen Befunden gehört u. a. auch, dass befürchtete negative Auswirkungen, die sich aus dem Besuch der Ganztagsangebote für die Kinder bzw. deren Familien ergeben könnten – wie z. B. dass das Familienleben und die Freizeitaktivitäten der Kinder beeinträchtigt würden – nicht belegt werden konnten. Überrascht hat uns in unserer Studie im Besonderen die große Vielfalt an unterschiedlichen Ganztagsmodellen und -konzeptionen, auf die wir gestoßen sind. Auch wenn Kritiker dies als mangelnde Orientierung an allgemeinen Qualitäts-Standards in Bezug auf Konzeption und Organisation von Ganztagsschulen interpretieren mögen, neige ich eher dazu, dies als ein besonderes Potenzial der aktuellen Ganztagsschullandschaft zu betrachten. Bekanntlich gibt es mehrere Wege nach Rom.

An der bundesweiten Studie haben ja viele Akteure teilgenommen: Wer wurde befragt und mit welchen Methoden?

Die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) ist als eine Befragungsstudie konzipiert. Sie zeichnet sich dabei im Wesentlichen durch drei Merkmale aus: Mehrperspektivität, eine umfangreiche Stichprobe und ein längsschnittliches Erhebungsdesign. StEG ist daran interessiert, die schulische Realität aus möglichst vielen unterschiedlichen Perspektiven zu erheben. Deshalb wurden neben den Schulleitern auch die Lehrkräfte und das weitere pädagogisch tätige Personal sowie die außerschulischen Kooperationspartner befragt. Darüber hinaus wurden ebenso die Schülerinnen und Schüler (der 3., 5., 7. und 9. Jahrgangsstufe) und deren Eltern einbezogen (Mehrperspektivität). An der Studie nahmen insgesamt 373 Ganztagsschulen aus fast allen Bundesländern teil. Befragt wurden insgesamt knapp 65.000 Personen, darunter 32.000 Schülerinnen und Schüler. StEG ist nicht nur an einer Momentaufnahme des aktuellen Standes an den Schulen interessiert, sondern will einen Blick auf die Entwicklung der Ganztagsschulen werfen. Dies ist gerade gegenwärtig ein wichtiger Forschungsauftrag, da sich in den letzten drei bis vier Jahren viele Schulen – nicht zuletzt durch die Förderung des IZBB – auf den Weg gemacht haben, Ganztagsschule zu werden und sich viele deshalb noch im Anfangsstadium befinden. Gerade in der Implementationsphase stellen sich für die Schulen spezifische Probleme. Die erste Erhebungswelle wurde im Frühsommer 2005 durchgeführt, die zweite Erhebungswelle vom Frühjahr 2007 ist abgeschlossen, im Frühjahr 2009 wird die dritte und letzte Erhebungswelle stattfinden.

Was bedeuten Ganztagsschulen der StEG-Studie zufolge für Familien?

Hinsichtlich der Bedeutung der Ganztagsschule für die Familie waren im Vorfeld Befürchtungen artikuliert worden, die darauf hinauslaufen, dass die Ganztagsschule der Familie gemeinsame Zeit entziehen könnte. Wie die Kollegen des Deutschen Jugendinstitutes, die sich im Rahmen von StEG mit dieser Frage ausführlich beschäftigt haben, zeigen können, ist eine solche Befürchtung aber in keinem Falle gerechtfertigt. Die gemeinsam mit Freizeitaktivitäten, gemeinsamen Gesprächen und gemeinsamen Mahlzeiten verbrachte Zeit fällt in Familien, in denen die Kinder Ganztagsangebote besuchen, kaum geringer aus als dies in Familien der Fall ist, in denen die Kinder nicht an den Ganztagsangeboten teilnehmen. Gleichzeitig ist aus der Sicht der Eltern auf einige positive Aspekte der Ganztagsschule bzw. der Teilnahme der Kinder an den Ganztagsangeboten hinzuweisen. So z. B. in Bezug auf die Bewältigung der Hausaufgaben oder in Bezug auf die Unterstützung bei familiären Erziehungsproblemen.

Wie wirken sich Ganztagsschulen auf die Freizeitaktivitäten von Kindern und Jugendlichen aus?

Auch in Bezug auf die Freizeitaktivitäten wurde befürchtet, dass sich diese durch den Besuch der Ganztagsangebote sowohl zeitlich als auch in Bezug auf die einzelnen Aktivitäten verändern würden. Es zeigt sich jedoch, dass das Freizeitaktivitätsspektrum sich durch den Besuch der Ganztagsangebote nicht wesentlich verändert hat.

In Deutschland existieren entlang der KMK-Definition drei verschiedene Modelle der Ganztagsschule (offen, teilgebunden oder gebunden): In welche Richtung geht der Trend, was sagen die ersten Ergebnisse dazu? Wo liegen die Vor- und Nachteile der verschiedenen Modelle?

Rein zahlenmäßig überwiegt derzeitig in Deutschland das offene Ganztagsschulmodell, bei dem die Schülerinnen und Schüler freiwillig entscheiden, ob sie an den Ganztagsangeboten teilnehmen oder nicht. Wobei hierbei darauf aufmerksam zu machen ist, dass es zahlreiche länderspezifische Unterschiede und auch schulformspezifische Unterschiede gibt. Während beispielsweise die Ganztagsgrundschulen in den meisten Bundesländern im offenen Modell geführt werden, ist die Mehrheit der integrierten Gesamtschulen als gebundene Ganztagsschule organisiert. Gebunden heißt, dass alle Schülerinnen und Schüler neben dem Unterricht auch verpflichtend an den Ganztagsangeboten teilnehmen müssen. In dem Maße, wie die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen eine längsschnittliche Perspektive ermöglicht, wird sich mit den Daten der zweiten und dritten Erhebungswelle zeigen lassen, welche Verschiebungen sich zwischen offenen und gebundenen Ganztagsmodellen im Laufe der Zeit zeigen werden – und inwieweit das offene Modell für manche Schule nur der Startpunkt für eine Entwicklung ist, an dessen Ende die vollgebundene Ganztagsschule steht.

Vor- und Nachteile weisen sowohl die offene als auch die gebundene Ganztagsschule auf. Als Vorteil der gebundenen Ganztagsschule gegenüber der offenen ist darauf hinzuweisen, dass die Schülerinnen und Schüler den ganzen Tag verpflichtend an der Schule sind, also auch beispielsweise am Nachmittag unterrichtliche Elemente und am Vormittag außerunterrichtliche Elemente angeboten werden können. Dies vergrößert den Rahmen für neue Zeitstrukturen und Rhythmisierungen von Unterricht und Angeboten. Zu den Vorteilen der offenen Ganztagsschule gehört auf der anderen Seite, dass sie eine flexible Antwort auf die Bedürfnisse der Familien ist. Manche Familien sind sehr erfolgreich in der schulischen Förderung ihrer Kinder und wollen sich dies auch nicht nehmen lassen. Aus meiner Sicht ist ein ausgewogener Mix aus offenen und gebundenen Ganztagsschulen im jeweiligen regionalen Umfeld zu fordern, um die Vorteile beider Ganztagsschulformen zu nutzen und mögliche Nachteile auszugleichen.

Ihre Einschätzung ist gefragt: Wie weit sind wir mit der Entwicklung von Ganztagsschulen in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern?

Ein Vergleich der Entwicklung der deutschen Ganztagsschulen mit dem europäischen Ausland ist aus meiner Sicht wenig zielführend. Jenseits der bloßen Erwähnung von Zahlen müssten hierbei die spezifischen Bedingungen der jeweiligen Bildungssysteme sowie deren Einbindung in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und Traditionen berücksichtigt werden. Nicht jedes Land in Europa, das flächendeckend Ganztagsschulen führt, muss aus meiner Sicht notwendigerweise als Vorbild für das deutsche Bildungssystem gelten. Für Deutschland können wir auf jeden Fall festhalten, dass die Entwicklung der Ganztagsschulen in den letzten 5–10 Jahren eine rasante Entwicklung genommen hat.

Was ist für die weitere Entwicklung von qualitätsvollen Ganztagsschulen wichtig und notwendig?

Was aus meiner Sicht für die weitere Entwicklung von qualitätsvollen Ganztagsschulen im Besonderen wichtig und notwendig ist, ist Kontinuität. Dies heißt, dass es in den nächsten Jahren – auch jenseits der öffentlichen Aufmerksamkeit – gilt, die finanzielle, personelle und politische Unterstützung der Ganztagsschulen fortzusetzen. Wie ich bereits betonte, sind die Ganztagsschulen in Deutschland aus meiner Sicht alles in allem auf einem guten Weg – wenngleich es noch viele Aspekte gibt, die aus meiner Sicht einer Verbesserung bedürfen. Wir dürfen nicht auf halber Strecke stehen bleiben.

Und eine Frage zum Schluss: Wie sieht Ihre Vision einer gelungenen Ganztagsschule aus?

Ließe sich so einfach sagen, was unter einer gelungenen Ganztagsschule zu verstehen ist, wären wir am Ende unserer wissenschaftlichen Forschungsbemühungen angekommen. Die Frage ist aber nicht so leicht zu beantworten, da sie unterschiedliche Dimensionen von Schule bzw. Ganztagsschule einbezieht. Nehmen wir beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften und dem weiteren pädagogisch tätigen Personal. Hier wäre von einer gelungenen Ganztagsschule sicher dann zu sprechen, wenn die Kooperation zwischen beiden Professionen bzw. beiden Personalgruppen optimal gelingt, in dem Sinne, dass Unterricht und Angebote sinnvoll aufeinander bezogen werden, aufeinander aufbauen und sich gegenseitig ergänzen. Für diese Zusammenarbeit ist ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen beiden Personalgruppen eine wichtige Voraussetzung. Auf der Seite der Angebote und der Qualität wäre u. a. zu nennen, dass die Schülerinnen und Schüler sich an ihrer Ganztagsschule und in den Angeboten wohl fühlen, dass sie sich ernst genommen fühlen und dass sie dort etwas lernen – nicht nur in Bezug auf ihre Schulleistungen, sondern auch im Bereich des sozialen Lernens und des interkulturellen Lernens. Die Antwort auf die Frage nach einer gelungenen Ganztagsschule müsste noch viele weitere Aspekte und Dimensionen betrachten – die räumliche Ausstattung, Fragen der Zeitrhythmisierung, Zusammenarbeit mit den außerschulischen Kooperationspartnern, um nur einige zu nennen. In unserem Buch zur StEG-Studie – Ganztagsschule in Deutschland. Ergebnisse der Ausgangserhebung von StEG (hrsg. Von Heinz Günter Holtappels, Eckhard Klieme, Thomas Rauschenbach und Ludwig Stecher; erschienen im Juventa-Verlag, Weinheim) – werden zahlreiche dieser Dimensionen ausführlich beschrieben, weshalb ich an dieser Stelle gerne darauf verweisen möchte.
Nicht zuletzt bedeutet die Frage nach einer gelungenen Ganztagsschule immer auch die Frage, was ist eine gelungene Schule? Die Forschungsliteratur ist voll von mehr oder weniger gelungenen Versuchen, diese Frage zu beantworten. Eine kurze Antwort gibt es nicht.

 

Ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch.

 

Das Interview führte Judith Strohm

Datum: 27.08.2007
© www.ganztaegig-lernen.de

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