Die Stärken der Kinder finden

Kinder rennen in ein Gebäude der Anne-Frank-Schule

Die Anne-Frank-Schule Bargteheide ist „eine Schule für alle Kinder“. Als Gemeinschaftsschule nimmt sie nicht nur Schüler mit unterschiedlichen Grundschulempfehlungen auf, sondern auch Förderkinder und Hochbegabte. Jeder Schüler soll seine Stärken erkennen und eine positive Selbsteinschätzung entwickeln – mit Erfolg: 65 Prozent schaffen einen höheren Abschluss als von der Grundschule prognostiziert. Das Konzept wurde mit dem Deutschen Schulpreis 2013 belohnt.

Wie kriegt man eine Klasse von 27 Schülern mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten dazu, im Unterricht miteinander Englisch zusprechen? Indem sie Spaß dabei haben. Vor der 7b stehen Fenna und Niklas und präsentieren einen selbst geschriebenen Dialog. Fenna spielt die Tochter, die – natürlich auf Englisch – ihren Vater um ein Haustier anbettelt. Eine halbe Stunde hatten die Schüler Zeit, die Szenen in Partnerarbeit vorzubereiten. Jetzt wird gespielt – und unterhalten. Denn Fenna will nicht irgendein Haustier, sie will eine Giraffe. Niklas als Daddy willigt schließlich ein: „Ok, let’s go to the zoo and steal one“. Die Klasse lacht und applaudiert. Dann ist das nächste Schülerpaar an der Reihe.

Die kleinen Szenen, die bis zum Ende der Stunde präsentiert werden, sind ganz unterschiedlich, nicht nur was das Niveau in der Fremdsprache angeht, sondern auch in der fantasievollen Ausgestaltung der Aufgabe. „Hier kann man kreativ sein“, freut sich Fenna. Anschließend bekommt jede Gruppe ein Feedback von ihren Mitschülern. Auffällig ist dabei der respektvolle Umgang miteinander. Statt Kritik an Schwachpunkten gibt es vor allem ermunterndes Lob. Und ziemlich schnell wird klar, dass es an dieser Schule um viel mehr geht, als um die reine Vermittlung von Wissen.

Die Kinder helfen sich gegenseitig

Die Anne-Frank-Schule ist eine Gemeinschaftsschule mit gymnasialer Oberstufe. Schüler mit Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialempfehlung werden bis zum Ende der Sekundarstufe I zusammen in einer Klasse unterrichtet. Ganz bewusst wird darauf verzichtet, in nach Leistung gestaffelten Kursen zu unterrichten. „Wir gehen ganz offen damit um, dass es verschiedene Niveaus in der Klasse gibt“, sagt die Englisch- und Klassenlehrerin der 7b, Kirsten Eisenberg. „Die Schüler akzeptieren das und haben keine Scheu, Hilfe in Anspruch zu nehmen.“ Für den binnendifferenzierten Unterricht können die Schüler zwischen Aufgaben auf verschiedenen Schwierigkeitsstufen wählen und sich gegenseitig helfen. „Ich glaube, jeder in der Klasse hat schon mal einem Mitschüler etwas erklärt“, meint Carolin. Oder es gibt wie bei den szenischen Dialogen an diesem Vormittag eine Basisaufgabe für alle, der nach oben hin keine Grenzen gesetzt sind.  

Die Schwachen fördern, die Starken fordern, lautet ein Motto der Anne-Frank-Schule. Um besser auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes eingehen zu können, setzt man auf selbstständiges Arbeiten, so oft das im Unterricht möglich ist. Die Schüler erleben, was sie selbst erreichen können. Zugleich wird ihr Verantwortungsgefühl gestärkt. An diesem Vormittag ermahnt Frau Eisenberg einen Schüler, der bei der Partnerarbeit rumalbert, dass das Gelingen der Präsentation zur Hälfte von ihm abhänge: „Wenn es nicht gut wird, hast du deine Partnerin hängen lassen“. Das sitzt. Der Schüler macht sich an die Arbeit.
In der Klasse kommt das selbstständige Arbeiten mit einem Partner gut an. „Manchmal ist es besser, wenn mir statt des Lehrers ein Mitschüler etwas erklärt. Dann habe ich mehr Zeit, es zu verstehen“, sagt die dreizehnjährige Fenna. Ihre Mitschülerin Fenja ergänzt: „Wenn der Lehrer rumgeht und nicht vor der ganzen Klassen steht, traut man sich eher zu sagen, was man nicht verstanden hat.“

Projektorientiertes Arbeiten

Vielfalt, das beschränkt sich an der Anne-Frank-Schule nicht nur auf die Schüler im sonst dreigliedrigen Schulsystem. Seit 2008 werden auch Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufgenommen. In den Integrationsklassen ist die Zahl der Schüler auf 20 begrenzt, die Lehrer werden durch Förderschulpädagogen unterstützt. Auf der anderen Seite werden auch Schüler mit der Diagnose Hochbegabung unterrichtet. Damit diese ihren Interessen und Fähigkeiten nachgehen können, gibt es ausreichend Zeit für Projektarbeit, eigene kleine Forschungsarbeiten und Referate. In den so genannten Enrichment-Kursen wird in kleinen Gruppen ein Thema vertieft. Vom häufigen projektorientierten Arbeiten profitieren aber nicht nur die Hochbegabten. „Ich bekomme immer wieder die Rückmeldung ehemaliger Schüler, dass es ihnen viel leichter als anderen fällt, sich vor eine Gruppe zu stellen und etwas zu präsentieren“, erzählt die Schulleiterin Angelika Knies.

Überhaupt kann die Anne-Frank-Schule beeindruckende Leistungen vorweisen: Seit zehn Jahren ist kein Schüler mehr ohne Abschluss von der Schule gegangen. 65 Prozent der Schüler erreichen einen Abschluss, der über ihrer Grundschulempfehlung liegt. Jeder zehnte Abiturient an dieser Schule war mit einer Hauptschulempfehlung angetreten. Kein Wunder, dass die Schule im Kreis Stormarn sehr beliebt ist. Jedes Schuljahr bewerben sich auf die 104 Plätze in der 5. Klasse mehr als doppelt so viele Schüler.

Ein Stärkenseminar für jeden

Jedes Jahr, wenn ein neuer Jahrgang in die fünfte Klasse startet, beobachte Schulleiterin Knies das Gleiche. Die Schüler mit einer Hauptschulempfehlung kämen „ganz geknickt“ auf der Schule an. „Wir brauchen zwei Jahre, bis wir sie wieder aufgebaut haben.“ Die guten Leistungen ihrer Schüler führt sie auf den stärkenorientierten Ansatz der Schule zurück. „Wichtig ist, dass sich die Kinder ihrer Stärken bewusst werden. Dann können sie auch ihre Schwächen akzeptieren und an ihnen arbeiten“, so Knies. In der 7. Klasse durchläuft jeder Schüler das Stärkenseminar. Wie in einem Assessment zeigen die Schüler einen Tag lang vor externen Beobachtern, was sie können. In einem Zertifikat werden dem Schüler anschließend seine Stärken verdeutlicht. Knies lacht: „Die sind danach 10 cm größer.“

Die Anne-Frank-Schule wurde 1989 gegründet, damals noch gegen erhebliche Widerstände. In Teilen der Politik und auch bei den Eltern war das Misstrauen gegen eine Schule groß, die auf das Sortieren ihrer Schüler nach Leistungsfähigkeit verzichten wollte. Die ersten Klassen wurden zunächst in einem Einfamilienhaus unterrichtet. Jahrelang mussten Klassen ausgelagert werden. Erst nach 10 Jahren entstand durch einen Neubau endlich genug Platz für einen geordneten Ganztagsbetrieb.

Die Arbeit im gebundenen Ganztag ist für Schulleiterin Knies eine Voraussetzung für ihre Vision von Schule: „Nur so können Schüler und Lehrer Schule als Lebenswelt begreifen.“ Denn die Anne-Frank-Schule Bargteheide begreift sich als „Polis im Kleinen“, als ein Übungsfeld für soziale Kompetenzen und das Übernehmen von Verantwortung. Durch den Ganztag entstehen Freiräume, in denen außerschulische Akteure wie die städtische Sozialarbeit mit eingebunden werden können. Mindestens genauso wichtig sind für Schulleiterin Knies die zahlreichen AGs, in denen sich Schüler und Lehrer  in einem anderen, freieren Zusammenhang kennenlernen.  

„Die wichtigsten Vorgaben für jede Schule sind die ihr anvertrauten Kinder, so wie sie sind und nicht so, wie wir sie uns wünschen mögen“, heißt es im Schulprogramm. Doch wie lässt sich diese Haltung durchsetzen, wenn das allgemeine Schulsystem auf Rotstift und Aussortieren ausgerichtet ist? Das beginne im Kopf des Lehrers, meint Angelika Knies. „Ich muss Verantwortung übernehmen. Kommt das, was ich da mache, auch beim Kind an?“
An der Anne-Frank-Schule wird jede fünfte Klasse von zwei Lehrkräften übernommen. Die Klassenlehrer behalten ihre Klasse durchgehend bis zur neunten bzw. zehnten Klasse. Es gibt weder Sitzenbleiben noch Schrägversetzung zu einer anderen Schule. „Die bleiben zusammen und müssen sich aufeinander einstellen“, erklärt Knies. Diese Beziehung sei die Grundlage für Bildung.

Gegenseitige Wertschätzung

2013 wurde die Anne-Frank-Schule Bargteheide mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Beeindruckt waren die Mitglieder der Jury vor allem vom Umgang der Lehrer mit ihren Schülern. „Das spürbar gute Schulklima beruht auf gegenseitiger Wertschätzung“, heißt es in der Laudatio. Die vertrauensvolle und bestärkende Haltung gegenüber den Kindern und Jugendlichen ist überall zu spüren und fest im Schulleben verankert durch Strukturen wie etwa den Klassenrat. Jede Woche ist eine Stunde dafür reserviert, gemeinschaftliche Aktivitäten zu planen oder über Probleme in der Klasse zu sprechen. Die Gesprächsführung übernehmen zwei oder drei Schüler. Die Lehrer müssen sich wie alle anderen melden, wenn sie etwas sagen möchten. Auch in der 6b findet an diesem Tag ein Klassenrat statt. Ein Mädchen findet den Mut und berichtet von einer anonymen Beleidigung, die sie über das Chatforum der Klasse erhalten hat. Ihre Mitschüler sind empört, wer könnte das gewesen sein? Sie bitten ihre beiden Lehrerinnen, vorübergehend den Raum zu verlassen. Doch der Verfasser des Chats meldet sich nicht freiwillig. Gemeinsam finden die Schüler schließlich eine Lösung, wie sich der Schuldige direkt bei dem Mädchen entschuldigen kann, ohne sich vor der ganzen Klasse bekennen zu müssen. Am Ende der Stunde haben alle viel gelernt über den Umgang mit neuen Medien, über Respekt und das Diskutieren in einer größeren Runde.

Die Anne-Frank-Schule sieht sich noch lange nicht am Ziel. Zur Weiterentwicklung treffen sich offene Arbeitskreise zu verschiedenen Themen, bei denen auch Eltern und Schüler mitmachen. Das nächste große Projekt ist die Umstellung im fünften und sechsten Jahrgang vom Berichtszeugnis auf ein Portfolio, mit dem jeder Schüler den eigenen Lernprozess dokumentiert. Englisch-Lehrerin Eisenberg erzählt, dass das Kollegium sehr motiviert ist: „Jeder hat das Gefühl, mitgestalten zu können. Denn die Schulleitung ist immer offen für neue Ansätze.“ Schulleiterin Knies bestätigt: „Wir buttern hier viel rein.“ Die guten Leistungen der Schüler und die vielen positiven Rückmeldungen zeigen, dass es sich lohnt.

 

Autorin: Wibke Bergmann

28.02.2014