Eltern reklamieren mehr Erziehungsverantwortung seitens der Schule. Schüler/innen empfinden Schule als lebensfremd und wenig motivierend. Die Wirtschaft bemängelt fehlende Qualifikationen und Kompetenzen bei den zukünftig Auszubildenden. Auch wenn bisher die Frage nach der Vermittlung sozialer Kompetenzen eine eher untergeordnete, in der breiten Öffentlichkeit kaum thematisierte Rolle spielte, so besteht dennoch bei allen Beteiligten der Konsens, dass Team- und Kommunikationsfähigkeit sowie vernetztes Denken grundlegende Voraussetzungen für eine befriedigende Lebensgestaltung und -bewältigung in unserer Gesellschaft sind.
Systematische Organisation sozialen Lernens
Der nicht so neuen Erkenntnis, dass soziales Lernen überall stattfindet, wird jedoch im schulischen und gesellschaftlichen Alltag nur zögerlich Rechnung getragen. Eine systematische Organisation sozialen Lernens in Schule und Jugendhilfe ist momentan wohl eher die Ausnahme. Die Vermittlung positiver (Selbst-)Erfahrungen und das Geben von Orientierungshilfen müsste aber neben der Wissensvermittlung gleichberechtigte Aufgabe einer modernen Schule sein. Insgesamt ist Schule allerdings mehr denn je auf die Ergänzung durch unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte angewiesen, will sie dieser Herausforderung gerecht werden. Die Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern kann vor diesem Hintergrund von der Schule nicht allein getragen und übernommen werden. Schule muss teilen, wo Alleinzuständigkeit zur strukturellen Überforderung führt, und einsteigen, wo sie bisher noch abwehrend oder abwartend reagiert.
Jugendkultur und Schule
Jugend allgemein ist bestimmt durch phasenbedingte Entwicklungs- und Bewältigungsanforderungen. Zentrale Bedürfnisse von Jugend sind (vgl. Böhnisch 2001):
- ein Selbstkonzept durch Selbstständigkeit, über Grenz-, Abenteuer-, Selbstwerterlebnisse zu entwickeln;
- sich unter Gleichen „auch für die Restwelt“ sozial bemerkbar zu machen, z.B. durch Jugendkultur, Abgrenzung, Raumaneignung;
- sich von Mutter und Vater zu lösen, die Generationsspannung gegenüber Erwachsenen auszutragen,
aber auch anreichernde Erfahrungen mit Erwachsenen zuzulassen;
- eine durch die Entwicklungsphase Pubertät und die Jugendkultur bestimmte Gegenwartsorientierung.
Dieser entwicklungsdynamisch konfliktreiche Modus Jugend ist von Schule nur bedingt integrierbar.
Entwicklungsnotwendigkeiten und -grenzen von Schule
Für Schule gibt es nur begrenzte Freiräume für das Aushandeln von Verfahren. Das mühsame Einverleiben „fremder Brocken“, ja die gesamte „Unjugendlichkeit“ von Schule sind nur teilweise abzumildern. Und auch das Abwehren von „Störungspotenzial“ ist schulisch logisch. Die zähe, mit Widerstand quittierte Anpassungs-, Einordnungs-, Lehr- und Selektionsarbeit von Schule ist gesellschaftlich aufgegeben und muss – wenn auch umstritten, wie – jenseits von Freiwilligkeit und Bedürfnisbefriedigung erbracht werden. Aber wo liegen die Grenzen von Schulen? Immerhin hat Schule sich in ihrem Selbstverständnis und im institutionellen Kern in den letzten 100 Jahren entwickelt. Zwei sich gegenüber stehende Positionen können pointiert werden.
Position 1 – Schule kann kein jugendpädagogischer Raum sein
Weitgreifende Sollensvorstellungen über Schule – so Vertreter/innen dieser Auffassungen – vereinigen alles Gute, Schöne, Wünschenswerte und missachten, Schule als Entwicklungsziel nur das zuzuschreiben, was sie leisten kann. Schule habe die Funktion (in zivilisationstheoretischer Perspektive), der nachfolgenden Generation die angesammelten Wissensbestände zu vermitteln, familiale Enge zu erweitern, Zugänge zur Welt zu eröffnen. Dazu gehöre auch die „Zurichtung der Person“. Lehrer/innen und Schüler/innen stehen sich in einem Verhältnis von Distanz gegenüber, dadurch, dass sie sich als Positions- und Rollenträger begegnen. Schule ist für Schüler/innen geradezu notwendig kränkend, weil sie junge Menschen als unfertige Mängelwesen anspricht. Nicht nur als empirische Beschreibung, sondern auch normativ sei, so der Erziehungswissenschaftler Ziehe, ein Differenzverhältnis statt Gleichheitsillusionen die angemessene Bezugsdefinition. Eine größere Nähe von Lernsituationen und Lernthemen zur Lebenswelt Jugendlicher sei z.B. kein Ausweg, keine Auflösung des Dilemmas. Die Eigenlogik von Schule und ihre Unterscheidung von anderen Funktionssystemen sei zu akzeptieren. Die Ansprüche von Schule sollten zwar nach Möglichkeit nicht in Stresserzeugung und Ausschluss münden. Aber Schule könne sich auch nicht mit unmittelbaren Horizontanschlüssen abfinden. Schule müsse Schüler/innen gerade öffnen für Phänomene, die sich in der unmittelbaren Anschauung nicht aufschließen, müsse Verzichtsleistungen abfordern, diese erleichtern, aber auch Befriedigungserfahrungen bereitstellen.
Position 2 – Schule als jugendpädagogischer Ort
Dagegen steht die Forderung, Schule solle einen angenehmen, sinnstiftenden Lebens- und Erfahrungsraum darstellen. Vor allem Unterricht rangieren die sozialen, emotionalen, kommunikativen, körperlichen Belange der Schüler/innen. Reformpädagogisch gilt immer noch das Ziel der besseren Passung von Jugend und Schule. Gefragt sind von hier dosierte Einsprengsel von lebensweltlichen, sozialemotionalen, jugendkulturellen Zugängen:
- Schule als Lebens- und Erfahrungsraum
Diese Setzung gibt auf, über veränderte Raumkonzepte, Mitwirkung, Anerkennung, Geborgenheit, selbsttätiges Handeln, Konfliktkultur, Schulöffentlichkeit, Lernen im Stadtteil, praktisches und soziales Lernen, Verantwortungsübernahme nachzudenken.
- Schule als Beziehungsraum
Diese Anforderung beinhaltet das Ansprechen der Schüler/innen als Personen und gibt auf, Beziehungserfahrungen der jungen Menschen untereinander zu ermöglichen, die Lerngelegenheiten von hier zu nehmen, kurz: die sozialkommunikative Seite von Schule aktiv zu gestalten. Formen sind Teamarbeit, jahrgangsübergreifende Gruppen, gemeinsame Regelerstellung, Partizipation, Klassenverträge, Einzelkontrakte (Zielvereinbarungen, Förderpläne, Trainings) mit schwierigen Schüler/innen.
von Elke Klein und Karlheinz Thimm
Datum: 22.06.2008
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