Jahrzehntelang ist Gräfenhainichen ein Ort entfesselter Industriekräfte und Umweltsünden aber auch sicherer Arbeitsplätze im Bergbau gewesen. Doch dann hatte Braunkohle kaum noch Zukunft. Die Schule „Ferropolis“ setzt auf einen Neuanfang und versteht sich als Chance zu einem erfolgreichen Berufseinstieg. Ein tatkräftiges und multiprofessionelles Team macht diese Schule zum Lern- und Lebensort.
„Berufe in die Schule holen!“, darum geht es Brigitte Reiche, Lehrerin für Geschichte und Deutsch, wenn sie das zurückliegende Einstiegsprojekt zur Berufsfrühorientierung vorstellt. Innerhalb von zwei Wochen und bereits in der Klasse 6 bieten sich den Schülerinnen und Schülern Chancen, um sich rechtzeitig zu orientieren. Schuhmacher, Verkäufer, Bademeister, Stadtführer, Autoverkäufer und Kindergärtnerinnen lassen sich von den 12-jährigen in die beruflichen Karten schauen. Sozialpädagogin Kathleen Dyballa hat die Gelben Seiten gewälzt und zahlreiche Briefe an Unternehmer und Berufstätige der Stadt und des Umlandes geschrieben. Damit hat sie den „Stein ins Rollen“ gebracht. Eltern und Kinder sind glücklich: „Für das Lernen an Berufen ist es nie zu früh!“ Die frühen Erfahrungen nützen den Kindern bei der Zukunftsorientierung und motivieren für das Lernen. Die Wirkungen aus dem Auftakt waren direkt zu beobachten.
„Der Funke ist übergesprungen“, bilanziert die Sozialpädagogin, sowohl bei den außerschulischen Partnern wie auch bei den Lehrerinnen und Lehrern an der Schule. Dyballa nutzte diesen Impuls, um eine feste Allianz mit dem ortsansässigen Pflegeheim zu schmieden. Jetzt wechseln sich 7- und 8-Klässler je nach A- oder B-Woche ab, um dort vor Ort zu lernen. „Sie lernen Altenpflege und entfalten ihre persönlichen und sozialen Kompetenzen. Das lässt sich auf andere Formen und Zeiten der Zusammenarbeit mit weiteren außerschulischen Partnern übertragen“, resümiert Brigitte Reiche die Auswirkungen des Angebots. Sie moderiert vor Ort und sorgt dafür, dass die Jugendlichen Einblicke in die Aufgaben gesundheitlicher Betreuung erhalten. Dafür begleiten sie die Pflegebedürftigen zu Spezialanwendungen und Ergotherapien. Für Brigitte Reiche ist es Neuland, ihre Schützlinge zum außerschulischen Einsatzort zu begleiten und dabei zu beobachten, wie sie sich dabei entfalten und bewähren. Durch ihre Begleitung schöpft auch das Team des Pflegeheims Vertrauen und fühlt sich angespornt, den Jugendlichen vielfältige Lernerfahrungen zu ermöglichen. Diese Allianz wird Schule machen und weitere werden folgen, da ist sich das Team der Ferropolis-Schule sicher.
Glücksfall für die „Ferropolis“
Kathleen Dyballa ist ein Glücksfall für Schulleiterin Frau Nietsche. Als ehemalige Hortbetreuerin qualifizierte sich Dyballa zur Sozialpädagogin mit sonderpädagogischem Profil und moderiert jetzt ein Team aus drei weiteren Erzieherinnen. „Eigentlich machen wir hier eigentlich den Ganztag und kümmern uns außerdem um die Extremfälle!“ Als Mitglied der erweiterten Schulleitung unterscheidet sie ihren Einsatz im Auftrag der Lehrerinnen und Lehrer, meist ist das Begleitung im Unterricht, von den Angeboten des Ganztags in eigener Regie. Ihr Team kümmert sich auch um „Mobbingfälle“ und andere Auffälligkeiten im Miteinander der Kinder und Jugendlichen. Ein Trainingsraum wurde eingerichtet, um Kindern mit Problemen einen Ort zu bieten, an dem sie Rückzug und Ausgleich finden, ein Ort, an dem mit den Kindern gesprochen und überlegt wird, wie Probleme gelöst werden und sich „das Ganze klärt“. Da die Sozialpädagogin Dyballa auch als Ansprechpartnerin für das „Erwachsenwerden“ gilt, werden mit ihrer Beteiligung Klassenleiterstunden als Stunden der Selbstfindung verwendet. Sie setzt auf das Erlernen von „Ich-Botschaften“. Bei ihren Übungen verstärkt sie die Selbstfindung und beweist Wertschätzung gegenüber den ratsuchenden oder auch nur „ausgeflippten“ Kindern oder Jugendlichen.
Die Lehrerinnen und Lehrer der Ferropolis-Schule wissen die Professionalität und das Engagement ihrer Sozialpädagogin zu schätzen. Sie und Dyballas Team verstehen sich als „Multiprofessionelle“ und bündeln Bildungs- und Erziehungsziele zum Zweck einer ganzheitlichen Förderung und Betreuung. An dieser Schule ist das Kollegium überzeugt, dass Ganztagsschule ohne Erzieherinnen und Sozialpädagogen nicht funktionieren könnte. Obwohl es die an der Ferropolis-Schule tätigen Kollegen nicht anders kennen, wissen sie dennoch, welchen Schatz sie an ihrer Schule haben.
Anspruch auf Flexibilität
Wer auf den Stundenplan einer 6. Klasse schaut, entdeckt viele Doppelstunden. Von Blockunterricht wird dabei aber nicht gesprochen. Vielmehr wird mit dem Anspruch auf Flexibilität überlegt, wie sich der Stundenplan sinnvoll gestalten lässt. Stütz- und Förderstunden werden klassenübergreifend für die Hauptfächer angeboten, am Nachmittag sind die Angebote untergebracht, vor allem dann, wenn im Vormittag die Hauptfächer für Erschöpfung gesorgt haben. Arbeits- und Übungsstunde liegen dann an einem anderen Tag und folgen etwa auf den Sportunterricht. Zwei Arbeits- und Übungsstunden entlasten die Schülerinnen und Schüler von Hausaufgaben. Diese Lernzeit reicht, um die schriftlichen Aufgaben unter Begleitung der Lehrerinnen und Lehrer zu lösen oder um Mitschülerinnen und Mitschüler zu fragen. Sandra aus Klasse 6 berichtet, dass sie am Mittwoch und Freitag eine eigene Lernzeit hat. „Vokabeln lernen muss entweder im Bus klappen oder eben zu Hause!“ Sie und ihre Mitschülerinnen haben weite Wege, um ihre Schule zu erreichen. Längst kommen nicht alle aus dem nahen Schulumland. Wenn um 7.30 Uhr die Schulbusse die Schülerinnen und Schüler absetzen, dann haben einige schon knapp eine Stunde Fahrt hinter sich. „Übliche Probleme in einem Flächenland wie Sachsen-Anhalt, noch dazu in einem, das eine immer geringere Bevölkerungsdichte aufweist“, sagt die Sozialpädagogin.
Die Angebote für den Ganztag beinhalten alles, wonach Kindern und Jugendlichen der Sinn steht. Eine Schülerfirma, Musik oder Theater im Pfarrhaus, Kochen, Fußball, Percussion, Oma-Stunde bei der Volkssolidarität. Durch das Team um Kathleen Dyballa ist diese Vielfalt möglich geworden.
Kreuz und quer
Die Klassenräume sehen auf den ersten Blick etwas ungeordnet aus. Kreuz und quer stehen immer zwei Tische für jeweils 4 Schülerinnen und Schüler. Da sehr häufig in Gruppen gearbeitet wird, lohnt es sich nicht, die Tische für einen knappen Frontalunterricht in Reih und Glied auszurichten. Die Biologielehrerin musste sich erst an die angeschraubten Fachtische gewöhnen und hat trotzdem Gruppenarbeit durchgesetzt. Die Doppelstunden basieren auf Methodenvielfalt. „Der Schultag ist lang. Da kommt es tatsächlich auf Vielfalt an“, so Biologielehrerin Susanne Nink.
Die Schulabgänger nennen ihre Schule liebevoll „Schrottschule“ und beziehen sich auf den mittlerweile weltberühmten Veranstaltungspark „Ferropolis“, der sich aus den ehemaligen Bergbauanlagen entwickelt hat. Wer kreativ genug ist, kann im Kunstunterricht der 10. Klasse eine Schrottplastik abgeben und sich damit auf dem Kunstpfad der Ferropolis-Arena verewigen.
Datum:
11.10.2011