Das Hansa-Gymnasium in Stralsund in Mecklenburg-Vorpommern ist seit Juni 2007 „Selbstständige Schule“. Vorab wurde in einem dreijährigen Entwicklungsprozess die Schul- und Unterrichtskultur reformiert. Dabei wurde die Schulorganisation zugunsten einer schülerorientierten Lern- und Lehrauffassung umgestellt und an den Rollen der Akteure gefeilt.
Ein Beschluss der Schulkonferenz hatte den Entwicklungsprozess eingeleitet. Zum Schuljahr 2004/05 machten sich Lehrer und Schulleitung auf den Weg, wobei sich vor allem das Kollegium einig war: „Wir haben zu gewinnen und nicht zu verlieren! Warum sollen wir nicht selbst das Steuer für die Organisation und Entwicklung unserer Schule in die Hand nehmen und das eigene Handeln verantworten?“ In einer dreijährigen Entwicklungsphase ging es ihnen darum, sich zu einer „Selbstständigen Schule“ auf der Basis einer veränderten Schul- und Unterrichtskultur zu entwickeln und dafür anerkannt zu werden. Die Unterstützungsangebote durch Ministerium und Landesinstitut halfen den Akteuren, aus gewohnten Gleisen auszubrechen und Rollen im Schulbetrieb neu zu definieren.
Von Lehrern geht die Veränderung aus!
Die Austauschprozesse zwischen Lehrern, Schülern, Eltern und der Schulleitung intensivierten sich. Gemeinsam wurde gefragt: Was ist notwendig, um der Verantwortung gerecht zu werden? Was halten wir für möglich? Was wollen wir verändern? Wie müssen wir unsere Auffassungen überdenken? Wie können wir von der zugesprochenen Selbstständigkeit profitieren? Es ging um die Besetzung neuer Verantwortungsfelder und um die Ausgestaltung eines ganztägigen Schulalltags auf der Basis einer demokratischen Schulkultur. Die aufgeworfenen Fragen lösten zunächst organisatorische Veränderungen im schulischen Alltag aus, denn dieser rhythmisierte sich. Das wiederum hatte Folgen für Lern- und Lehrauffassungen.
Neben Frührunde und Mittagsfreizeit wurden Fachstunden in Blöcken zusammengezogen, was dazu führte, dass Zeit für „Mehr“ zur Verfügung stand, was aber auch Lehrer herausforderte, die längere gemeinsam verbrachte Unterrichtszeit methodisch an den Interessen der Schüler zu orientieren. In der Sekundarstufe I konnte eine verbindliche Freiarbeit eingeführt werden, die neue Rahmenbedingungen für selbstverantwortliches Lernen bietet. Es ging schlicht allein darum, den Schülern einen methodenreichen und interessanten Schulalltag zu bieten.
Raster der Stundentafel löste sich auf
Das altbekannte Raster der Stundentafel löste sich auf und das traditionell dominierende Unterrichtsschema des „fragend entwickelnden Unterrichts“ mit Lehrervorträgen, Tafelbildern und kurzschrittigen Unterrichtsgesprächen hatte seine Basis, den 45-Minuten-Takt, eingebüßt. In den Blöcken wird seitdem danach gestrebt, den Schülern eine ausgewogene Balance zwischen vermittelndem Lernen , selbstständigem Anwenden und Kooperieren unter Berücksichtigung individueller Lerngewohnheiten zu ermöglichen und dabei unterschiedliche Lernwege zu öffnen. Diese „Neuorientierung“ des Schulalltags hatte zur Folge, dass vor allem die Lehrer sich veränderten.
Um mit den hohen Schülerzahlen einer Klasse zurecht zu kommen, differenziert sich die Lernarbeit der Schüler durch einen flexiblen Zugriff auf Lernorte, die sich einerseits über das ganze Schulhaus verteilen, aber auch außerhalb der Schule gefunden werden. In den Phasen des selbstbestimmten Lernens sind die organisatorischen Veränderungen in den Fluren, in der Bibliothek und an anderen Orten deutlich sichtbar. Selbst das Internet eröffnete Chancen für die Individualisierung der Lernwege und in etlichen Projektunterrichtskonzeptionen wird die Lernumgebung durch den Einsatz einer Lernplattform (SCHOLA-21) erweitert . Das so inszenierte selbstverantwortliche Lernen setzt jedoch voraus, dass die Schüler für ihr Lernen tatsächlich Verantwortung übernehmen. Alte Tugenden wie Pflichtbewusstsein und Anstrengungsbereitschaft sind neu gefordert und zu fördern. Die Lehrer sind weniger in ihrer fachlichen Professionalität gefragt.
Jahrgangsteams bilden
Im Zuge dieser Veränderungen entschied sich das Kollegium, feste Jahrgangsteams zu bilden, um fächerüberschreitende Lernkonzeptionen umsetzen und mit komplexen Lernvorhaben kooperativer umgehen zu können. Ein Jahrgangsteam ist letztlich eine institutionalisierte Arbeitsgemeinschaft von Lehrern eines Jahrgangs und der Gegenentwurf zu Fachzirkeln. Mittlerweile ist der Zusammenhalt der Lehrer auf Jahrgangsebene auch die Basis für alltagstauglichen Projektunterricht.
Lehrer geben Verantwortung ab – Schüler nehmen Verantwortung wahr
Die Rollenverteilung zwischen Schülern und Lehrern sieht bei der Projektmethode vor, dass gerade die Schüler in hohem Maße Verantwortung für den individuellen aber auch gemeinschaftlichen Lernprozess übernehmen. Die Folge ist, dass diese zu Mitgestaltern „abheben“ und die Monopolstellung des Lehrers in Frage steht. Die „neue“ Besetzung verlangt, dass die Schüler Fähigkeiten entfalten, um mit veränderten Tätigkeits- und Reflexionsfeldern gekonnt umzugehen. Schüler lernen Bedürfnisse wahrzunehmen, die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit auch zur eigenen Aufgabe zu machen, sich in Kooperationsgemeinschaften zu integrieren und sich dabei für ein gemeinsames Ergebnis einzusetzen. Strategien zur Mitbestimmung und Selbsttätigkeit wie auch Strategien des Kooperierens und Tolerierens sind neuer Lern- und Beratungsstoff. Umso bedauerlicher ist es, dass der Status einer Selbstständigen Schule nicht auch gleichzeitig die Implementierung neuer Bewertungsverfahren erzwingt. Die Leistungsmessung wird nach den tradierten Verfahren fortgesetzt. Das ist, als wenn man zu kleine Schuhe bei einer Bergbesteigung verwendet. Blasen bleiben nicht aus.
Mehr Zeit und Raum
Bereits heute zeigt sich, dass die Schüler die veränderte Schulorganisation mit mehr Zeit und Raum zu schätzen wissen. Die neuen Möglichkeiten, miteinander eigenständig zusammenzuarbeiten und die eigenen Lehrer nicht als „Pauker“ sondern als Lernbegleiter zu erleben, treiben die Schüler für das Lernen an. Verblüffung stellt sich auf beiden Seiten (Lernende und Lernbegleiter) ein, wenn im Projektunterricht die Entlastung auf der einen Seite (Lehrkräfte) eine „Mehrbelastung“ auf der anderen Seite (Schüler) nach sich zieht.
Rollentraining ohne Lehrbuch?
„Astronomische Zeitmessung – wie funktionieren Sonnenuhren in der Region Stralsund?“ oder „Was durchlitt Stralsund beim Bombenangriff 1944?“, das sind Fragen, die die Schüler durch Forschen im Stadtumfeld für sich beantworten konnten. Sie wurden zu besonderen Lernleistungen, bei denen eng mit außerschulischen Partnern zusammengearbeitet werden konnte. Schüler rücken immer wieder mit großen Ideen an, da passt der Titel des von ihnen selbst komponierten Musicals „Von Träumern und von Eseln“. „Kompositionen“ oder das Schulmusical „Abbamia“ entstanden und es gab Projekte, in denen in Zusammenarbeit mit der Greifswalder Universität ein englischsprachiges Wissensjournal erarbeitet wurde. Oder im Informatikunterricht wurde Wissen zur Antike fächerübergreifend neu arrangiert.
Die freie Wahl von Lernorten half Schülern gerade im Projektunterricht und in freier Arbeit, Wissen auch außerhalb des Klassenraums zu erwerben. Die Beschäftigung mit lebensweltlichen Fragen motivierte die Schüler tatsächlich. Das Vertrauen der Lehrer in ihre Schüler wurde zum Fundament für das selbstständige Lernen an „anderen“ Orten. Jedoch war das anfänglich ungewohnt. Lehrer erlebten sich mit Schülern, die Fragen bearbeiten, welche kein Lehrbuch beantwortet. Diese Lernumgebung war nicht durch Schulbuchverlage konzipiert, sondern der Lehrer musste arrangieren. Vor allem die unterschiedlichsten Interessen der Schüler kann kein Lehrer vorhersagen. Da galt es eine neue Gelassenheit zu entwickeln. Nicht für alle fächerüberschreitenden Phänomene der Alltagswelt müssen Lehrkräfte Fachexpertise vorweisen und sich damit unnötig unter Druck setzen. Es ging vielmehr darum zu lernen, sich den Suchbewegungen der Schüler anzuschließen und dabei die Lernberatung nicht aus dem Auge zu verlieren. Die im Hintergrund agierenden Lehrer sind wie Mentoren. Sie werden nicht selten genauso inspiriert, weil eben keine fachliche Routine ihre eigene Neugierde lähmt. Sie können mitlernen, staunen, sich freuen und in besonderem Maße ihre Bewunderung zeigen.
… weil es Spaß macht
Schüler Alexander (16) meint: „ Es ist toll, wenn ich spüre, dass ich meine Vorstellungen zu Teilen in gemeinsam verhandelten Ideen stecken. Da ist man anfänglich verwirrt, dass der Lehrer mitzieht und nicht verhindert.“ Schülerin Christina (16): „Ich nehme mich ganz anders ran, wenn ich in einem Projekt stecke. Da ist auf einmal klar, dass Verweigern bedeutet, dass die ganze Gruppe mit reingezogen wird und das will ich nicht. Wir formatieren uns selbst wohl am Besten und was wir bei unserer selbstständigen Arbeit erlebt haben bleibt sicher hängen.“ Schüler Paul (15): „Wenn die Lehrer sich entspannen und uns vertrauen, dann ist zwar anstrengender, aber die Zeit vergeht schneller, sicher weil es Spaß macht. Was wir dann selbst geschafft haben, können wir am Ende ganz anders vertreten. Man wird selbstbewusster.“. „An dieser Schule hat man Chancen und wird ernst genommen.“, so Karen (18) nach einer gelungen Theateraufführung, für die sie das Drehbuch geschrieben hat.
Lehrerin Katrin Steffan: „Ich fühle mich in der Rolle des Begleiters sehr wohl, aber nicht selten ist es auch anstrengend, weil Vieles nicht vorherzusehen ist.“ Und Lehrer Volker Freiberg dazu: „Ich bestärke meine Schüler. Die sollen selbstständig mit der Projektarbeit beginnen und auf dem Regiesessel Platz nehmen, müssen aber auch die Verantwortung übernehmen.“
Für Schüler und Lehrer wurde deutlich, dass gemeinsames Arbeiten auf gleicher Augenhöhe motiviert, anstrengt, aber auch begeistert und die Risikobereitschaft und Fehlertoleranz aller Beteiligten zum Guten entwickelt.
Die Wirkung des Projektlernens
Projektpräsentationen sind ohne Frage die eigentlichen Schulhöhepunkte. Beispiele sind die Antike Olympiade, die Fahrt in das Pergamonmuseum, die Aufführung des Musicals, der Besuch der französischen Partnerschule und viele andere Ereignisse, die letztlich immer Abschlüsse von Projektinitiativen sind. Projektunterricht bietet offensichtlich vermehrt Gelegenheiten für ein von Höhepunkten getragenes Schulleben. Diese Höhepunkte entspringen nicht der Lehre, sondern selbstständigem Lernen. Wer mag schon einen Unterricht, in dem nur doziert, belehrt und reglementiert wird?
Der Weg zu einer lebendigen Lernkultur ist nicht eben. Immer wieder stellt sich das Kollegium die Aufgabe, es noch besser zu machen. Mehrere schulinterne Evaluationen, bei denen Schüler und Lehrer befragt wurden, zeigten zwar Erfolge, offenbarten aber auch Problemfelder. Der Entwicklungsprozess muss immer wieder reflektiert und korrigiert werden. In den Jahrgangsteams werden immer noch Ideen bewertet und Modelle fortentwickelt, die die kontinuierliche Arbeit an unterschiedlichen Projekten zur individuellen Förderung eines jeden Schülers zum Ziel haben. Das Kollegium ist aber offensichtlich experimentierfreudiger geworden – im positiven Sinn.
„Wir tragen Verantwortung, dessen sind wir uns bewusst: Wir Lehrer sind die Wegbereiter.“
Text: Dr. Sabine Schweder und Ilona Vierkant
Datum:
31.07.2008
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