Klassen lernen für sich selbst zu sorgen
Was eigentlich der Demokratieerziehung dient, ist an der Grund- und Mittelschule in Passau Instrument erfolgreicher Schulsozialarbeit: Das Regelwerk des Klassenrats ist an dieser Schule ein Werkzeug zur Prävention oder Lösung sozialer Konflikte.
Schulsozialarbeiterin Evi Ueberschaar-Demel sorgt ab Klasse 2 für die Einführung und regelmäßige Umsetzung des Klassenrats. Das geregelte Verfahren sieht im Kern für alle Schülerinnen und Schüler die individuelle Auseinandersetzung mit vier unvollendeten „Ich-Botschaften“ vor:
- „Ich fand schön …“
- „Ich kritisiere …“
- „Ich wünsche mir …“
- „Ich schlage vor …“
Damit sind alle in einer Klassengemeinschaft eingeladen, Anerkennung, Lob, Beschwerden, Kritik, Unerfreuliches, Anregungen, Vorschläge, Wünsche und Ideen zu äußern. Allerdings nicht anonym. Der Klassenleiter ist anwesend, beobachtet, beteiligt sich aber auch. Damit wird er neben der Schulsozialarbeiterin zu einer moralischen Instanz.
Ueberschaar-Demel beschreibt dies als Gelingensbedingung für die Klassenratsarbeit. Der Klassenleiter bzw. die Klassenleiterin erfährt nicht nur, wo es läuft und wo es hakt, sondern er oder sie honoriert und begleitet die Umsetzung von Verabredungen und bringt gleichzeitig eigene Vorstellungen und Wertmaßstäbe ein. So entsteht Verbindlichkeit. Vereinbarungen werden nicht nur unter den Schülerinnen und Schülern geschlossen, sondern mit Wissen des vertrauten Klassenlehrers bzw. der vertrauten Klassenlehrerin. Für Ueberschaar-Demel ist der regelmäßig stattfindende und von ihr begleitete Klassenrat ein pragmatischer Weg zu einer Klassengemeinschaft, die für sich selbst sorgt. Vorlage zum Brainstorming
Es wird keine extra Stunde gebraucht!
Der Klassenrat ist für die Schülerinnen und Schüler an der Passauer Schule so selbstverständlich wie Mathematik und Deutsch. Die Organisation nutzt das „Klassenlehrerprinzip“. Dieses verspricht, dass eine Lehrkraft möglichst viele Stunden in der eigenen Klasse verbringt. Die Zeit, die für die Ratssitzung verbraucht wird, wird an anderer Stelle aufgeholt. Lerninhalte und Lernanlässe werden umgeordnet, es gibt keine Extrastunde. Der Rat wird abgehalten, wenn Evi Ueberschaar-Demel am Freitag in die Klasse kommt. Angst davor, Unterrichtszeit zu verlieren, haben die Klassenleiter nicht: Die Arbeit im Klassenrat sorgt für ein ausgeglichenes Miteinander und verkürzt Prozesse an anderer Stelle.
Generell ist eine Klassenratssitzung auf 20 Minuten begrenzt, die aber nur als Richtwert zu verstehen sind. Bei Bedarf wird verlängert, gekürzt eher selten. Ueberschaar-Demel geht erst dann in die nächste Klasse, wenn ein Protokoll unterschrieben ist.
Klassenrat als Ausgangspunkt für sozialpädagogische Handlungsoptionen
Die Protokolle der Klassenräte und die Beobachtungen bei der Sitzung sind der Stoff, aus denen die Sozialarbeiterin weitere Maßnahmen entwickelt. Sie erkennt mittlerweile, wann Probleme so tiefschürfend sind, dass die Klassengemeinschaft überfordert ist, diese selbstständig zu lösen. Auch wenn Probleme schon länger „brodeln“, sind sie immer noch gemeinsam zu bewätigen. Die Früherkennung gelingt über den Klassenrat!
Präventionseffekte
Der Klassenrat hilft den Schülerinnen und Schüler zu erkennen, dass Disput erfolgreicher ist als die Anwendung von Gewalt und dass alle Kinder von gewaltfreien Lösungen profitieren. Deutlich wird auch, dass die durch im Klassenrat wahrnehmbaren Probleme im normalen Unterrichtsgeschehen oft unerkannt bleiben. Die Kinder lernen, dass Probleme natürliche Begleiter im eigenen Leben und im Leben einer Gemeinschaft sind, dass es jedoch darum geht, diese zu erkennen und konstruktiv zu bearbeiten. Verfahren wie der regelmäßige Klassenrat werden zum Diskurs- und Konsensraum und bieten den Beteiligten Sicherheit.
Zusätzliche Handlungsoptionen
1. Jour Fixe mit der Schulleitung
Jede Woche trifft sich Evi Ueberschaar-Demel mit Schulleiterin Iris Stephan. Die Diskussion entsteht, wenn Beobachtungen aus den Klassenratssitzungen zu Sorgen führen, aber auch wenn Hinweise außerhalb dieses Gremiums an Schulleitung, Sozialarbeiterin oder Klassenleitung herangetragen wurden. Das Prinzip des Jour Fixelautet „Kurze Wege“: Es werden Einzelfälle zu besprochen, durch den engen Zeittakt wird zügig auf Probleme reagiert. Die definierte Stunde schafft zwischen Sozialarbeiterin und Leitung Verbindlichkeit. Die Schülerinnen und Schüler spüren, dass Ueberschaar-Demel im Gespräch auf einer Ebene mit der Schulleiterin steht. Die effektive Zusammenarbeit hält Schulleiterin Stephan den Rücken frei und garantiert die Bearbeitung der Konflikte mit Nähe zum Kind.
2. Trainingsraum
Das Prinzip Trainingsraum greift, wenn akute Störungen im Unterricht auftreten. Einen extra Raum leistet sich die Schule nicht, denn der wäre nicht häufig besucht und damit überflüssig. Stattdessen nutzt Ueberschaar-Demel das eigene Büro. Ist ein Trainingsfall eingetreten, dann bearbeiten die „störenden“ Schülerinnen und Schülern Fragen, die das Geschehene reflektieren. Diese Fragen zum Nachdenken sorgen in einem darauf folgenden Gespräch für konstruktive Vereinbarungen und damit neue Vorsätze. Die Rückfallquote hält sich in Grenzen.
3. Pausen-Tutoren
Zehn Schülerinnen und Schüler werden jährlich ausgewählt und als Tutoren durch die Pausen geschickt. Damit werden auf Augenhöhe Konflikte bearbeitet, was Lehrkräfte und auch die Schulsozialarbeiterin entlastet. Die ausgewählten Tutorinnen und Tutoren verstehen ihre Auswahl als Auszeichnung. Bei guter Arbeit erhalten die Freiwilligen ein Zertifikat. Nach der Auswahl zieht Ueberschaar-Demel mit ihnen durch die Klassen und stellt die Tutoren vor.
4. Schnelle Hilfe
Stellt sich im Sekretariat heraus, dass eine Schülerin oder ein Schüler unerklärt fehlt, übernimmt Ueberschaar-Demel die Verantwortung. Für sie sind solche Verhaltensweisen Indizien, dass irgendetwas nicht stimmt. In einigen Fällen hat sich diese Annahmen bewahrheitet und Hilfen wurden eingeleitet.
5. Elternarbeit
Die Vernetzung mit den Eltern und thematische Elternarbeit, aber vor allem die Vorbereitung und Moderation von Elterngesprächen sind für Ueberschaar-Demel entscheidende Aufgaben. In diesem Bereich arbeiten Schulleiterin Stephan, Klassenleiterinnen und Klassenleiter sowie die Schulsozialarbeiterin eng zusammen. In der Zusammenarbeit mit den Eltern weiß Ueberschaar-Demel, dass es darauf ankommt, sich zurückzunehmen und den Eltern nicht mit einer „ich weiß es besser“–Haltung gegenüber zu treten, sondern stattdessen zu moderieren. Weder Eltern noch Kinder sollten beschuld. Das gleiche Prinzip gilt auch beim Klassenrat.
6. Projektarbeit
Durch Projekte und die Zusammenarbeit mit außerschulischen Institutionen und Partner wird die Schulsozialarbeit in den Sozialraum vernetzt. Hier eine Auswahl von Initiativen, die an der Schule aufgegriffen und genutzt werden:
- PIT = Prävention im Team
Ein Programm zum sozialen Lernen und zur Kriminalprävention im Jugendalter
- miteinander anders
Ein Projekt des Stadtjugendrings Passau
-
Faustlos
Ein für Schulen und Kindergärten entwickeltes Gewaltpräventionsprogramm
-
Lions Quest
Ein Jugendförderprogramm mit dem Titel „Erwachsen werden“ zum sozialen Lernen und zur Gewaltprävention
Datum: 20.08.2012
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