Wie können Ganztagsschulen Inklusion in der Praxis fördern? Wie sollte inklusiver Unterricht gestaltet sein? Und wo wird Inklusion zum Problem? Diese Fragen beantwortet Tillmann Schneider. Er ist Lehrer mit einem Zusatzstudium in Schulentwicklung und Qualitätsmanagement und arbeitet an der Oberschule an der Julius-Brecht-Allee in Bremen.
Die Ganztagsschule an der Julius-Brecht-Allee gestaltet seit 2005 ihren Unterricht inklusiv und hat das Ziel, ein Lernklima zu schaffen, das es allen Schülerinnen und Schülern ermöglicht, sich entsprechend ihrer individuellen Lernvoraussetzungen stetig weiter zu entwickeln.
Herr Schneider, wie kann Ganztagsschule Inklusion in der Praxis fördern?
Tillmann Schneider: Die Ganztagsschule ermöglicht allen Schülerinnen und Schülern in ganz besonderer Weise die Umsetzung von Inklusion. Denn ein rhythmisiertes Ganztagsangebot kombiniert – über den Unterricht hinaus – kulturelle Lernangebote mit vielfältigen sozialen Kontaktmöglichkeiten. Sie berücksichtigt die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen ebenso wie die individuellen sozialen Bedürfnisse. Somit wird die Chancengleichheit aller Schülerinnen und Schüler gefördert, unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status und ihren individuellen Lern- und Leistungsständen. Dies ist meiner Erfahrung nach dem gemeinsamen Lernen aller Schülerinnen und Schüler in fachlicher und sozialer Sicht sehr zuträglich. An unserer Schule gelingt dies auch durch zahlreiche Angebote in der Mittagspause wie zum Beispiel der offenen Schulbibliothek, der aktiven Pausenbetreuung in der Turnhalle oder dem Offenen Atelier, in dem die Kinder und Jugendlichen gemeinsam mit zwei Sozialpädagogen basteln, spielen oder einfach auch nur miteinander reden. Ebenfalls förderlich sind die – teilweise auch jahrgangsübergreifenden – Arbeitsgemeinschaften. Die Schülerinnen und Schüler können hier ihre eigenen Interessen verfolgen und haben über ihren Klassenverband hinausgehende soziale Kontaktmöglichkeiten.
Wie sollte inklusiver Unterricht gestaltet sein?
Inklusiver Unterricht berücksichtigt die verschiedenen Lernausgangslagen der Schülerinnen und Schüler und unterstützt sie entsprechend ihres Leistungsniveaus beim nächsten Lernschritt. Durch eine Kombination aus lehrgangsförmigem, individualisierendem und kooperativem Unterricht und mit sehr guter Vorbereitung kann dies auch gelingen. Eine Reduzierung auf eine Unterrichtsform, insbesondere den lehrgangsförmigen Unterricht, würde dem entgegenstehen. Aus meiner Sicht wird der hohe Stellenwert, den die kooperativen Unterrichtsformen für das gemeinsame Lernen aller Schülerinnen und Schüler hat, oftmals unterschätzt. Ohne Zweifel arrangieren Lehrerinnen und Lehrer in einzelnen Stunden immer wieder kooperierendes Lernen in Partner- und Gruppenarbeiten und in kleineren Projekten, aber die Chancen, wie es fächerübergreifendes, epochales Projektlernen, das fest im Unterrichtsalltag verankert ist, bietet, findet sich nur an sehr wenigen Schulen. Dabei könnte man hiermit die heterogenen Bedürfnisse, Interessen und Lernausgangslagen der Schülerinnen und Schüler an einem Lerngegenstand vereinen! Fachlehrer und Sonderpädagogen könnten in einem so gestalteten Unterricht viel gezielter beraten und unterstützen und nähmen eher die Rolle von Lerncoaches ein. Beispielsweise könnte der Fachlehrer sehr leistungsstarken Schülerinnen und Schülern fachlich auf hohem Niveau weiterhelfen, während der Sonderpädagoge Schülerinnen und Schülern mit hohem Unterstützungsbedarf strukturelle Hilfen anbietet und den Lernprozess vorbereitet und begleitet.
Mit individualisierenden Unterrichtsformen, wie etwa dem Lernbüro und der Studierzeit bietet man differenzierte Lernangebote und berücksichtigt die Heterogenität der Schülerschaft. Fachlehrer und Sonderpädagogen mit ihren fachlichen Kompetenzen haben hierdurch vielfältigere Ansatzpunkte für eine effektive und differenzierte Förderung und tragen so zum Lernerfolg der Kinder und Jugendlichen bei. Dies erfordert allerdings Zeit und Raum für eine intensive gemeinsame Vorbereitung, die in der Praxis jedoch oft nur schwer realisierbar ist.
Wo wird Inklusion zum Problem?
Inklusion kann nicht zum Problem werden. Inklusion steht auch für das Recht aller Schülerinnen und Schüler auf eine umfassende Bildung in der allgemeinen Schule. Es gibt allerdings auch Faktoren, die das gemeinsame Lernen behindern. Dies betrifft beispielsweise die räumlich passende Ausstattung der Schulen oder unzureichende Doppelbesetzungen im Unterricht mit Fachlehrern und Sonderpädagogen oder auch fehlende gemeinsame Planungszeiten.
Der Fokus der Inklusion wurde in den letzten Jahren zumeist auf die Einbindung und Förderung der Kinder mit diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf gelegt. Es darf dabei aber nicht vergessen werden, dass es immer um einen Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler geht. Die Kinder und Jugendlichen mit einem sehr hohen Lern- und Leistungspotenzial haben ebenfalls einen Anspruch auf eine qualifizierte Förderung.
14.08.2014
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