Malern und Lackierern bis zur Verwaltung und Kantinenküche geführt wird, sieht lauter Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht nur mit Spaß bei der Sache sind, sondern vor allem erstaunlich jung sind. Die, die da nämlich so konzentriert werkeln, sortieren, kochen oder tippen, gehören allesamt zum achten Jahrgang der IGS Hannover- Linden.
Dass sich der Altbau des Schulgebäudes für eine Woche im Jahr in eine kleine Fabrik verwandelt, ist bewährte Tradition. „Projektarbeit und Projektwochen sind eine gute Möglichkeit, die Zerrissenheit der Fächer zu umgehen“, meint Renate Bastian, eine der zehn Förderlehrkräfte an der IGS Linden. „Es geht dabei auch um das gemeinsame Miteinander. Da findet sich für jeden unproblematisch eine Aufgabe, die er gut lösen kann“, fügt sie hinzu.
Allen Schülern Lernen auf ihrem individuellem Niveau zu ermöglichen, ist dem Kollegium an ein ganz großes Anliegen. „Unsere Lehrerschaft hat sich die Aufgabe gestellt, alle Mädchen und Jungen unseres Stadtteils, die zu uns kommen möchten, auch zu unterrichten. Wir wollen keinen ausschließen“, sagt Renate Bastian und verweist damit auf ihr Konzept der Inklusion.
Die IGS Hannover-Linden besuchen derzeit insgesamt, also von Jahrgang 5 bis 13, 1350 Schülerinnen und Schüler. 950 davon gehen in die Sekundarstufe I, 72 von ihnen haben sonderpädagogischen Förderbedarf mit Schwerpunkt Lernen oder mit Schwerpunkt emotionaler und sozialer Entwicklung. Kinder und Jugendliche, die andernorts die Regelschule verlassen und auf eine Förderschule gehen müssten. In diesem Schuljahr haben die Hannoveraner auch drei Kinder mit einer geistigen Behinderung aufgenommen.
„Bei der Idee von Integration und Inklusion ist ganz entscheidend, dass Kinder viel von anderen Kindern lernen können. Diese starke Triebfeder verschenkt man, wenn man eine Klasse homogen zusammensetzt“, erklärt Renate Bastian. Die IGS-Lehrerin ist überzeugt: „Eine Schülerschaft, in der alle gleich sind, gibt es in der Realität sowieso einfach nicht.“
Anforderungen, denen sich die Schule unter anderem mit kooperierenden Lernmethoden stellt. „Wir müssen den Unterricht öffnen und Voraussetzungen dafür schaffen, damit jeder etwas lernen kann“, ist sich Schulleiter Christoph Walther sicher. „Während einige Kinder der 6. Klasse im Geschichtsunterricht Texte zu den alten Ägyptern verfassen, baue ich mit anderen eine Pyramide oder schneide Bilder von Göttern aus“, berichtet Renate Bastian, die als Förderschullehrerin gemeinsam mit den Klassen- oder Fachlehrkräften die Unterrichtsstunden erteilt. An ihrer Schule ist es keine Seltenheit, wenn eine Schülerin oder ein Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf einen Haupt- oder Realschulabschluss schafft.
„Sobald ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wurde, klebt der Behinderungsbegriff an einem Menschen“, meint Christoph Walter und fügt hinzu: „Den gilt es im Zuge der Inklusion aufzubrechen. Wir müssen umdenken. Schüler mit einer Behinderung sind in bestimmten Punkten anders als andere. Aber wir können Situationen schaffen, in denen es darauf gar nicht ankommt.“
Schule muss sich etwas einfallen lassen. Für alle. Dann profitiert jede und jeder davon. „Mädchen und Jungen mit sonderpädagogischen Förderbedarf, die an einer Regelschule unterrichtet wurden, sind allgemein selbständiger, sie haben das Selbstbewusstsein, auch mal Fehler machen zu dürfen, ohne gleich außen vor zu sein“, sagt Renate Bastian, die überzeugt ist, dass auch leistungsstarke Schülerinnen und Schüler an ihrer Schule nicht nur bestmöglich gefördert werden, sondern zudem soziale Kompetenzen besonders gut erwerben können. „Wir heben nicht alle Unterschiede auf. Die Schüler lernen aber, dass es, wenn jemand schwächer ist, noch lange keinen Grund gibt, ihn rauszuschmeißen. Das finde ich für das Leben wichtig“, meint Renate Bastian.
Bereits seit 1996 unterrichtet die IGS Hannover-Linden integrativ und arbeitet ständig an der Umsetzung des Inklusions-Gedankens. 2009 wurde die Schule von der Bertelsmann-Stiftung mit dem „Jakob Muth-Preis für inklusive Schule“ ausgezeichnet. Doch die Ressourcen – also die nötige Stundenzahl und das Personal für Förderstellen – zuerkannt zu bekommen, ist immer noch ein ständiger Kampf, erzählt Christoph Walther. „Wenn die Inklusion an Deutschlands Schulen ein Sparmodell wird, dann schadet man Kindern mit besonderen Beeinträchtigungen. Wir schauen, was ein Kind braucht. Dass dann durchzusetzen, ist allerdings schwer.“
Die Schule passend für ihre Schülerschaft und nicht die Schüler passend für die Schule zu machen, dabei hilft das Modell der gebundenen Ganztagsschule. Die IGS wurde vor mehr als 40 Jahren als eine solche gegründet. Ein 90-Minuten-Takt der Unterrichtsblöcke, Rhythmisierung und ein großes AG-Angebot helfen, Inklusion zu verwirklichen. „Ein lernbehindertes Kind ist nicht wiederzuerkennen, wenn es etwa an unserem Zirkus-Kurs teilnimmt und am Ende eine Vorstellung gibt“, erzählt Christoph Walther, „da merkt niemand, dass das Kind behindert ist. Denn das ist es in dieser Situation ganz objektiv ja auch gar nicht.“ Der Schulleiter weiß genau „Jedes Mädchen und jeder Junge hat etwas, das er gut kann. Schule muss sich so verändern, dass sich alle mit ihrem Vermögen beteiligen können. Dann gelingt Inklusion.“
Es ist Mittagszeit. Auf der Karte der Albatros-Kantine stehen heute Hühnerschenkel mit Gemüsereis. Die Köchinnen und Köche haben einen großen Andrang zu bewältigen. Platz ist aber für alle. Egal, wer aus welcher Abteilung der Arbeiter-Schülerschaft kommt – es schmeckt meist besser, wenn man gemeinsam mit anderen am Tisch sitzen darf.
Datum:
12. März 2012