Eine Schule für alle

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DKJS/D. Ibovnik

Zu fördern ohne zu separieren hat sich die Bremer Oberschule an der Lehmhorster Straße auf die Fahne geschrieben. Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf lernen gemeinsam – was für die Schüler inzwischen normal ist, ist für die Lehrkräfte immer wieder ein Balanceakt. 

 

Von Beate Köhne

Wie breit ist die Tafel? Wie tief die Fensterbank und wie groß die Referendarin Nadine Heiden, die heute durch den Matheunterricht der 5 c führt? Mit Zollstock und Maßband bewaffnet laufen die Kinder durch den Klassenraum. Die Tür steht offen, auch im Flur des Jahrgangshauses dürfen sie alles ausmessen. Wichtig dabei: Die fünf Teams sollen erst schätzen, dann messen, und auch den Differenzwert auf ihrem Gruppenarbeitsblatt eintragen.

Dass in die 5 c drei Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gehen, fällt zunächst überhaupt nicht auf. Auch als später die Ergebnisse vorgetragen werden, machen die Kinder mit Lernbeeinträchtigungen genauso eifrig mit wie alle anderen. Einzig den verhaltensauffälligen Jungen meint man anhand seiner Lautstärke und einer irgendwie überdrehten Eifrigkeit ausmachen zu können. Klassenlehrerin Christin Roskosch schmunzelt. Zu Beginn des Schuljahres habe sie auch den Kolleginnen und Kollegen bewusst nicht erzählt, wer in ihrer 5 c mit einem besonderen Förderbedarf angemeldet sei. „Zumindest bei den beiden Schülerinnen mit Lernbehinderung hatten sie oft ganz andere Kinder in Verdacht“, sagt die Sonderschulpädagogin. Auch deswegen hält sie den Prozess der Inklusion von allen Schülerinnen und Schülern für eine echte Chance: „Die Kinder werden nicht so abgestempelt.“

Laut UN-Konvention sollen alle Schülerinnen und Schüler an jedem Unterricht teilnehmen dürfen. „Bremen hat das konsequent umgesetzt“, findet der Sonderschulpädagoge Steffen Gentsch, „und an unserer Schule werden Sonderschullehrer vielleicht besonders ernst genommen.“ Seit 2010 werden in Bremen nach und nach alle Förderzentren aufgelöst, seitdem ist jede Schule verpflichtet, Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufzunehmen. Während manche Schulen noch immer hektisch nach Sonderschulpädagogen fahnden, arbeitet Steffen Gentsch am Schulzentrum Lehmhorster Straße bereits auf Leitungsebene mit. Die Schulleitung wurde kurzerhand dreigeteilt: Der Schulleiter, seine Stellvertreterin, die obendrein didaktische Leiterin ist und das Ganztagsangebot koordiniert, und Steffen Gentsch als Leiter des Zentrums für unterstützende Pädagogik (ZUP) arbeiten Hand in Hand und – zumindest die beiden letzteren – sogar Tisch an Tisch im selben Büro.

Eigentlich erhält jede Bremer Schule eine Sonderschullehrkraft für fünf Lernende mit Förderbedarf. Die heutige Oberschule entschied sich daher dafür, sechs Schüler aufzunehmen. So erhielten sie gleich zwei neue Kollegen, denen obendrein noch Zeit für andere Aufgaben blieb. Christin Roskosch unterrichtet auch in anderen Klassen – was die Stellung wie auch die Vernetzung der Sonderschulpädagogen an der Schule stärkt. Im Lehrerzimmer ist Inklusion ein Thema, in den Klassen jedoch nicht. „Dass sie mit Lernbehinderten zusammenarbeiten, interessiert die Schüler gar nicht“, sagt Steffen Gentsch, „das haben sie in der Grundschule ja auch schon gemacht.“

Ob die Inklusion ihre Schule dennoch verändert habe?

Rosemarie Lange, die stellvertretende Schulleiterin, nickt. „Am deutlichsten merke ich es daran, dass sich die Kollegen mehr Zeit für Teambesprechungen nehmen“, sagt sie. Die Lehrerinnen und Lehrer kämen aus ihrem Einzelkämpfertum heraus, das sei ein großer Vorteil.

Ihre größte Aufgabe sieht Rosemarie Lange momentan darin, Entlastung für die Lehrer zu suchen, die sowohl durch den Ganztag als auch durch die Inklusion stark gefordert seien. Von beidem ist Rosemarie Lange dennoch vollkommen überzeugt, gerade in dieser Kombination. Der Ganztag erlaube durch die Rhythmisierung auch mal Pausen im Unterricht oder die Möglichkeit zur Bewegung. Außerdem würden sie seit Jahren viel daran setzen, die Teamfähigkeit der Kinder zu stärken, was den Prozess der Inklusion erleichtere. So ist sich Rosemarie Lange sicher: „Was auf den ersten Blick wie Mehrarbeit erscheint, kann auf den zweiten Blick wie eine große Entlastung wirken.“

Auch für ihre Arbeit im Netzwerk Lernkultur des Programms Ideen für mehr! Ganztägig lernen. hat sich die Schule ein Thema gewählt, welches das erfolgreiche Miteinander fördert: ‚Regeln und Rituale im fünften Jahrgang’. „Wir haben etwas gesucht, das zwar alle betrifft, aber nicht in die ureigene Arbeit eingreift, damit Neuerungen nicht über die Köpfe der Kollegen hinweg eingeführt werden“, erklärt Rosemarie Lange. In der schuleigenen Lernwerkstatt sei das Thema, für das im Alltag oft die Zeit fehle, auf große Resonanz gestoßen.

Was ihnen die Netzwerkarbeit bedeute?

Dazu fällt Rosemarie Lange spontan ganz viel ein. Die Schulbesuche, die überzeugender seien als jeder Vortrag, den man höre. Das Privileg, so vielen Reformpädagogen zu begegnen und überhaupt so vielen engagierten, interessierten und wissenden Menschen. Die Möglichkeit, relativ bequem all das zu begutachten und davon zu profitieren, was andere bereits auf den Weg gebracht haben. Und letztlich auch die Wertschätzung, die dem eigenen Beruf durch solche Kongresse, Veranstaltungen und Fortbildungen entgegengebracht werde.

Mit der Partnerschule in Magdeburg tauscht die Oberschule regelmäßig Material aus. Alle in Bremen erarbeiteten Papiere zu ‚Regeln und Ritualen im fünften Jahrgang’ liegen nun auch den Magdeburgern digital vor. Die schickten dafür Unterlagen zum Thema Profilbildung, zu Projektwochen oder Schulfestveranstaltungen. „Einer der Vorteile von Netzwerkarbeit besteht darin, dass man sich ganz unbeschwert über Ländergrenzen hinweg austauschen kann“, sagt Rosemarie Lange. Auch in Bremen arbeite man zwar in einem Verbund vor Ort gut zusammen. Ein Austausch von Material sei da aber eher unüblich, weil Nachbarschulen heutzutage auch in Konkurrenz zueinander stünden.

Die Lehmhorster Straße ist in jeder Hinsicht weit von der Bremer Innenstadt entfernt. Blumenthal klingt hübscher als es ist, das bekanntere Problemviertel Lüssumer Heide liegt gleich nebenan. So ist es auch kein Wunder, dass die sozialpädagogische Arbeit schon seit Jahren ein Schwerpunkt ist, auch weil die Schule von überdurchschnittlich vielen Kindern mit Migrationshintergrund besucht wird. Erste Versuche mit einer Integrationsklasse liegen bereits zehn Jahre zurück. Doch nach drei Jahrgängen war allen klar: Inklusion benötigt ein Konzept und entsprechend geschultes Personal. Der Versuch wurde eingestellt, es fehlten die Ressourcen.

In der 8 c dagegen klappt das gemeinsame Lernen seit drei Jahren relativ reibungslos. In der Klasse gibt es einen autistischen Schüler. „Man muss viel Geduld mit ihm haben“, erklärt der 15-jährige Mark, einer seiner Klassenkameraden. „Wenn er etwas nicht auf die Reihe kriegt und alles hinschmeißt, dann muss man ihn wieder herholen und ganz lieb mit ihm reden.“ Ansonsten bearbeite der Junge die gleichen Aufgaben wie der Rest der Klasse. Vom Konzept  ‚Eine Schule für alle‘, das der Schulleitung so am Herzen liegt, profitiert Mark auch ganz direkt. Der kleine Bruder seines besten Freundes ist ebenfalls Autist. Mark erzählt, dass sein Freund deswegen früher zögerlich gewesen sei, wenn er ihn besuchen wollte. „Jetzt geht das“, sagt er, „weil ich weiß, wie man mit Autisten umgeht.“

Zu fördern ohne zu separieren bleibt ein täglicher Balanceakt.

In Kleingruppen sind Schüler zwar optimal betreut, doch erneut exponiert und nicht integriert. Die Arbeit in der Klassengemeinschaft kann sie überfordern, fordert sie aber auf andere Weise heraus als eine gezielte Förderstunde. Was die Schülerinnen und Schüler davon halten, erfährt Steffen Gentsch auch in Einzelgesprächen während seiner Tutorenzeit. „Dabei geht es nicht nur um Lernziele“, erklärt der Sonderschulpädagoge, „ich frage auch: Wie geht es dir?“ So erfahre er auch ganz andere Sachen, etwa dass der Papa in der letzten Woche ausgezogen sei. Ein Mädchen habe einmal erzählt, dass sie ausdrücklich an diese Schule wechseln wollte, weil sie hier gemeinsam mit anderen lernen dürfe. In der Grundschule sei sie immer rausgeschickt worden, und wenn das weiterhin passiere, dann werde sie nicht mehr in die Schule gehen. Dem Team an der Lehmhorster Straße sind solche Aussagen Aufgabe und Ansporn zugleich.

Datum: 02. 09. 2011
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