Demokratiepotenziale und -grenzen von Ganztagsschule

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DKJS/ D. Ibovnik

 

Mit der Einführung von ‚ganztägiger Bildung und Betreuung’ in den einzelnen Bundesländern seit 2003 werden zwei Hauptziele verfolgt und zugleich mehrere Nebeneffekte beabsichtigt. Die Hauptziele sind (siehe BMBF 2003):

  • Verbesserung der Lernleistungen und
  • Erleichterung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Man kann die beiden Ziele durchaus als demokratieunterstützend bezeichnen, sofern es konkret z. B. um die Förderung von Bildungsbenachteiligten geht bzw. um die Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes. Allerdings wird hier die Dimension der inhaltlich-methodischen Gestaltung von Demokratiepädagogik in Ganztagsschulen fast nie erwähnt.

Die intendierten Nebeneffekte der Ganztagsschule sind (vgl. Holtappels 2006: 9-12):

  • Verbesserung der sozialen Infrastruktur;
  • Stärkung der Sozialerziehung;
  • Reaktion auf gewandelte Bildungsanforderungen;
  • Entwicklung der Lernkultur und der Förderungsintensität.

Unter dem zweiten Punkt wird u. a. auch der „Erwerb (…) demokratischer Handlungskompetenz“ verstanden (ebd., S. 10). Jedoch verbleiben die allermeisten (Grund-)Schulen – z. B. diejenigen, die am Programm der „Offenen Ganztagsgrundschule“ in NRW teilnehmen –, so wie bisher und addieren sich lediglich ein Mittagessen und eine Nachmittagsbetreuung durch nicht-unterrichtende Pädagog(inn)en und externe Honorarkräfte hinzu (vgl. Arnoldt 2007a und b).  Ein interner ‚Demokratie-Ruck’ ist nur an ganz wenigen Ganztagsschulen zu beobachten. Woran liegt dies, und wie könnte es anders sein?

 

Ganztagsschule oder Ganztagsbildung?

Die ‚Demokratieträgheit’ der Ganztagsschule liegt m. E. – um dies schon einmal vorwegzunehmen – an den systematischen Demokratiedefiziten der Schule generell. Und diese lassen sich nicht durch eine Ausweitung auf den ‚ganzen’ Tag überwinden – allenfalls möglicherweise durch ein alternatives Konzept, z. B. das der „Ganztagsbildung“ (Coelen 2006).

Im Unterschied zu den vielfältigen Konzepten von Ganztagsschulen (siehe z. B. Appel 1998) basiert das Theorie-Konzept der Ganztagsbildung auf Kooperationen verschiedener Bildungsorte (z. B. Schulen mit Kindertagesstätten/Horten, Jugendeinrichtungen, Vereinen/Verbänden etc.) und berücksichtigt ferner die Bildungspotenziale von Familien, Peergroups und Medien, um durch Zusammenarbeit ein Ganztagsangebot als gemeinsames, neues Drittes zu schaffen. Dieses Konzept ist als eine von mehreren möglichen Konkretisierungen der „Kommunalen Jugendbildung“ gefasst (Coelen 2002) und knüpft an Gedanken der ‚Öffnung von Schule’ und der Community education an (vgl. ebd., S. 97-102).

 

‚Demokratie’ als Argument in der Ganztags-Debatte

Obwohl ‚Demokratiebildung‘ nicht zu den Hauptzielen und nur beiläufig zu den intendierten Nebeneffekten der Entwicklung von Ganztagsschulen gehört, ist in der zugehörigen Theorie- und Konzept-Debatte viel mit den Stichworten ‚Partizipation’, ‚Mitbestimmung’ oder ‚Beteiligung’ argumentiert worden:

  • Mit ‚Demokratie‘ ist bisher in inhaltlich-methodischer Hinsicht begründet worden, dass sich die Subjekte zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten entfalten können müssten (siehe z.B. Scherr 2004). Dieses Argument ist m. E. zutreffend, aber nicht hinreichend, um Ganztagsbildung demokratietheoretisch zu begründen.
  • Mit ‚Demokratie‘ ist in struktureller Hinsicht begründet worden, dass durch eine aufgeschobene Selektion im Bildungswesen die Chancengleichheit erhöht werden müsse (siehe z. B. Sünker 2004).
    Auch diese Bedingung ist notwendig, aber ebenso wenig hinreichend.

Hinreichend werden m. E. diese beiden Argumente, wenn sie durch ein drittes ergänzt werden: Unter demokratischen Aspekten muss außerunterrichtliche/-schulische Pädagogik aufgrund ihrer formalen Organisationsprinzipien eine signifikante Rolle in ganztägigen Bildungsarrangements spielen: Denn durch ihre Prinzipien der Freiwilligkeit, Selbstorganisation und Mitbestimmung, durch die Wahl von Ehrenämtern und Formen von interner und lokaler Öffentlichkeit, schließlich durch die Verbürgung von Teilhaberechten, füllt die außerunterrichtliche Kinder- und Jugendbildung die systematisch unüberbrückbaren Demokratie-Lücken der Schule – und zwar erst recht, wenn die beiden erstgenannten Argumente hinzukommen.

 

Demokratietheoretische Grundlegung der Ganztagsbildung

John Dewey, der Inspirator fast aller demokratischen Grundlegungen von Erziehung und Bildung, sieht Demokratie vorrangig als eine Form gemeinsamen Lebens mit geteilten Erfahrungen:

„Democracy is a mode of associated living, of conjoint communicated experience“ (Dewey 1916/1966: 87).

Diese Lebensweise sei nicht angeboren, müsse daher in jeder Generation wieder neu belebt werden, und lasse sich anhand von zwei Kriterien überprüfen, die die Wesensverwandtschaft von „Democracy und Education“ markierten:

„How numerous and varied are the interests which are consciously shared? (…)
How full and free is the interplay with other forms of associations“ (ebd.: 83)?

Die Maßstäbe für demokratische Bildungsgesellschaften sind also eine möglichst große Vielfalt artikulierter Interessen und ein möglichst reiches Zusammenspiel zwischen zahlreichen Institutionen.
Der gegenwärtige schulpädagogische Beitrag zu dieser Lebensweise liegt meiner Ansicht nach im Erreichen, Betreuen und ‚Belehren’ aller Heranwachsenden für eine lange Zeit sowie in der Gewährleistung formalisierter Integrationsmöglichkeiten. Die Pflichtschule ist unverzichtbar „in ihrer Funktion, eine Grundbildung für alle zu sichern: Teilnahme am politischen Prozeß setzt Literalität, setzt Fähigkeit zur Informationsbeschaffung, setzt elementare Urteilskraft voraus“ (Tillmann 2003: 315). Darüber hinaus liegen große Vorteile der Ganztagsschule unbestreitbar in den ausgeweiteten Möglichkeiten, Lernleistungen zu steigern sowie Sprachförderung und Erziehungsarbeit zu leisten. Ein gewichtiger Nachteil ist – und bleibt auch in Zukunft – die Verlängerung des zweckrationalen Handelns vom Arbeitsmarkt über Noten und Abschlüsse bis in die Klassenräume.

Der sozialpädagogische Beitrag zur steten Neubelebung der Demokratie liegt in der Erreichbarkeit und ggf. Betreuung von Heranwachsenden und in der Gewährleistung inhaltlicher Integrationsmöglichkeiten. Darüber hinaus ist das Freiwilligkeitsprinzip der Kinder- und Jugendarbeit unverzichtbare Rahmenbedingung für die evtl. bildungswirksame Selbstorganisation von Kindern und Jugendlichen und die Institutionalisierung verständigungsorientierten Handelns. Ein gewichtiger Nachteil ist die informell wirkende Selektivität der Angebote; außerschulische Pädagogik erreicht in jedem Fall nicht alle Kinder und Jugendlichen.
So gesehen sind alle genannten Institutionen aufgrund ihrer systematischen Grenzen in komplementärer Weise aufeinander angewiesen, wenn man von Demokratiebildung sprechen will.

Hinsichtlich der Trägerschaft für das Ganztags-Arrangement favorisiert das Theorie-Konzept der Ganztagsbildung aus demokratietheoretischen Erwägungen eine vereinsrechtliche. Innerhalb dieser Trägerschaft sollte das schulische, vorwiegend ausbildende Segment wie bisher kommunal getragen und anhand landeshoheitlicher Bildungsstandards gesteuert werden, um primär für eine möglichst hohe Bildungsgerechtigkeit zu sorgen. Das außerschulische, vorwiegend nicht-formelle Segment sollte – wie bisher – entweder kommunal oder vereinsrechtlich getragen sein und dem Subsidiaritätsprinzip unterliegen, um die Selbstorganisationskräfte der Zivilgesellschaft möglichst lebendig zur Geltung kommen zu lassen. Durch eine solche Institution könnte es gelingen, in einer zugleich demokratischen und kapitalistischen Gesellschaft adäquate Aus- und Identitätsbildung für Kinder und Jugendliche in ganztägiger Form auf kooperativer Basis anzubieten.

 

Ausblick auf die zukünftige Forschung

Partizipation in Ganztagsschulen ist bisher kaum erforscht: Zwar liegt die Evaluation des BLK-Programms „Demokratie leben und lernen“ vor,  jedoch ohne besondere Auswertung von Ganztagsschulen; zwar gibt es zahlreiche gute Anregungen und Ideen für die praktische Beteiligung an (Ganztags-)Schulen,  jedoch keine Forschung dazu. Dabei hat sich insbesondere der frühere GEW-Vorsitzende Dieter Wunder (2006) in einer Expertise ausführlich mit den Möglichkeiten demokratischen Lernens in Ganztagsschulen beschäftigt.

Um diese Forschungslücke ansatzweise zu schließen, untersuchen Prof. Hans Brügelmann, die Doktorandin Anna Lena Wagener und ich (Universität Siegen) im Rahmen einer empirischen Expertise für die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) seit Juni 2008 die Gelegenheitsstrukturen und Gestaltungskulturen von Schülerpartizipation in Ganztagsschulen:

  • Strukturen im Unterricht (verschiedene Formen des Unterrichts mit unterschiedlichen Selbstbestimmungsniveaus) im Vergleich zum außerunterrichtlichen Bereich (Mittagessen; Förderung, Betreuung, Freizeit)
  • Kulturen im Unterricht im Vergleich zur Mittags-/Förder-/Betreuungs- oder Freizeit.

Als indirekt zu erhebende Kontrastfolien sehen wir die Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Familien und in der außerschulischen Bildung im Hort, Verein/Verband, in den Medien und den Peergrous.
Untersuchungsgegenstand der Studie sind 10-12 Grundschulen in drei Bundesländern, davon jeweils 5-6 rhythmisierte und additiv strukturierte Ganztagseinheiten (d. h. einzelne Klassen, Jahrgangszüge oder ggf. ganze Schulen). Deren Arbeit und Erfahrungen werden mehrperspektivisch erschlossen; im Vordergrund steht dabei die Perspektive von Kindern (differenziert nach Geschlecht, Schicht und Migrationslage).
Hintergrund ist die Annahme, dass sich rhythmisierte und additive Ganztagsschulen (evtl. qua Trägerschaft) bzw. Halbtags- und Ganztagsschulen hinsichtlich ihrer Partizipationsstrukturen und -kulturen deutlich unterscheiden. Deren besondere Potenziale und jeweilige Schwierigkeiten werden dokumentiert.
In dem Forschungsprojekt arbeiten wir sowohl mit hypothesenprüfenden als auch mit rekonstruktiven Forschungsmethoden:

  • explorative Interviews mit Schulleitern
  • standardisierte Fragebögen für Schüler, Lehrer, Schulleiter, weiteres pädagogisch tätiges Personal und Ganztagskoordinatoren
  • thematisch fokussierte Leitfadeninterviews mit Schülern und Ganztagskoordinatoren.

Alle Auswertungen werden im Sinne einer partizipativen Sozialforschung an die Befragten zurückgespiegelt.
Ziel des Projekts ist es, Möglichkeiten und auch Grenzen der Demokratiebildung in unterschiedlichen Ganztagsmodellen aufzuzeigen. Daraus könnten Empfehlungen ableitbar sein, die relevant sind für die Praxisentwicklung ganztägiger Einrichtungen sowie für kommunal-, landes- und bundespolitische Impulsprogramme.

 

Literatur

  • Arnoldt, Bettina (2007a): Öffnung von Ganztagschule. In: Holtappels u. a., S. 86-105.
  • Arnoldt, Bettina (2007b): Kooperationsformen – Bedingungen für gelingende Zusammenarbeit?. In: Holtappels u. a., S. 123-136.
  • Appel, Stefan (1998): Handbuch Ganztagsschule, Konzeption, Einrichtung und Organisation. (in Zusammenarbeit mit Georg Rutz). Schwalbach: Wochenschau.
  • Bettmer, Franz (2008): Partizipation. In: Coelen/Otto, S. 213-221.
  • BMBF 2003 = Bundesministerium für Bildung und Forschung (2003): Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern zum Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB). Berlin.
  • Bracker, Rosa/Riekmann, Wibke (2008): Jugendvereins- und -verbandsarbeit. In: Coelen/Otto (Hg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Das Handbuch. Wiesbaden: VS, S. 457-466.
  • Coelen, Thomas (2002): Kommunale Jugendbildung. Raumbezogene Identitätsbildung zwischen Schule und Jugendarbeit, Frankfurt a. M. u. a.: Lang.
  • Coelen, Thomas (2006): Ausbildung und Identitätsbildung. Theoretische Überlegungen zu ganztägigen Bildungseinrichtungen in konzeptioneller Absicht, in: Oelkers/Otto (Hg.): Zeitgemäße Bildung. Herausforderungen für Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik, München und Basel: Reinhardt, S. 131-148.
  • Coelen/Otto (Hg.) (2008): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Das Handbuch. Wiesbaden: VS.
  • Dewey, John (1916/1966): Democracy and Education. An Introduction to the Philosophy of Education, New York: Free Press.
  • Fatke, Reinhard/Schneider, Helmut (2005): Kinder- und Jugendpartizipation in Deutschland. Daten, Fakten, Perspektiven, Gütersloh.
  • Hansen, Rüdiger/Knauer, Raingard/Friedrich, Bianca (2004): Die Kinderstube der Demokratie. Partizipation in Kindertageseinrichtungen, Kiel.
  • Holtappels, Heinz Günter/Klieme, Eckhard/Rauschenbach, Thomas/Stecher, Ludwig (Hg.) (2007): Ganztagsschule in Deutschland. Ergebnisse der Ausgangserhebung der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG). Weinheim: Juventa.
  • Klieme, Eckhard/Abs, Hermann Josef/Diedrich, Martina (2004): Evaluation des BLK-Modellprogramms. De-mokratie lernen und leben .Erster Bericht über die Ergebnisse der Eingangserhebung 2003. Frankfurt a. M.: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung.
  • Oelkers, Jürgen (2004): Gesamtschule und Ganztagsschule – Politische Dimensionen des deutschen Bildungswesens. In: Otto/Coelen (Hg.): Grundbegriffe der Ganztagsbildung. Beiträge zu einem neuen Bildungsverständnis in der Wissensgesellschaft. Wiesbaden: VS, S. 221-246.
  • Richter, Helmut (2000): Vereinspädagogik. Zur Institutionalisierung der Pädagogik des Sozialen. In:
  • Müller, Siegfried/Sünker, Heinz/Olk, Thomas/Böllert, Karin (Hg.): Soziale Arbeit. Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle Perspektiven. Neuwied: Luchterhand, S. 154-164.
  • Richter, Helmut/Coelen, Thomas/Peters, Lutz/Mohr, Elisabeth (2003): Handlungspausenforschung – Sozialforschung als Bildungsprozess. Aus der Not der Reflexivität eine Tugend machen. In: Oele-rich/Otto/Micheel (Hg.): Empirische Forschung und Soziale Arbeit. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Wein-heim: Luchterhand, S. 45-62.
  • Scherr, Albert Gesellschaftspolitische Bildung – Kernaufgabe oder Zusatzleistung der Jugendarbeit? In: Otto/Coelen (Hg.): Grundbegriffe der Ganztagsbildung. Beiträge zu einem neuen Bildungsverständnis in der Wissensgesellschaft. Wiesbaden: VS, S. 167-179.
  • Sliwka, Anne (2008): Demokratiepädagogik in der Ganztagsschule. In: Coelen/Otto (Hg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Das Handbuch. Wiesbaden: VS, S. 694-703.
  • Sturzenhecker, Benedikt (2008): Demokratiebildung in der Jugendarbeit. In: Coelen/Otto (Hg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Das Handbuch. Wiesbaden: VS, S. 703-713.
  • Sünker, Heinz (2004): Sozialpädagogik und Ganztagsbildung. In: Otto/Coelen (Hg.): Grundbegriffe der Ganztagsbildung. Beiträge zu einem neuen Bildungsverständnis in der Wissensgesellschaft. Wiesbaden: VS, S. 199-202.
  • Wunder, Dieter (2006): Ganztagsschule und demokratisches Lernen. In: Beiträge zur Demokratiepädagogik. Eine Schriftenreihe des BLK-Programms „Demokratie lernen & leben“ (hrsg.  v. Wolfgang Edelstein und Peter Fauser), Berlin.

Eine frühere Fassung dieses Beitrag ist erchienen in: Backhaus, Axel / Knorre, Sabine (in Zusammenarbeit mit Hans Brügelmann und Elena Schiemann) (Hg.): Demokratische Grundschule – Mitbestimmung von Kindern über ihr Leben und Lernen. Universität Siegen, 2008, S. 262-267.

Autor:
Coelen, Thomas, PD Dr. phil., Vertretung einer Professur für Sozialpädagogik an der Universität Siegen; Leiter des Kommunalpädagogischen Instituts in Hamburg (www.kopi.de)
E-Mail: coelen@erz-wiss.uni-siegen.de

Datum: 24.07.2008
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