Chancen für Vielfalt

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DKJS/ D. Ibovnik

Nicht nur für die Teilnehmer aus den Verbünden in Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein, auch für den Regionalverbund Berlin war es ein ungewohnter Weg zum Veranstaltungsort „Atrium“, einer Jugendkunstschule im Märkischen Viertel. Ort und Agenda der Veranstaltung verliehen dem abwechslungsreichen Programm den letzten dramaturgischen Pfiff, fanden sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Treffens doch im Theatersaal des Atriums wieder.

Herkunft der Schüler – chancenreicher Normal- oder ein Problemfall?

Das war eine der Fragen, die sich die Recherchegruppe um Christoph Leucht, Soziologe mit Erfahrung in interkulturellen Projekten, stellte. Im Auftrag der RAA Berlin befragte das Team von Juni 2007 bis April 2008 Ganztagsschulen, Serviceagenturen und Migrantenorganisationen, um Entwicklungsbedarfe für interkulturelle Bildung zu identifizieren. Ein besonderer Entwicklungsbedarf kristallisierte sich zu fünf Fragekomplexen heraus, die schwerpunktmäßig im Themenatelier bearbeitet werden:

  • Wie können Ganztagsschulen der kulturellen Vielfalt im Schulalltag und im Unterricht gerecht werden?
  • Wie können Ganztagsschulen mit unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen ihrer Schülerinnen und Schüler angemessen umgehen?
  • Wie sind Eltern mit Migrationshintergrund zu beteiligen?
  • Wie verhindert man, dass Übergänge zu Brüchen führen?
  • Wie können Ganztagsschulen erfolgreich mit Migrantenorganisationen zusammenarbeiten?

Die diagnosegestützte Sprachförderung weist nach den Auswertungen der Arbeitsgruppe das größte Defizit auf, berichtete Christoph Leucht. Eine seiner Empfehlungen lautet, „Ethnisierung von kultureller Vielfalt vermeiden, Rassismus und Nivellierung nicht zulassen“.

 

Das deutsche Bildungssystem lebt von Selektion

Diesem Statement hat Professor Dr. Georg Auernheimer, emeritierter Erziehungswissenschaftler der Universität Köln, eine Menge entgegenzusetzen. Der Experte für interkulturelle Pädagogik  setzt stattdessen auf Bildungsgerechtigkeit, Wertschätzung und Anerkennung multikultureller Vielfalt. Dazu gehört für ihn vor allem, dass Elternhaus und Schule sich schon im Vorfeld über ihre gegenseitigen Erwartungen verständigen („Home-School-Agreement“). Denn „Kommunikationsstörungen entstehen – nicht nur bei
interkultureller Kommunikation – durch divergente Erwartungen, die zu Erwartungsenttäuschungen führen“.

Anhand eines Praxisbeispiels verdeutlichte Georg Auernheimer die Gesichtspunkte für eine interkulturell orientierte Ganztagsschule. Schon im Leitbild und Schulprogramm einer Ganztagsschule sollten Bildungsgerechtigkeit, Anerkennung von Minderheiten (an vielen Berliner Schulen müsste man eher von Mehrheiten sprechen), Anerkennung anderer Kulturen, Sprachen und Religionen verankert sein. Ressourcen- statt Defizitansatz, Gemeinwesenorientierung und das Verständnis von Schule als lernender Organisation sind weitere Ingredienzien für eine Schule, die Vielfalt akzeptiert und fördert. Schon „kleine Anerkennungserlebnisse“, wie das Beherrschen von ein „paar Brocken einer anderen Sprache“, führen zu einem wertschätzenden Umgang miteinander.

Heterogen versus homogen

„Klassen sind immer heterogen, wir täuschen uns Homogenität nur vor“, stellte der Pädagoge klar. Er plädiert daher für eine integrative Unterrichtsorganisation, die leistungsheterogene Lerngruppen jahrgangsgemischt und arbeitsteilige Formen kooperativen Lernens bewusst einsetzt. Sprachförderung müsse lerndiagnostisch gestützt sein, damit die Zweisprachigkeit entsprechende Würdigung erhalte. Eine „zweisprachige koordinierte Alphabetisierung“ ist für Auernheimer unabdingbar, um überhaupt eine Sprache zu beherrschen.

Zentralen Stellenwert räumt er der Elternarbeit ein. Hier plädiert er ergänzend für sprachhomogene Elternabende, um Migranteneltern erst einmal überhaupt in die Schule zu bringen. Sprachhomogene Elternabende lieferten das Stichwort für die anschließende lebhafte Diskussion. Ob man damit nicht wieder bei Segregation statt Integration gelandet sei, will ein Teilnehmer wissen. „Migrantenkolonien haben eine Brückenfunktion, wir haben damit gute Erfahrungen gemacht: Erstens ist die Elternbeteiligung höher und zweitens stimulieren sie zu weiterer Partizipation“, wissen andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu berichten.

Mit Eltern sprechen

Ziel des ersten bundesweiten Netzwerktreffen war das Kennenlernen und der Austausch der Beteiligten in den drei Regionalverbünden. Ein Ergebnis der Präsentationen sei vorweggenommen: Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen in den drei Bundesländern haben alle denselben Themenschwerpunkt gewählt: die Verbesserung der Elternbeteiligung.

Tanja Klockmann von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Schleswig-Holstein stellte ihren Verbund vor. In ihm arbeiten vier Ganztagsschulen verschiedener Schularten mit der Migrantenorganisation „Türkische Gemeinde Schleswig-Holstein“ und dem außerschulischen Partner „Aktion Kinder- und Jugendschutz“ im Rahmen des Themenateliers zusammen. Mit monatlichen Netzwerktreffen sorgt die Serviceagentur für regen Austausch. Neben Einzelaktivitäten wie zweisprachige Webseiten der Schulen, Kursen für Mütter und Kinder, Literaturprojekten und vielem mehr, hat sich der Verbund die „Ausbildung von Elternlotsen“ als gemeinsames Vorhaben zum Ziel gesetzt. Die Lotsen, Eltern mit und ohne Migrationshintergrund, sollen als Multiplikatoren, als „Türöffner“ wirken, „um andere Eltern mit ins Boot zu holen“.

Cup der Vielfalt

heißt die gemeinsame Projektidee, die Mirko Murk, Lehrer und Moderator des Verbundes Mecklenburg-Vorpommern, präsentierte. Der Sportevent soll in ein Stadtteilfest eingebunden und von Ausstellungen und einem Kulturprogramm flankiert werden. Die Jungen kicken, die Mädchen kämpfen um den Volleyball; selbst gewählte Ländergruppen, Lehrer- und Elternteam treten gegeneinander an. „Diese Veranstaltung hat den Vorteil, dass Sprachbarrieren keine Rolle spielen“, berichtet Mirko Murk.

Im Verbund Mecklenburg-Vorpommern arbeiten ein Gymnasium, eine Regionale Schule, eine Integrierte Gesamtschule mit der Migrantenorganisation „Dien Hong – Gemeinsam unter einem Dach e. V.“,
mit dem Jugendmigrationsdienst der Arbeiterwohlfahrt und der Serviceagentur Mecklenburg-Vorpommern zusammen. Die Einzelaktivitäten des Verbundes weisen ein breites Spektrum auf: vom „Tag der Kulturen“, über Elternsprechtage mit Übersetzern bis hin zur Sprachförderung und Förderkursen für Schülerinnen, Schüler und Eltern.

Schulentwicklung durch Elternpartizipation

fördern, lautet das Ziel des Berliner Verbundes, in dem sich fünf Ganztagsschulen, darunter zwei Förderschulen, drei interkulturelle Einrichtungen und die Berliner Serviceagentur zusammenfinden. Manuela Zahradnik, Moderatorin der Gruppe, stellte als gemeinsames Projekt die Mediatorenausbildung vor. Die speziell mit interkultureller Kompetenz ausgebildeten Mediatoren sollen drei Jahre, drei Tage in der Woche, in der Schule „als Brückenbauer, als Elternlotsen“ zum Einsatz kommen. Geplant ist eine Zertifizierung der Maßnahme durch den Berliner Senat, die über die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen des Kombilohn-Modells finanziert wird.

In der sich anschließenden Zusammenfassung durch Professor Dr. Georg Auernheimer und Diskussion ernteten die Projektskizzen viel Anerkennung. Besonders das Anknüpfen an bereits vorhandene Initiativen, vorhandenem Potenzial und Aktivitäten der Vertrauensbildung hob er positiv hervor. In einmaligen, punktuellen Events sieht er jedoch die Gefahr, dass sie nicht nachhaltig genug wirken könnten. Er warnte auch vor einem Kulturalismus von „Tagen fremder Kulturen – à la jetzt starren wir mal auf euch“.

Fließt durch Berlin die Spree oder das Spray?

Setzt man sich auf eine Bank, um Geld zu holen, oder geht man zu einer Bank, um das Gleiche zu erledigen? Finde ich einen Schatz aus Gold und Silber oder meinen Bräutigam, meinen Schatz? Das sind Fragen, die vor allem, aber nicht nur, Kinder mit Migrationshintergrund beschäftigen, weiß Professor Dr. Kristin Wardetzky von der Universität der Künste, Berlin, aus der über zweijährigen Projekterfahrung „Erzählen und Spielen“ in einer Grundschule zu berichten. Ihr quicklebendiger Beitrag, gefolgt von dem eindrucksvollen Vortrag des Märchens „Töpfchen koche, Töpfchen stehe“ von einer der Erzählerinnen des Projekts, Sabine Kolbe, Fabuladrama e. V., bildeten den Höhepunkt und Abschluss des kurzweiligen Tages.

Im September 2005 startete der Modellversuch zur Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund an der Anna-Lindh-Grundschule, in der 98 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund aus 27 Nationen lernten. Das Projekt zeigte Ergebnisse, die selbst die hoch gesteckten Erwartungen übertrafen. Professionelle Erzählerinnen (nicht zu verwechseln mit Vorleserinnen) erzählten Schülerinnen und Schülern der 1. und 2. Klasse über zwei Jahre internationale Märchen. Viele Schulanfänger konnten im Sprachstandstest zu Beginn ihrer Schulkarriere die einfachsten Wörter der deutschen Sprache nicht verstehen. Nach einem Jahr der Teilnahme an dem Modellversuch erzählten sie umfangreiche Märchen nach und erfanden selbst berührende Geschichten. Aus Zuhörern wurden Erzähler, die Sprache als Schlüssel zur Welt erlebten.

Es war einmal

das erste bundesweite Netzwerktreffen des Themenateliers „Ganztagsschule der Vielfalt“. Donnernder Applaus war der Dank der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Treffens an die Vortragenden und an die Gesamtmoderatorin des Ateliers, Maria Rosa Zapata de Polensky, für eine Veranstaltung, die Märchen und Visionen ein wenig Wirklichkeit werden lässt.

 

Von: Cornelia Alban

 

Datum: 21.12.2008