Das Gymnasiums Links der Weser in Bremen
Kinder wohlhabender Familien wissen in der Regel besser um die Bedeutung der Gesundheit als Kinder aus bescheidenen finanziellen Verhältnissen. Beim Bremer Gymnasiums Links der Weser steht das Wohlbefinden aller Mädchen und Jungen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft im Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit. Warum sich ausgerechnet das Projektlernen und der Klassenrat dazu eignen, zeigt die Reportage.
Mächtig liegt das Schulzentrum Obervieland an einem Bach, der sich vor dem Gelände zu einem Teich erweitert. Der etwa 200 Meter lange Schulkomplex gehört zum Bremer Stadtteil Kattenturm. Neben dem Gymnasium Links der Weser sind noch zwei Schulen untergebracht. Die Bremer Soziologin Marianne Papke, 63, bezeichnet den Ort als einen „Stadtteil mit Entwicklungsbedarf“. Es gibt hier Papke zufolge kein richtiges Stadtzentrum und noch keinen nennenswerten Jugendtreff. Bei einem Schulkomplex, der von außen gesehen an eine Lernfabrik erinnert, kommt es umso mehr auf das pädagogische Wirken an.
„Das Wohl der Schülerinnen und Schüler bzw. die Förderung ihrer Bildung und Erziehung stellen für uns zentrale Ziele dar“, heißt es im Programm des Gymnasiums Links der Weser – Ungleichheit soll gemindert und Armut bekämpft werden. „Wenn wir nicht auf das Wohl der Kinder und Jugendlichen achten, werden wir sie nicht zu guten Abschlüsse führen“, erläutert Schulleiterin Christina Westphal-Akhzarati. Insbesondere der Projektunterricht trage zum Wohlfühlen der Schülerinnen und Schüler bei, weil sie erwiesenermaßen leichter in Zusammenhängen lernten.
Der Projektunterricht beginnt am Gymnasium Links der Weser in der 5. Jahrgangsstufe. Er betrifft die Fächer Geschichte, Biblische Geschichte, Politik, Geographie und Naturwissenschaften. Das Jahrgangsteam 6 plant den Unterricht fächerübergreifend – im Austausch mit einer Steuergruppe, die dabei ist, das Schulprogramm fortzuschreiben. Auf dem Stundenplan der Fünft- und Sechstklässler sind sieben Stunden Projektunterricht ausgewiesen. Das deckt sich in etwa mit der Forderung von Otto Herz. Dem Psychologen zufolge ist eine Ganztagsschule, in der das Projektlernen nicht einen wesentlichen Raum einnimmt – mindestens 20 bis 30 Prozent – keine gute Ganztagsschule. Mit Gesundheit beschäftigen sich Schülerinnen und Schüler explizit im Projektunterricht ab der 6. Jahrgangsstufe – das Thema ist auch im Bildungsplan des Landes Bremen festgeschrieben.
Projekte – lernen wie die Erwachsenen
Die Tür zum Klassenzimmer der Sechstklässler geht auf. Vor der Tafel trägt eine Mädchengruppe die Ergebnisse ihrer Projektarbeit vor. Als Zuschauer sind Eltern eingeladen: „Wo beginnt die Verdauung? Wie sieht der Magen aus? Der Magen ist eine muskulöse Tasche. Magensaft tötet die meisten Krankheitserreger ab“, erklärt die zwölfjährige Roaja. Als sie mit ihrer kurzen Präsentation fertig ist, kommt Sapna an die Reihe, die erklärt, was es mit Zwölffingerdarm, Blinddarm und Leber auf sich hat. Danach hat Finja die Aufgabe, zu erzählen, wie Dick- und Dünndarm arbeiten, und Sahra, wie viele Muskeln der menschliche Körper hat und wie sie ihn in Bewegung setzen. Die Präsentation der Gruppe ist genau einstudiert.
Die Mädchen halten sich bei ihren Vorträgen an ihren Karteikarten fest, führen Poster oder auch echtes Anschauungsmaterial vor. Wie ein Vorturnen beansprucht die Präsentation ihre volle physische und psychische Gegenwart. „Präsentieren ist so wie die Angst, bei einem Schwimmwettbewerb die Chlorbrille zu verlieren“, sagt die elfjährige Janna. Lynn findet es ähnlich spannend, wie ein Geburtstagsgeschenk auszupacken: „Was ist in dem Geschenk drin? Wie kriegen es die anderen Gruppen hin?“ Auf die Eltern übertragen sich Spannung und Energie – sie hören gebannt zu. „Mein Bruder fand es toll“, sagt Sapna. Eltern und Geschwister erleben die Kinder in neuen Rollen und als Teil von etwas Größerem. Der Gruppenvortrag verstärkt die Wirkung auf die Zuhörer ähnlich wie aufeinander abgestimmte Instrumente in einer Band.
Gesundheit mit nach Hause nehmen
Und die geistige Auseinandersetzung mit der Gesundheit bleibt nicht folgenlos. Kerstin, die sich im Projekt mit der Verdauung beschäftigt, diskutiert regelmäßig mit den Eltern über die Ernährung bei Tisch. „Es fühlt sich gut an, Bescheid zu wissen“, sagt die Sechstklässlerin. Mitschüler Roman ist kritischer sich selbst gegenüber geworden: „Cola trinke ich gerne, aber sie ist ganz ungesund, weil da ganz viel Zucker oder Süßstoffe drin sind.“ Laut der Schulleiterin Christina Westphal-Akhzarati macht das beim Projektlernen erworbene Wissen die Kinder kritisch gegenüber ungesunden Ernährungsgewohnheiten ihrer Eltern.
Doch zur Kür gehört die Pflicht. Und Pflichtprogramm im Projektunterricht ist die einführende Theoriephase, erklärt Christian Michel, 30, Lehrer für Mathematik und Physik. Das Projektlernen anzuleiten, die Gruppendynamik zu lenken, ist offenbar nicht die leichteste Übung für Pädagogen. Es sei schwierig, den Projektunterricht so zu planen, dass kein Kind überfordert oder unterfordert werde, so der junge Lehrer. Und gerade bei der Verteilung der Themen gäbe es immer Unterthemen, die unbeliebt seien. „In der praktischen, kreativen Phase beschäftigen sich die Schüler viel lieber mit dem Thema, weil sie dann selbst entscheiden können, in welche Richtung sie gehen.“ Doch alle Phasen des Projektlernens sind gleich wichtig, auch wenn die „handwerkliche Phase“, bei der die Mädchen und Jungen etwa Poster oder Ernährungspyramiden herstellen, besonders fesselnd ist. Gesundheit, das spüren die Kinder, ist keine graue Theorie, sondern geht sie unmittelbar an.
Stimmungen und Stimmen
Um ihr Wohlbefinden, ihre Stimmungen und Stimmen geht es auch im Klassenrat, der in allen fünften und sechsten Klassen montagmorgens einberufen wird. Die Moderation liegt in der Hand der Kinder. Erwachsene – eine Lehrkraft und ein Sozialpädagoge oder eine Sozialpädagogin – wachen darüber, dass alle zu Wort kommen und Regeln eingehalten werden. Sie achten auch darauf, dass Beschlüsse und Lösungen der Schülerinnen und Schüler verwirklicht werden. Schulleiterin Westphal-Akhzaratis Wunsch ist, dass der Klassenrat zu den älteren Jahrgängen „hochwächst“. „Bei Klassen, die ihn weiterführen, entwickeln sich soziale Kompetenzen besser“, sagt sie.
Leider gibt es in Bremen, das bei PISA im Vergleich zu anderen Bundesländern bisher unterdurchschnittliche Ergebnisse erreichte, nicht wenige Pädagoginnen und Pädagogen, die Angst davor haben, sich mit ihrem Unterricht bloßzustellen. Sie beugen sich dem Leistungsdruck und stellen Fachunterricht über Partizipation. Für sie ist der Klassenrat entbehrlich. Dem hält Westphal-Akhzarati entgegen: „Wenn man will, dass eine Klasse hinsichtlich des Wohlbefindens gut aufgestellt ist, muss man die ersten Schritte im Klassenrat gehen.“ Der Klassenrat stärkt wie der Projektunterricht die Zugehörigkeit zur Lerngruppe, ist ein Resonanzkörper für Stimmungen und ein Ventil für angestaute Emotionen. Er kostet natürlich Zeit. Aber er tut allen gut.