Der Schulcampus Rostock-Evershagen

Der schulische Leistungsdruck strapaziert die Nerven und belastet die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern. Bei Freizeitangeboten, die sie selbst anleiten, können die Lehrkräfte des Schulcampus‘ Rostock-Evershagen in eine neue Rolle  schlüpfen und ihre Schüler mal ganz anders kennenlernen.

Lange, schier endlose Straßen umfassen uniforme fünf-, zehn-, elf- und zwölfstöckige Wohnblöcke in Rostock-Evershagen. Säuberlich abgegrenzte Grünflächen, Asphalt und Plattenbauten beherrschen das Bild der Stadt. Die Straßen tragen Schriftstellernamen. Zwischen der Bertolt-Brecht-Straße und der Thomas-Morus-Straße liegt der Schulcampus Rostock-Evershagen.

Gefragt, wie es ihr im Schulcampus gehe, sagt die Fünftklässlerin My, die ihre Pause mit einer Gruppe auf dem Hof vor der gläsernen Aula verbringt: „Ganz geil. Wir sind alle miteinander befreundet.“ Einige Schritte weiter steht eine Gruppe Jugendlicher. Die 14-jährige Pauline verabschiedet gerade einen Jungen. Umarmung, Küsschen links, Küsschen rechts, ein festes Ritual unter den Jugendlichen. Es drückt laut Pauline aus, dass man sich mag. „Ich gehe gerne zur Ganztagsschule, weil ich mich zuhause langweilen würde. Und weil ich sehen kann, wie sich die Mitschüler entwickeln, wie aus dem Girlie ein Heavy-Metal-Fan wird.“ Ihre Mitschülerin Sandra, 15, meint gar: „Wir sind eine große Familie.“

Das positive Schulklima hängt mit der Ganztagsschule zusammen. Denn laut Gerald Tuschner, dem Leiter des Schulcampus‘ Rostock-Evershagen, tragen diejenigen ganztägigen Angebote am meisten zum Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler bei, die den regulären Unterricht ergänzen oder begleiten. „Schüler und Lehrer lernen sich dort in anderer Form als im bewerteten Regelunterricht kennen“, erklärt der Schulleiter.

Rechtliche Rahmenbedingung ist, dass Mecklenburg-Vorpommern den Ganztagsschulen nach einem bestimmten Schlüssel Lehrerstunden zuweist. Bei 660 Schülern der Jahrgangsstufen 5 bis 10 kann sich der Schulcampus vom Land genau 66 Lehrerstunden anrechnen lassen. Immer noch zu wenig, findet Tuschner. Infolgedessen legt die Schulleitung die Bestimmungen des Landes „kreativ“ aus und nutzt das gemeinsame Potenzial von Wahlpflichtunterricht, Förderangeboten und Ganztagsstunden – als selbstständige Schule, die in eigener Regie ein Budget verwalten und den Unterricht gestalten darf, sei das rechtlich machbar.

Regeln? Verhandlungssache!

Für den Freizeitbereich wie für den Unterricht gilt ein „Normen- und Wertekatalog“. Lehrer haben den Katalog gemeinsam mit Eltern- und Schülervertretung verhandelt, als die alte Regionale Schule und das Ostseegymnasium zum heutigen Schulcampus Rostock-Evershagen fusionierten. Die Gesprächspartner identifizierten Schnittstellen zwischen den Schulprogrammen der alten Schulen. Schließlich einigten sie sich auf einen Grundstock an Werten und Regeln. Die Schülerseite legt Wert auf Gleichbehandlung durch Lehrer und nachvollziehbare Vergabe von Noten, etwa „die sorgfältige und durchschaubare Korrektur der Schülerlösungen.“ Der Lehrerseite ist unter anderem der gute Kontakt zu Kindern und Jugendlichen wichtig.

Beim Schulcampus Rostock-Evershagen machen die meisten Lehrerinnen und Lehrer aus ihrem Hobby ein Freizeitangebot und leiten etwa eine AG. Die vielfältigen Interessen der Lehrerinnen und Lehrer bringen dabei Abwechslung und Bewegung in den Schultag: Tanz-AG, Sport-AG, Theater und Darstellendes Spiel, Schulband, Kreatives Gestalten, naturwissenschaftliches Forschen, Mensch und Gesundheit, Schülerfirma, Jahrbuch des Schulcampus‘. In den AGs müssen die Lehrkräfte, gewissermaßen freihändig fahren, ohne sich auf Noten als „Strafen“ stützen zu können: „In Fragen, die das Schulleben betreffen, und in der AG treten Lehrer und Schüler als gleichberechtigte Partner in Kontakt. Die Lehrer sind keine Autoritätspersonen“, sagt Tuschner. Die meisten Lehrkräfte sind dazu bereit, jedoch nicht alle.

An die Regel des „gemeinsamen respektvollen Lernens und Vorlebens“ hält sich auch der Schulleiter, wenn er die Foto-AG mit dem Ziel anbietet, dass die Schüler einerseits die digitale Kamera besser kennenlernen, andererseits ihre Umgebung neugierig erkunden.

„Ich bringe erst einmal eine Idee ein, mit der wir alle beginnen“, sagt der 55-jährige. Die AG-Teilnehmer nehmen den Faden auf, entwickeln dann eigene Ideen und gehen eigene Wege. Einmal ließ er die Schüler kleine Dinge im Schulgelände möglichst groß aufnehmen, so dass sie außergewöhnlich aussahen: „Sie entdeckten Pflanzen und eine Reihe von Gegenständen im Schulgelände, die ihnen vorher nicht aufgefallen sind.“ Die Gleichberechtigung und die Identifikation mit der Tätigkeit verändern die Beziehung zur Umgebung und die Beziehung zueinander: „Es kommt immer wieder vor, dass mich die Schüler auf einmal duzen“, sagt Tuschner.

Zeit füreinander –  jenseits der Selektion

 „In der AG finden Schüler und Lehrer schneller zueinander, weil nicht die Frage im Raum steht: Will ich das überhaupt oder will ich das nicht?“, so Tuschner. Für das Schulklima ist es außerdem günstig, dass der Ganztag in Freizeitangeboten Schüler der Regionalen Schule und des Gymnasiums zusammenführt. „Hier gehen alle Kinder und Jugendlichen unabhängig ihrer Sortierung nach Schulformen gleichberechtigt ihren Interessen nach“, erläutert der Schulleiter. Auch Schüler, die im Unterricht nicht viel miteinander anzufangen wüssten, fänden über ihr gemeinsames Hobby leichter einen Zugang zueinander. Zum Freizeitangebot gehört auch betreutes Lernen von Oberstufenschülern für Jüngere und zahlreiche Angebote von außerschulischen Kräften.

Vorteilhaft für tragfähige Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern ist ferner die Rhythmisierung des Schultags. Denn statt das zeitliche Fallbeil im 45-Minutentakt sinken zu lassen, setzt der Schulcampus als gebundene Ganztagsschule auf mehrere zeitliche Blöcke zu je 90 Minuten. Ihre Pausen verbringen die Kinder und Jugendlichen tobend im Hof und auf Schulwiesen, sie hängen in der Cafeteria ab oder klemmen sich in der Lese-Lounge hinter Zeitungen. Die Möglichkeit zu informellen Gesprächen beeinflusst das Schulklima positiv.

Doch ausgerechnet in der Mittagspause ist der klassenübergreifende Austausch schwierig. Weil die Räumlichkeiten es laut Tuschner nicht erlauben, dass alle Ganztagsschüler zur gleichen Zeit am Mittagessen teilnehmen, ziehen jüngere und ältere Jahrgänge zu unterschiedlichen Zeiten in die Mensa. Kontakte, die sich in Freizeitkursen angebahnt haben, versanden. „Die jetzige Lösung ist eine tolle Verwaltungslösung“, so der Schulleiter. Im Zuge des Projektes „Gut geht’s. Psychische Gesundheit an Ganztagsschulen“, das gemeinsam mit der Serviceagentur „Ganztägig Lernen“ Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt wird, sollen Erholungsphasen von Schülern und Lehrern untersucht und neu terminiert werden, so dass Gesprächshindernisse fallen. Das Projekt ist laut Michael Thoß, Mitarbeiter der Serviceagentur, über den Personalrat in die Schule eingeführt worden: „Ein guter Weg, das ganze schulische Personal einzubinden.“
 

Schulart

: Schulzentrum: Kooperative Gesamtschule – Regionale Schule und Gymnasium unter einem Dach

Schülerzahl insgesamt: ca. 760

Profil der Schule: Berufs- und Studienorientierung, Europabildung, Bildung für Nachhaltigkeit

Teamzusammensetzung: Jahrgangsteam in der Orientierungsstufe (Klasse 5 und 6)

Ganztagsschulausprägung: gebundene Ganztagsschule, Anzahl der Schüler im Ganztag: ca. 760

Kooperationspartner: 15

01.11.2012