Zu Besuch im Lernbüro
Eine Reportage von Christine Plaß
Eine Reportage von Christine Plaß
„Wir entscheiden, wann wir einen Test schreiben“, sagt Anna selbstbewusst. Die Siebtklässlerin ist Schülerin an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ), wo die Klassenzimmer in Lernbüros umfunktioniert wurden und sie jeden Tag selbst bestimmt, ob sie Mathe oder Deutsch lernen wird. „Reform-Schule mit radikalem Wandel der Lernkultur“ hat sich die ESBZ auf ihre Fahnen geschrieben, und was das im ganz normalen Schulalltag bedeutet, sieht sich heute eine große Delegation aus Thüringen an. Sie besteht aus Lehrer/innen, Mitglieder von Schulleitungen, einem Mitarbeiter aus dem Thüringer Bildungsministerium und Koordinatoren des „Thüringer Bildungsmodells – Neue Lernkultur in Kommunen (nelecom)“. Sie wollen individuelle Lernformen für ihre Schulen entwickeln und Kindern und Jugendlichen mehr Verantwortung und Mitentscheidungsmöglichkeiten an die Hand geben. Vom Besuch in Berlin erhoffen sie sich Anregungen für ihre Arbeit. Als erstes schauen sie sich die Lernbüros an. Es gibt sie für die Fächer Deutsch, Natur und Gesellschaft, Englisch und Mathe. Die Schüler gehen in das Lernbüro ihrer Wahl für die ersten zwei Schulstunden. Mindestens einmal pro Woche soll es Englisch sein.
Im Mathematik-Büro berichtigt Lucas gerade einen Test, den er letzte Woche geschrieben hat. Jede Lerneinheit, die sie bearbeiten und die hier Baustein genannt wird, schließt mit einem Test ab, den die Schüler dann machen, wenn sie sich bereit dafür fühlen. Tischnachbar Max (12 Jahre) hat die Prüfung schon letzte Woche bestanden. Eine Note gab es nicht. Stattdessen hat die Lehrerin auf Max´ Zertifikat geschrieben: „Du hast Dich im Fach Mathe erfolgreich mit dem Thema Terme auseinandergesetzt. Du hast gelernt, was Variablen sind. Mir fällt auf, dass du gut neue Themen verstehst. Ein Punkt, an dem du noch arbeiten kannst: Erinnere die Regeln genauer. Außerdem möchte ich sagen, dass dein Test ganz toll war“. Max hat schon viele Zertifikate in Mathe und will sich in Zukunft stärker um Geografie kümmern. Am Anfang der siebten Klasse mussten sie sich an die neue Art des Lernens gewöhnen und haben 14 Tage für einen leichten Baustein gebraucht. Mittlerweile schaffen sie ihn in fünf Tagen. Sie mögen die Arbeit im Lernbüro. Max findet: „So macht Schule viel mehr Spaß!“. Lucas ergänzt: „In der Grundschule haben die Lehrer den schlechten Schülern immer alles erklärt und wir anderen haben uns gelangweilt. Hier müssen die Lehrer den Kindern einzeln helfen“.
Ihre Schulleiterin Margret Rasfeld kann sogar gehirnphysiologisch erklären, warum den beiden Lernen so mehr Spaß macht: „Schon die Aussicht auf Gesehen werden feuert die neuronalen Belohnungssysteme an. Wir lernen über die gute Beziehung“, sagt Rasfeld. Normale Schule sei eher beziehungszerstörend angelegt. Keine Zeit für Zuwendung, zu viele Schüler, wechselnde Lehrer. Deshalb hat an ihrer Schule jede Klasse zwei Klassenlehrer, die jeweils 13 Schüler als Tutor betreuen. Der Stundenplan sieht vor, dass möglichst viel Unterricht im Klassenverband stattfindet. Je nachdem, ob die Klassenlehrer auch noch ein Fach der Lernbüros unterrichten, sind es bis zu 18 Stunden in der Woche. Ein anderer wichtiger Faktor für Motivation ist die Möglichkeit, wählen zu können. Die Lernarrangements gewährleisten, dass gute Beziehungen aufgebaut werden und es trotzdem Wahlmöglichkeiten gibt. Doch wie man kontrolliert man, ob die Schüler wirklich lernen?, wollen die Besucher aus Thüringen wissen. Anna zeigt ihr Logbuch in die Runde. Jeder Schüler trägt dort täglich ein, in welchem Lernbüro er war und was er dort gemacht hat. Einmal pro Woche treffen sich Schüler und Tutoren, um die nächste Woche zu planen und die vorherige zu besprechen. Die Tutoren schreiben ein Feedback ins Lernbuch, das auch von den Eltern eingesehen und unterschrieben wird. In Bilanz- und Zielgesprächen mit Tutor und Eltern, die einmal im Halbjahr stattfinden, setzen sich die Schüler neue Vorhaben. Rasfeld beruhigt: „Das ist keine unendliche Freiheit, die die Logbücher bieten. Die Themen sind festgelegt, der Lernerfolg wird dokumentiert. Und wenn jemand zu lange braucht, sitzt der Tutor dahinter“. Doch wer schneller ist, wird nicht aufgehalten. Manche Achtklässler bearbeiten schon den Stoff von Jahrgang 9.
Das geht umso leichter, als die Klassen ohnehin jahrgangsgemischt sind. Schüler/innen vom 7. bis zum 9. Schuljahr lernen gemeinsam. Je größer die Unterschiedlichkeit ist, umso eher kann das Zusammen leben gelernt werden, ist man hier überzeugt. Dabei lernen nicht nur die Kleinen von den Großen. Heterogenität gehört auch zum Konzept der Berliner Gemeinschaftsschulen, von denen die ESBZ eine ist. Es sind Gesamtschulen mit individueller Förderung, in denen alle Schüler/innen von der Lernbehinderung bis zur Hochbegabung gemeinsam lernen und an denen alle Schulabschlüsse möglich sind. Die ESBZ verzichtet dabei ganz auf äußere Differenzierung: Keine A- oder B-Kurse, keine Gymnasial- oder Realschulklassen, keine Noten bis zum neunten Jahrgang. Stattdessen gehört Binnendifferenzierung zum Konzept, was bedeutet, dass der Unterricht auf die Neigungen und Fähigkeiten der einzelnen Kinder zugeschnitten ist. Das Abitur gibt es hier erst nach 13 und nicht schon nach 12 Jahren. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb hat die ESBZ regen Zulauf aus bildungsaffinen Schichten, die ihren Nachwuchs sonst auf Gymnasien schicken. „Die Kinder sagen: Ich will hier hin, hier darf man sich engagieren“, begründet Rasfeld die Beliebtheit ihrer Schule, die sie schon „klonen“ könnte, so viele Anmeldungen gibt es bereits.
Vier Stunden in der Woche gehen die Schülerinnen und Schüler in den Werkstätten Musik, Kunst, Bewegung, Forschen oder Technik ihren Interessen nach. Am Mittwoch Nachmittag ist Zeit für Verantwortung. „Partizipation fällt ja nicht vom Himmel, das muss ich ja erst einmal lernen“, ist Margret Rasfeld überzeugt. Und weil man die nur im Leben und nicht aus Büchern lernt, gehen Schüler/innen des Jahrgangs 7 und 8 am Mittwoch Nachmittag aus der Schule in die Zivilgesellschaft. Die Lehrer/innen besuchen die Schüler/innen an ihren selbst gewählten Projektorten und lernen so ihr Gemeinwesen besser kennen. Die Projekte sind so vielfältig wie die Ideen der Kinder. Schüler bieten einen Computerkurs für Senioren an. Schülerinnen besuchen ein Kind mit Rheuma. Andere gestalten Freizeit mit Behinderten oder engagieren sich in der Schülerfirma. Sie verkauft umweltfreundliches Papier zu günstigen Preisen an Mitschüler und Lehrer und klärt über Mogelpackungen auf, die sich Umweltfreundlichkeit auf die Fahnen schreiben, aber es nicht sind. Für Margret Rasfeld ist das zivilgesellschaftliche Engagement nicht nur Herzensangelegenheit, sondern eine Methode, Schüler/innen die Erfahrung zu ermöglichen, etwas bewirken zu können. Nach ihrem Verständnis gehört es zur Kernaufgabe von Schule, Demokratie und Verantwortung zu vermitteln. Selbstwirksamkeitserfahrungen sind ein wichtiges Element von Demokratierziehung, doch es gibt noch mehr. Im Klassenrat üben sich die Schüler in Basisdemokratie. In der Schulversammlung, die sie moderieren und vorbereiten, lernen sie ihre Stimme zu erheben und in einer großen Gruppe zuzuhören. Eines der schönsten Rituale der Schulversammlung ist das öffentliche Loben. Der 13-jährige Jakob erklärt, wie es vor sich geht: „Jeder darf jeden loben. Ziemlich oft wird der Hausmeister gelobt. Wenn man gelobt wird fühlt man sich gut, weil jedes Mal geklatscht wird. Das ist schon cool“. 10 bis 20 Personen werden jedes Mal gelobt. Schüler, die sich besonders für andere engagiert haben, Lehrer, die eine gute Idee hatten, oder eben der Hausmeister. Außerdem werden in der Schulversammlung Missstände angesprochen, Projekte vorgestellt, Gruppen gegründet und wichtige Fragen diskutiert. Weil man nicht genug loben kann, gibt es zusätzlich einmal im Jahr die Auszeichnungsversammlung, in der die leistungsstärksten und die sozial engagiertesten Schüler/innen und nicht zuletzt die Aufsteiger des Jahres besonders gewürdigt werden. Den Tutoren macht es ziemlich viel Arbeit, diese Texte zu schreiben, aber wenn sie sie dann vorlesen, macht ein Blick in die Augen ihrer Schüler die Mühe mehr als wett. Als bewegendstes pädagogisches Erlebnis haben einige Lehrer die Auszeichnungsversammlung genannt. Die Schüler bekommen die Auszeichnungen auch als schriftliches Zertifikat, das sie späteren Bewerbungen beilegen können.
Als Jakob von seiner Herausforderung erzählt, liegt Skepsis und Erstaunen in den Gesichtern der Thüringer. Am Anfang des letzten Schuljahres ist Jakob mit zwei anderen Jungen mit dem Fahrrad nach Münster gefahren. Weil die drei noch nicht volljährig sind, begleitete sie ein Student. Jeden Abend suchten sie sich einen anderen Ort, wo sie schlafen durften, nicht selten waren es Gärten von wildfremden Menschen, an deren Haustür sie geklingelt hatten. In Münster angekommen suchten sich die Teenager jeden Tag eine weitere kleine Herausforderung: Sie rodeten Kartoffeln oder jäteten Unkraut gegen Geld oder etwas zu Essen. Einer drehte während der drei Wochen einen Film, ein anderer schrieb Tagebuch. Zurück in Berlin präsentierten sie den Eltern und Klassenkameraden ihr Abenteuer. Was viele Eltern ihren Kindern nicht einmal in den Ferien erlauben würden, gehört an der ESBZ zum Pflichtprogramm. Drei Wochen Zeit für Schüler, in denen sie etwas tun, was sie noch nie getan haben und eine echte Herausforderung für sie darstellt. Rasfeld gibt zu: „Es war vor allem eine Herausforderung für die Eltern. Dabei ging nie darum, ob man drei Wochen Schulzeit dafür investieren darf, denn es ist ja belegt, wie sinnvoll das ist. Es ging einfach darum, dass Eltern es zu gefährlich fanden“. Viele Gespräche waren nötig. Spätestens als ihre Kinder wie verwandelt zurück kamen, waren auch die letzten überzeugt. „Selbst unsere Leistungsstärksten haben gesagt: Ich habe noch nie so viel gelernt“, berichtet Rasfeld. Für nächstes Jahr kursieren schon die ersten Ideen. Zwei Jungen wollen in ein Kloster in die Berge gehen, erst am Mönchsleben teilnehmen und dann ganz allein im Wald von Beeren und Kräutern leben. Zwei Mädchen fahren auf den Storchenhof, wo sie verletzte Störche pflegen. Andere wandern in Norwegen durch die Wildnis. Nur Berlin ist verboten, sie sollen nicht bei den Eltern schlafen und auch nicht jeden Tag mit ihnen telefonieren. „Wie Sie das finanzieren?“, möchten die Thüringer wissen. Sie haben die Klassenfahrten gestrichen und investieren das Geld in die selbst gewählten Abenteuer. „Nein“, sagt Rasfeld noch einmal, als weitere Nachfragen kommen: „Dass die Eltern es nicht erlauben, ist keine Option. Die Herausforderung gehört zu unserem Schulprogramm“.
Im Kino, wie sie hier den Raum mit dem Klappstühlen nennen, berichtet Rasfeld vom Ethos ihrer Schule und zeigt Bilder aus den vielen Projekten. „Wenn man keine Haltung, keinen Geist lebt, ist der heimliche Lehrplan anders als der offizielle“, weiß Rasfeld aus langjähriger Schulerfahrung. Der Ethos der ESBZ heißt Agenda 21. Sie ist ein Handlungsprogramm für das 21. Jahrhundert und wurde von 178 Nationen unterschrieben. Schule im Geist der Agenda 21, das bedeutet Kinder mit Freude an sozialer und ökologischer Verantwortung zu erziehen. Schülerinnen und Schüler heranbilden, die um ihre Stärken wissen und weder überfordert noch unterfordert, sondern herausgefordert werden. Weil Vorbilder inspirieren, laden sie regelmäßig Menschen in ihre Schule ein, die etwas bewegt haben. 2008 trafen sie den Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus und gestalteten mit ihm das Buch „Jugendliche fragen Yunus“. In Zukunft wollen Schüler/innen selbst Geld sammeln und Mikrokredite vergeben. Vorbilder können auch andere Kinder sein wie zum Beispiel der Schüler Felix Finkbeiner, der „Plant for the Planet“ ins Leben rief. Er ruft dazu auf, eine Million Bäume in jedem Land der Erde zu pflanzen. Die Schülerinnen und Schüler der ESBZ haben ihm 100.000 Bäume versprochen und begannen einen Klimawald in Berlin-Pankow zu pflanzen. Um andere Schulen für ihr Ziel zu gewinnen, bilden sie Grundschulkinder zu Klimabotschaftern aus. Schülerinnen und Schüler reisen durch ganz Europa und sogar bis nach Los Angeles, um über das Projekt zu berichten. Weil die Thüringer davon wussten, haben sie eine Geldspende für die Bäume mitgebracht. Rasfeld ermutigt sie, das Engagement auch an ihre Schulen zu tragen: „Sie können überall einsteigen! Nehmen Sie Postkarten mit, dann können sie mitmachen“. Als die Thüringer am späten Mittag die Schule wieder verlassen, strahlen sie mit der Sonne um die Wette. Jutta Brenn, Schulleiterin einer Regelschule, ist fasziniert, wie an der ESBZ Schüler mit Förderbedarf mit anderen Schülern zusammenarbeiten. Ray Wille von der Serviceagentur „Ganztägig Lernen“ in Thüringen äußert sich zufrieden: „Wir haben hier viele Anregungen für unsere Schulen bekommen. Interessant war vor allem das Lernbüro“. Projektorientiertes Lernen ist ein Ziel der Schulen in Thüringen, deshalb freut Wille besonders, dass sie die Gelegenheit hatten, sich von den Schülern zeigen zu lassen, wie sie ein Logbuch führen und wie die Rückmeldung von den Lehrern erfolgt. Wille ist überzeugt: „Die werden nicht allein gelassen“. Doch das wohl größte Lob kommt von einem, der sagt: „Ich war erst kritisch, aber es hat sich gelohnt“.
Autorin: Christine Plaß
02.02.2014