Wie sieht die Arbeit an einer Ganztagsschule konkret aus? Haben Lehrkräfte einen größeren methodischen Gestaltungsspielraum? Muss man wirklich länger arbeiten? Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den Professionen? Verändert sich die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern oder zu den Eltern? Eine Lehrerin, eine Erzieherin und ein Lehrer von Ganztagsschulen aus Thüringen berichten über Präsenzzeiten, Logbücher und Hausaufgaben.
Diana Richter ist Erzieherin an einer offenen Ganztagsschule in Erfurt.
Jürgen Noth ist Lehrer an einem offenen Ganztagsgymnasium Meuselwitz.
Dagmar Schach ist Lehrerin an einer jungen Gemeinschaftsschule in Altenburg.
Viele Lehrerinnen und Lehrer fürchten die längeren Präsenzzeiten an Ganztagsschulen. Was sagen Sie denen?
Noth: Ich glaube nicht, dass die Präsenszeiten an Ganztagsschulen wirklich immer länger sind als an einer Halbtagsschule. An unserem Gymnasium müssen wir um 15.10 Uhr Schluss machen. Dann fährt der letzte Bus in die umliegenden Dörfer. Die Zeit, die ich als Lehrer in der Schule verbringe, hat sich seit dem Start unseres Ganztagsangebots 2007 nur unwesentlich verändert, das Lernen aber ganz wesentlich. Schule bis 16 Uhr wäre ein Traum! Aber das können wir leider personell und materiell nicht leisten.
Schach: Ich verbringe schon mehr Zeit in der Schule als früher. Aber ich bekomme alles, was ich investiere, von den Schülern doppelt und dreifach zurück. Die Rolle des Lehrers verändert sich im Ganztag. Man ist nicht mehr nur diejenige, die den Stoff vermittelt, sondern bekommt ein ganz anderes Verhältnis zu den Kindern.
Richter: Bei uns im Hort arbeitet zurzeit eine Kollegin als Erzieherin, die auf ihr Referendariat wartet. Die sagte neulich, das könne sie eigentlich allen Lehrkräften nur empfehlen, um den Tunnelblick zu vermeiden. Außerhalb des Unterrichts bekommt man einen ganz anderen Kontakt zu den Kindern, das ist viel familiärer. Als Erzieherin bin ich ja so eine Art von „Ersatzmutti“.
Herr Noth, Sie sagten, der Ganztag verändere das Lernen ganz wesentlich. Was heißt das genau?
Noth: Wir haben den gesamten Tagesablauf geändert. Es gibt jetzt Doppelstunden, und das führt zu komplett anderen Lernbedingungen. Wir können ganz andere Methoden nutzen, es gibt Zeit für Gruppenarbeit und auch für Projektarbeit.
Schach: Freiarbeit braucht einfach mehr Zeit. Auch wir haben als erstes die 45-Minuten-Taktung aufgehoben, und der Blockunterricht führt ganz automatisch zu einem veränderten Angebot. Als Lehrer kann und muss ich mir andere Aktivitäten überlegen, um den Unterricht attraktiv zu gestalten.
Von Erziehern hört man manchmal, dass sie von Lehrern nicht gleichberechtigt behandelt werden. Wie funktioniert die Zusammenarbeit?
Richter: Bei uns ist das eine sehr partnerschaftliche Arbeit. Die Lehrerin, mit der ich ein Team bilde, und ich teilen viele Ansichten. An unserer Schule wird sehr darauf geachtet, dass sich jeder Lehrer mit seinem Erzieher gut versteht. Wenn ich mich mit Lehrern unterhalte, sind die dankbar für jeden Hinweis. Umgekehrt gilt natürlich dasselbe. Deswegen sind feste Teamzeiten auch so wichtig.
Noth: Man braucht einfach andere Professionen, die einem helfen, und die auch mal andere Anstöße geben.
Schach: Ja, auch als positives Vorbild! Uns hilft eine Bürgerarbeiterin in den Klassen fünf und sechs. Sie unterstützt uns auch bei der Aufsicht, und das ist eine große Entlastung.
Welche Rolle spielen außerschulische Lernorte?
Schach: Eine ganz große. Wir haben verschiedene Kooperationen, zum Beispiel mit dem Schloss Altenburg. In diesem Jahr haben wir die wissenschaftliche Arbeit in den Vordergrund gestellt und uns die Bibliothek angeschaut und das Stadtarchiv. Oder wir versuchen, unsere Sechstklässler so fit zu machen, dass sie Erstklässlern eine Ausstellung im Museum zeigen können. Die Möglichkeit, die Schule mal zu verlassen und an anderen Orten zu lernen, finde ich ganz wichtig. Da lernt man andere Leute kennen, andere Professionen, eine andere Gesprächskultur.
Ist das im offenen Ganztagsangebot auch möglich?
Richter: Auf jeden Fall. Ich war mit meinem Mädchenclub gerade bei einer Lesung. Wir gehen aber auch ins Museum, ins grüne Klassenzimmer des Erfurter Garten-und Freizeitparks, in den Zoo oder ins Puppentheater. Besonders in den Ferien sind wir natürlich viel unterwegs.
Welche Vorteile hat der ganztägige Unterricht für Ihre Schülerinnen und Schüler?
Richter: Jeder kann seine Stärken ein bisschen besser ausspielen. Die Kinder entscheiden, was ihnen liegt und was sie wann machen möchten. Wir können im Freizeitbereich verschiedene Angebote machen und die Kinder wählen aus, wann oder ob sie etwas nutzen möchten. Es ist nicht die ganze Gruppe gezwungen, an ein und demselben Angebot teilzunehmen. Dass den Kindern die offene Arbeit gefällt, sehen wir ja an den Anmeldezahlen. Von Jahr zu Jahr wollen mehr Kinder auch nach Schulschluss im Hort bleiben und die vielfältigen Angebote nutzen.
Schach: Ich beobachte, dass der Ganztag gerade schüchternen, unauffälligen Schülerinnen und Schülern gut tut. Die hatten auf einmal Erfolgserlebnisse: Der eine kann toll Gedichte vortragen, die nächste besonders gut tanzen oder war bei einer Ausstellung aktiv. So haben sie viel Lob und Wertschätzung erhalten, auch wenn vielleicht die Schwäche in Mathe nach wie vor besteht. Das hat dazu geführt, dass sich manche jetzt in relativ kurzer Zeit unglaublich entwickelt haben.
Was hat Sie selber überrascht bei der Umstellung auf ganztägigen Unterricht?
Richter: Wie selbständig unsere Kinder sind! Wie gut sie mit der offenen Arbeit klar kommen, wie schnell sie sich zurechtfinden. Sie holen sich ihr Essen mittags selber an der Theke ab, sie bewegen sich alleine im Schulhaus – ich dachte, das gibt das totale Chaos, aber alles funktioniert.
Noth: Auch unseren Kindern gefällt das einfach! Sie kommen gern und bleiben auch gern länger. Denen, die nicht den Schulbus nehmen, muss man manchmal wirklich sagen: „Es ist jetzt 15.30 Uhr, wir müssen jetzt den Schulhof zuschließen.“ Auch das Feedback der Eltern ist sehr positiv, wir haben Zustimmungsquoten von bis zu 80 Prozent. Unsere Schülerzahl hat sich fast verdoppelt.
Das Interview führte Beate Köhne, freie Journalistin, Berlin.