Vernetzen, austauschen und voneinander lernen: Darum ging es bei der Open-Air-Veranstaltung „Frische Luft – Frische Impulse“ von „LiGa – Lernen im Ganztag“ am 15. Juni 2022 in Berlin.
Wer in Berlin Party machen und die Subkultur der Hauptstadt kennenlernen möchte, fährt zum RAW-Gelände in Friedrichshain. Auf einem ehemaligen Eisenbahngelände sind Clubs, interkulturelle Projekte und Bars in alte Industriegebäude und kreativ umgestaltete Holzschuppen gezogen. Am Morgen des 15. Juni streifen die letzten Party-Touristen auf dem Weg ins Bett über die stillgelegten Schienen, unterhalten sich auf Englisch und Spanisch. Der helle, große Aufsteller vor einem der Clubs, dem Treehouse, fällt auf: „Qualität gemeinsam entwickeln.“ Das Plakat mag in seiner Förmlichkeit nicht so recht in das unsanierte Areal passen. Aber die etwa 70 Teilnehmenden, die aus verschiedenen Bundesländern angereist sind, sind hier genau richtig. Schulleitungen und -aufsichten, Vertreter:innen von Bildungsverwaltungen und Landesinstituten treffen sich im Treehouse zu der Open-Air-Veranstaltung „Frische Luft – Frische Impulse“ des Programms „LiGa – Lernen im Ganztag“.
Regenwaldfeeling für neue Blickwinkel
Drinnen empfängt sie ein grünes Kleinod. Ein riesiger Baum mit weit ausladender Krone bildet das Zentrum des Gartens, um ihn herum gruppieren sich Holztische aus Euro-Paletten, die Bar, ein großer Wintergarten und dahinter der sogenannte Grüne Salon. In den Räumen hängen Kunstpflanzen von den Decken, die Wände sind mit grüner Botaniktapete verkleidet, selbst auf der Toilette mit tropischen Vogelstimmen hat man das Gefühl, mitten in einem Regenwald zu stehen. Man schaltet sofort einen Gang runter. Und genau das ist beabsichtigt. „Wir haben diesen Tagungsort bewusst ausgewählt, um eine besondere Arbeitsatmosphäre zu schaffen, mal raus aus dem stressigen Alltag, um hier konzentriert zu arbeiten und Themen aus neuen Blickwinkeln zu betrachten“, erklärt die Programmleiterin Anna Margarete Davis von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS).
Die Teilnehmenden kommen langsam an, unterhalten sich bei Kaffee und Frühstücks-snacks, bis die Smokin‘ Feetz – eine Tanzgruppe der Gemeinschaftsschule Heinrich-Heine in Halle – unter einem großen Sonnensegel mit ihrem Hip-Hop-Dance die Veranstaltung eröffnet. Die sichtlich stolze Schulleitung Mandy Rauchfuß sagt nach der Vorführung: „Man sieht, wie dieses Projekt das Selbstbewusstsein, die Freude und Achtsamkeit miteinander fördert. Ich brenne für die Gemeinschaftsschule und das hier ist eins der tollen Ergebnisse.“
BeSa: Mit welchem Beratungsverständnis agieren Schulaufsichten?
Nach einer Begrüßung der Programmleiterin starten die Workshops. Dabei können die Teilnehmenden je nach Interesse zwischen drei Themensträngen wählen: Resilienz & Wohlbefinden, Schulentwicklung & Ganztag und Steuerungshandeln & Schulaufsicht. Im Freien geht es auf dem Sonnendeck um Ganztagsangebote und Kooperationen, im Wintergarten dreht sich alles um das Thema Gesunde Schule und im Grünen Salon stellt Prof. Raphaela Porsch erste Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „BeSa“ (Beratende Schulaufsicht) vor, das im LiGa-Expert:innenrat initiiert wurde. Gemeinsam mit Prof. Falk Radisch und der DKJS geht sie in dem Projekt der Frage nach, mit welchem Beratungsverständnis Schulaufsichten agieren. Dazu werden Mitarbeitende der Schulaufsicht und deren Leitungen interviewt. Hintergrund ist, dass die Beratung von Schulleitungen als neues Handlungsfeld der Schulaufsicht bislang kaum erforscht wurde.
In dem Workshop greift Prof. Raphaela Porsch einige Antworten aus den Interviews heraus und verdeutlicht, dass die Qualifizierungsbedarfe und -angebote im Beratungsbereich von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich sind. Am Ende wirft sie die Frage nach einem Kompetenzrahmen auf und die Teilnehmenden des Workshops plädieren dafür, einheitliche Standards für die Qualifizierung der Mitarbeitenden in der Schulaufsicht zu schaffen. „Ganz wichtig ist, dass wir dabei die Ganztagsschule mitdenken, da sie das entscheidende Instrument für Chancengerechtigkeit ist“, betont dabei Astrid Geschwind, schulfachliche Dezernentin für die Sekundar- und Gesamtschulen der Bezirksregierung Köln. Nach dem Workshop sagt sie im Gespräch: „Eine Tagung wie diese hier kann Themen sichtbar machen und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit von Schulleitungen und Schulaufsicht fördern. Und was ich zudem sehr spannend finde: Wir können hier unsere Erfahrungen aus der Praxis mit den Ergebnissen der Wissenschaft abgleichen, uns austauschen und gemeinsam neue Fragen aufwerfen.“
Vielfältiges Workshop-Angebot: Vom Umgang mit Zeit bis schüler:innenzentrierte Leitung
Während in der zweiten Workshop-Runde im Wintergarten die Srcum-Methode für agile Schulentwicklung vorgestellt wird, berichtet der Journalist und Fotograf Oliver Lück von seiner Europatour mit dem Bulli und vor allem mit seinem Umgang mit Zeit. „Mich hat der Workshop zum Nachdenken über die Bedeutung von Zeit in meinem beruflichen Kontext gebracht und mich daran erinnert, wie wichtig es ist, sich in Momenten der Hektik zu sagen: Komm, fahr mal ein bisschen runter“, antwortet Hans Stäcker, Referatsleiter für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Schleswig-Holstein auf die Frage, was er aus diesem Workshop mitgenommen habe. Und ergänzt: „Der tolle Ort hier vermittelt eine Stimmung, die zum Austausch einlädt. Wir alle bearbeiten die gleichen Themen aus unterschiedlichen Perspektiven und nehmen neue Impulse für unsere Arbeit mit.“
Auf dem Sonnendeck im Freien geht es derweil um schüler:innenzentriertes Leitungshandeln. Ausgehend von dem Student-Centered Leadership-Ansatz der neuseeländischen Wissenschaftlerin Viviane Robinson haben sich der Schulleiter Christian Bornhalm und die Koordinatorin Kirsten Stechmann der Klaus-Groth-Gemeinschaftsschule in Kiel die Mühe gemacht, ihr konkretes Handeln anhand der Führungs-Dimensionen dieses Modells aufzuzeigen. Sie berichten aus ihrer Praxis, wie sie versuchen, ihr Handeln immer an den Bedürfnissen der Schüler:innen auszurichten. Zur Sprache kommen dabei auch die besonderen Herausforderungen wie Ressourcenknappheit und die Schwierigkeit, dass das Kerngeschäft – die Gestaltung guten Unterrichts – bei der Vielzahl von Aufgaben aus dem Blickfeld geraten kann. Das bestätigen auch einige der Schulleitungen, die an dem Workshop teilnehmen. „Der Unterricht gerät oft aus dem Fokus der Schulentwicklung, da alle, die an Schulen arbeiten, ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie Kinder lernen und wie sie gut lernen. Es ist aber ganz wichtig, sich über Standards zu verständigen. Ob Kinder gut lernen, darf nicht allein von der Lehrkraft abhängen. Und dafür ist auch der Austausch von Schulleitungen und Schulaufsicht, wie er im LiGa-Programm stattfindet, enorm wichtig“, sagt Sabine Henseler, Schulleiterin der Gesamtschule Lohmar in Nordrhein-Westfalen. Nach den Workshops gibt es eine wohlverdiente Mittagspause – mit Essen, Yoga im Schatten und Musik einer Percussionband der Neuköllner Gemeinschaftsschule Campus Efeuweg, die mit dem Verein Vincentino kooperiert.
LiGa als „Katalysator“ für Austausch und Vernetzung
Nach dem Essen sagt Dr. Sören Messerschmidt, schulfachlicher Referent des Landesschulamts Sachsen-Anhalt in einer Pausenunterhaltung: „Unsere Bildungslandschaft ist immer noch recht traditionell aufgestellt und hierarchisch organisiert. Die obersten Schulbehörden arbeiten an Richtlinien, sind aber oft nicht so nah dran an den Schulen. Und auch die Wissenschaft agiert oft für sich. Wir müssen uns viel mehr austauschen und LiGa ist dafür ein sehr guter Katalysator. Wir alle bekommen hier ein Podium, eine Art ‚herrschaftsfreien‘ Raum und Zeit, zueinander zu kommen.“
Am Nachmittag geht es draußen im Freien um sogenannte Kompassgespräche – schüler:innengeführte Elterngespräche, in denen die Stärken und individuellen Fähigkeiten im Fokus stehen. Im Wintergarten dreht sich alles um agile Schulentwicklung, also darum, wie eine Schule sich als aktive und wandlungsfähige Institution stetig weiterentwickeln und mit neuen Herausforderungen flexibel umgehen kann. Die Teilnehmenden des Workshops hören dabei aus dem nebenan liegenden Grünen Salon ungewöhnlich viel Gelächter. Dort zeigt die Humortrainerin Katrin Hansmeier sehr anschaulich, dass Humor eine wichtige Ressource sein kann, um ab und zu etwas mehr Leichtigkeit in den Arbeitsalltag zu bringen. „Lachen entspannt, verbindet und macht uns handlungsfähig“, gibt sie den Teilnehmenden für deren oft herausfordernden Arbeitsalltag mit auf den Weg.
An Schule gemeinsam etwas bewegen
Bei Kaffee, Smoothies wie Ganztags-Ninja oder Resilienz-Shooter und süßen Snacks tritt der Poetry Slamer Jesko Habert mit seiner Sicht auf die Berliner Schullandschaft auf. Danach geht es in die letzte Arbeitsphase. Schüler:innenzentriertes Schulaufsichtshandeln steht auf dem Programm und die Dietrich-Bonhoeffer-Schule aus dem hessischen Rimbach berichtet von der Entwicklung ihres Ganztagsangebots. Der dritte Workshop beschäftigt sich mit der kooperativen Leitung im Ganztag. Karsten Wutschka von der Technischen Universität Dortmund zeigt die Potenziale und Stolpersteine auf, die entstehen können, wenn die Leitung einer Ganztagsschule kooperativ gestaltet ist. Sofort entspinnt sich eine Diskussion unter den Teilnehmenden über Vorteile wie auch Hindernisse – zum Beispiel Nachhaltigkeit, höhere Identifikation oder rechtliche Hürden.
Nach dem Ende der Workshops machen sich die ersten Teilnehmenden auf die Heimreise, andere tauschen sich bei einem letzten Kaffee im Freien weiter miteinander aus. Beim Hinausgehen zieht Fatih Özbay, Medien-Koordinator an der Gesamtschule Bad Driburg in Nordrhein-Westfalen, sein Fazit des Tages. „Es gab unheimlich viele gute Impulse, wie wir es schaffen können, dass Schule im Heute ankommt. Der Tag war eine echte Horizonterweiterung für alle, die an Schule etwas bewegen möchten.