Jugendarbeit an der Ganztagsschule

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DKJS/ D. Ibovnik

Bildung kann nicht allein von Schule übernommen werden. Auch die Jugendhilfe leistet einen Beitrag zum produktiven Austausch von Kind und Welt. Doch worin liegen die zentralen Kompetenz- und Aufgabenfelder der Jugendarbeit? Welche Rolle kann Jugendarbeit in der Ganztagspädagogik einnehmen und wie gestaltet sich gute Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern?

Auch Akteure der Jugendarbeit stehen angesichts leerer Kassen der Kommunen zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Können Jugendarbeiter/innen hinreichend angeben, wie sie Bildungsprozesse anregen und mit welchem Ziel? Gibt es dafür gar ein Konzept? Sicherlich ist nicht jedes Billardspiel zwischen Mark und Alex eine Bildungsleistung oder auch „nur“ ein Beitrag zum interkulturellen Lernen.
Bildung aus Sicht der Jugendarbeit ist zum Beispiel ästhetischer Ausdruck, Suche nach eigenen gültigen Werten, umfasst auch Selbstexperimente: Wer bin ich? Was kann ich? Wie will ich mich entwerfen? Was passt zu mir – als Lebensstil, Outfit, Körperausdruck? Bildungsprozesse als Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte und Lebenssituation können nicht erzwungen werden, aber man kann sie bewusst ermöglichen, man kann Gelegenheiten schaffen. Das geschieht nicht im Nebenbei des pädagogischen Alltags, sondern bedarf der zielgerichteten Überlegung. Verantwortungsübernahme oder Toleranz lassen sich schlecht allein und erfahrungsreduziert über Büchern erproben. Gefragt ist deshalb handlungsgestütztes Lernen. Wenn Jugendarbeit über ein eigenes Bildungsverständnis verfügt, kann zweifellos von festerem Boden aus mit Schulen kooperiert werden.

Die Gesellschaft der Zukunft wird sein

  •  eine Wissensgesellschaft, in der die Eigenmotivation und das selbstgesteuerte Lernen zunehmend bedeutsam sind;
  • eine Risikogesellschaft, in der in einem Ungewissheitsklima die Biographien ständig umgebaut und neuerfunden werden müssen und trotzdem Identität zu wahren ist;
  • eine Gesellschaft mit einem Überhang an Älteren, in der sich Generationenfragen und auch Sorgethemen zwischen Alt und Jung neu stellen;
  • eine Arbeitsgesellschaft, deren Konturen erst vage erkennbar sind, die aber regelmäßige Berufswechsel und erhöhte Mobilität erfordern wird;
  • eine Zivilgesellschaft, die vielseitige Formen von Aushandlung, informierter Teilhabe, Kooperation, Engagement im Nahraum benötigt;
  • eine Einwanderungsgesellschaft, in der Menschen verschiedener Herkunft, Religion, Kultur und Tradition im Respekt vor dem Fremden und Anderen integriert, wo Kontikte balanciert, Vorurteile überwunden werden müssen (Münchmeier 2003).

Einigkeit zwischen Jugendhilfe und Schule

Diese könnte dahingehend entstehen, wenn durch Kooperation die Anforderungen gemeinsam bewältigt werden, um die  Interessen von Jungen und Mädchen qualifzierter zu bearbeiten. Was spricht dafür?

  • Bildungsqualität und Bildungseffekte wird gesteigert,
  • soziale Ausgrenzungen können verhindert und Chancengerechtigkeit und Förderung von sozial- und bildungsbenachteiligten Kindern werden verbessert,
  • der Gebrauchswert von Lernen und Sinnerleben von jungen Menschen am Ort Schule wird erhöht,
  • Schulen entwickeln sich als Wohlfühlort.

Es geht um die folgenden Herausforderungen

  • Miteinander kooperieren
  • Unterstützungslücken schließen
  • Unzuständigkeiterklärungen minden
  • pädagogische Teilsysteme miteinander verbinden.

Aus Sicht der Jugendhilfe gilt es, die Formeln „Bildung ist mehr als Schule“ und „Schule ist mehr als Unterricht“ mit Leben zu füllen. Bildung bedeutet mehr, als möglichst viel Wichtiges auswendig zu lernen. Lernen im Unterricht ist eine bedeutsame Teilmenge und notwendige Bedingung von Bildung. Aber ein gebildeter Mensch weiß nicht nur Bescheid, sondern handelt selbstständig, entscheidet vernünftig, übernimmt Verantwortung für sich und andere, verfügt über Gemeinsinn. Bildung beinhaltet, über die Welt zu wissen, sich in der Welt verhalten zu können und eine mündige Person zu sein. Wissensstoffe können nicht länger alleiniger, geradezu „heiliger“ Zweck des Lernens sein. Die Schule der Zukunft wird jedenfalls methodischen und sozialen Basiskompetenzen, dem Selbstmanagement, Haltungen und Einstellungen wie Verantwortungsübernahme, Toleranz, Eigeninitiative eine höhere Bedeutung zuerkennen. Mit sich und mit dem Leben zu Rande kommen – auch das könnte ein ganz anderer Lern- und Erfahrungsstoff werden. Dann müsste Schule auch zu einem Raum werden, in dem junge Menschen lebensbedeutsame Erfahrungen machen können: Verlässlichkeit und Werterleben, Vertrauen und Anerkennung, Ermutigung und Herausforderungen, Freundlichkeit und Solidarität.

Interessen und Motivlagen in der Jugendarbeit

Die sinkende Zahl junger Menschen, lange Schulwege und die angestrebte Versorgung mit Ganztagsangeboten wird Kooperation mit Schulen für die Jugendarbeit alternativlos werden lassen. Vor dem Hintergrund dünner Besiedelung in manchen Regionen kann es sinnvoll sein, sich vom eigenen Standort „Jugendclub“, „Jugendfreizeiteinrichtung“ zu lösen. In kleineren Orten ist Jugendarbeit oft vieles in einem, umfasst also eine breite Angebotspalette und deckt mehrere Funktionen ab: Wärmehalle und Jugendbühne, Beratungszentrum und Gemeinwesentreff, zweites Kinderzimmer, Fitness-Studio und Werkstatt für Kulturarbeit. In größeren Städten der Republik ist das Handlungsfeld ausdifferenziert, in Jugend- und Internetcafes, interkulturelle Mädchenzentren, Kinderclubhäuser, Jugendkulturzentren, Jugendwerkstätten, Bildungsangebote der Jugendverbände, mobile Jugendarbeit u.v.m.
Eine lebensweltorientierte Jugendarbeit macht ihre Angebote auch dort, wo Jugendliche sich sowieso aufhalten: in der Schule. Salopp formuliert hat die Jugendarbeit an der Schule einen Job zu machen, weil dort Kinder sind. Aber schulbezogene Nachmittagsangebote und Ergänzungsleistungen am Vormittag sind „nur“ ein Angebot der Jugendhilfe unter anderen. Es geht nicht um ein „Alles oder Nichts!“, wenn ein Engagement am Ganztag in Erwägung gezogen wird. Eigene, schulunabhängige Angebote behalten ihren Stellenwert. Der demogra?sche Wandel (vor allem, aber nicht nur in den neuen Ländern) erzeugt allerdings Umbauherausforderungen auch in der Jugendarbeit. Ganztagsangebote könnten dabei sogar ein Standbein zur Existenzsicherung werden. Eine am Ort Schule nützliche, von Jugendlichen angenommene Jugendarbeit stellt Flexibilität und Verantwortungsbewusstsein unter Beweis und kann so auch kommunalpolitisch Punkte sammeln. Die Jugendhilfe müsste in Kooperationen durch Konzeptveränderungen und Ortsverlagerung Ressourcen einsteuern, das sicherlich komfortablere Für-sich-Bleiben aufgeben, auch Kompromisse eingehen. Was steht dafür auf der anderen Seite der Kosten-Nutzen-Bilanz?

Beweggründe für die Jugendhilfe im Ganztag

  • Benachteiligungssituationen führen oft zu wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verarmung von Familien. Arbeitslosigkeit von Eltern wird hier und dort sogar zum Gruppenschicksal in Klassen. Das hat für die Lernkultur und Lernmotivation an Schule negative Konsequenzen. Darunter leiden Kontaktqualitäten zwischen Eltern und Kinder; Erziehungskompetenzen sind eingeschränkt. Schulische Erfolge für alle Kinder und Jugendliche müssen der gesamten sozial- und gesellschaftspoli- tisch engagierten Jugendhilfe ein Anliegen sein. Sozial Benachteiligte an Schule zu stützen und ?t für das Leben zu machen, ist auch Auftrag der Jugendsozialarbeit. So erfolgte in Kooperationen eine Begleitung des Aufwachsens von Kindern bedarfsgerechter – nicht zuletzt für sogenannte Risikokinder, die unter ungünstigeren Bedingungen leben.
  • Ein ganzer Tag mit einseitig verschulten Strukturen verfehlt die Kinder und Jugendlichen, die Schule als Lebenswelt und Erfahrungsraum wahrnehmen. Die Lehrerschaft wird die jugendkulturelle Seite von Schule nicht kompetent bedienen. Deshalb sind Ergänzungen im Interesse der Jungen und Mädchen unverzichtbar – um das Lernen anzureichern und den kompletten Menschen mit sozialen, kommunikativen, emotionalen Bedürfnissen nicht „auf den kognitiven Hungerast“ zu setzen.
  • Eine Jugendarbeit mit Ansprüchen wie Prävention, Integration, Sozialraum- und Lebensweltbezug erreicht Kinder, Jugendliche, Eltern eher und sie spricht eine größere Zahl junger Menschen an, als wenn sie in Separees wie Amt, Verband und Club verbleibt.
  • Die Jugendarbeit kann ihren gesellschaftlichen Stellenwert wahrnehmbarer machen. Die Jugendarbeit hat viele Aufgabenfelder, die für Außenstehende unüberschaubar sind. Am Ort Schule stehen Jugendarbeitsangebote und -ansätze deutlich stärker im öffentlichen Rampenlicht. Auch ihre bisher häu?g unter Wert, eingeschränkt wahrge- nommenen Bildungsleistungen im sozialen, politischen, moralischen, ästhetischen Lernen werden sichtbar.
  • Jugend wird ein „knappes Gut“. Ein Umbau kommt dem Abbau (durch politisch bestimmten Ressourcenentzug auf Grund des demogra?schen Wandels) zuvor. Will Jugendarbeit erreichbar sein, muss sie junge Menschen aufsuchen – nicht nur mit mobilen Angeboten aus dem Bus heraus in den Heimatgemeinden.
  • Hier und dort könnte Jugendarbeit Schule zu Innovationen in Bereichen wie Ressourcenorientierung, Lernmethoden, pädagogische Beziehung oder ganzheitliche Berücksichtigung von „Geist, Körper und Seele“ animieren – durch das sichtbare Beispiel. Mittelfristige Folge wäre vielleicht ein integriertes Leitbild einer lebensweltorientierten Schule mit einem präventiven Konzept. Profite für Schulen, die die Jugendarbeit gewinnen können, liegen auf der Hand:
  • Freizeitkompetenzen, Verzahnung individueller Lern- und Erziehungshilfen mit Beratungen Vernetzungs- und Verweisungskompetenzen an externe Unterstützungssysteme sind zu erwarten.
  • Menschen, die nicht unterrichten, erleben vielleicht gerade Schüler/innen anders, mit denen die Schule Schwierigkeiten hat oder gar in Zerrüttung lebt. Hier kann Jugendhilfe öffnen, moderieren, Brücken bauen.
  • Andere Lernformen und Lernorte können Sinn stiftend und attraktionserhöhend sein.Die Steigerung der Annahme des Ortes Schule und eine erhöhte Lernmotivation stehen zumindest in Aussicht.
  • Sozial- und Selbstkompetenzerwerb dürften durch Jugendhilfe-Einsatz auf solideren Füßen stehen. Additive Lösungen (vormittags Schule, nachmittags Jugendhilfe) würden zwar eher einen zweifellos brüchigen Frieden erhalten. Aber gewichtige Chancen gingen in einer streng getrennten Zwei-Zonen-Kultur verloren.

Ein erweitertes und verzahntes Bildungsverständnis sowie weitere Öffnung von Schule beinhalten:

  • ganzheitliches Erfahrungslernen und Persönlichkeitsbildung: musisch-kreativ; durch Sport und Bewegung; in Aktionen, Projekten, Werkstätten; mit Begleitung nach Maß; drinnen und draußen; in Klassen und Neigungsgruppen;
  • Höhergewichtung von Selbstständigkeit und Mitverantwortung der Lernenden;
  • Ansetzen an den Lebenswelten der Schüler/innen;
  • Arbeit mit Neigungen, Neugier, Stärken der Kinder und Jugendlichen;
  • Suche nach ergänzenden Bildungsgelegenheiten in schulischen Umfeldern.

 

Autor: Karl-Heinz Timm

Datum: 22.12.2010
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