Förderkonzepte zwischen Schule und Jugendhilfe

„Niemand weiß, was ich um die Ohren habe…“ Der „Fall Tim“

Integration von Kindern mit besonderem erzieherischem Förderbedarf in die Offene Ganztagsschule

Da liegt es nahe, zu kooperieren – doch die Praxis zeigt gegenwärtig ein anderes Bild: Kooperation von Hilfe zur Erziehung und Schule bedeutet überwiegend Zusammenarbeit im Einzelfall und bei problematischen Situationen in der Schule. Beide Felder stehen daher in einem Wechselverhältnis, arbeiten jedoch überwiegend nicht auf der Grundlage einer strukturell entwickelten Kooperation, sondern situativ zusammen. Der ausschließliche Problembezug verhindert den Blick auf die gemeinsame Gestaltung von Bildungsbiografien.

Ein problematischer Fall

Wir befinden uns in der zweiten Klasse einer offenen Ganztagsgrundschule im Zentrum einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Das Klassenzimmer ist geräumig und hell, die Wände sind mit selbst gefertigten Bildern und Bastelarbeiten geschmückt. In der Klasse werden 28 Kinder von der Lehrerin Frau Schulz unterrichtet. Die Lehrerin berichtet einer Kollegin in der Pause, dass es seit einiger Zeit Schwierigkeiten mit einem Schüler gibt. Die Kollegin rät ihr, mit dem Sozialen Dienst des Jugendamtes der Stadt Kontakt aufzunehmen, dort wüsste sie von einem Ansprechpartner, mit dem sie vor zwei Jahren auch in einem problematischen Einzelfall zusammengearbeitet hat. Bei einem ersten Anruf erfährt Frau Schulz, dass der Mitarbeiter des Sozialen Dienstes auf einer Fortbildung ist und schickt ihm deshalb vorab einen Brief:

Sehr geehrter Herr Berg,

ich wende mich an Sie, da ich in meiner 2. Klasse einen besonders schwierigen Schüler habe. Es handelt sich um Tim Boland. Tim ist 8 Jahre alt, ich bin seit seiner Einschulung seine Klassenlehrerin. Zu Beginn der Grundschulzeit war Tim sehr verschlossen. Meist war er alleine auf dem Schulhof, spielte nicht mit den anderen Kindern hatte kaum Kontakt zu ihnen und beteiligte sich nicht an Aktivitäten in der Gruppe. Nach einiger Zeit veränderte sich aber sein Verhalten maßgeblich. Nunmehr stört er andere Kinder beim Spielen in der Pause, sucht vor allem mit jüngeren und schwächeren Kindern die körperliche Konfrontation und verweigert angeleitete Beschäftigungen. Tim vergisst häufig seine Bücher und Hefte stört den Unterricht indem er Mitschüler(innen) ärgert, ablenkt und Arbeitsmaterialien vom Tisch fegt. Immer wieder suche ich das Gespräch mit ihm, merke aber dabei dass das Kind nicht zuhört und mit Wutanfällen reagiert. Tim verteidigt sich lautstark, bagatellisiert und schiebt die Schuld auf die anderen. Auch Fragen und Anredeanderer Kinder werden meist von ihm ignoriert. Ist die Aggression abgeklungen, können Aussprachen mit ihm aber durchaus auch sachlich verlaufen Auffallend ist, dass Tim vor allem sportliche Aktivitäten verweigert und bei Aufforderungen dazu „bockig“ reagiert.

… gerne „rumtüfteln“

Dabei fällt mir auf, dass Tim sich anders verhält, wenn er mit Aufmerksamkeit positiv wahrgenommen wird, wenn er alleine arbeiten kann, wenn er nicht in eine Vergleichs-, Konkurrenz- oder Präsentationssituation in der Gruppe kommt – dann ist er deutlich ausgeglichener, ruhiger und ansprechbarer. Zudem kann ich beobachten, dass Tim gerne und mit Ausdauer mit allen möglichen Gegenständen „rumtüftelt“ und versuch, mit ihnen Neues zu entwickeln. Auch ist Tim besonders tierlieb, von seiner Katze, die er früher hatte, spricht er immer noch und häufig. Im Werkunterricht und bei technischen Aufgaben im Unterricht hört Tim zu, er zeigt Interesse, hat eigene Ideen und folgt den Anweisungen der Lehrer(innen). In anderen Fächern – besonders in Deutsch und Mathematik – fällt es Tim schwer, dem Unterricht zu folgen, er kann sich nu für kurze Zeit konzentrieren und hat wenig Ausdauer, um eine Aufgabe zu Ende zu erledigen

… Situation eskaliert?

Die Situation in der Schule ist eskaliert, als ich entdeckte, dass Tim in unbeobachteten Momenten schwächere Kinder bei Seite nimmt und diese körperlich, mit seinen Fäusten und manchmal auch mit Gegenständen taktiert. Mir fiel bei daraufhin genaueren Beobachtungen von Tims Verhalten in den Pausen auf, dass er in seinen Bewegungen unsicher wirkt und vor allem aggressiv wird, wenn motorische Anforderungen in der Gruppe gestellt werden. Es scheint, als ließe Tim besonders beim Spielen und nach dem Sportunterricht seine Frustration über seine Defizite an schwächeren Kindern aus. Ich weiß nicht, was in dem Jungen vorgeht.
Über Tims Familie weiß ich wenig. Die Mutter kenne ich nur flüchtig, den Vater gar nicht. Tim lebt mit seinen zwei Geschwistern bei seiner Mutter, der Vater ist vor kurzem ausgezogen. Tims Mutter habe ich vor zwei Woche zu einem Gespräch eingeladen, aber sie hat mir ganz kurz vorher abgesagt. Einen neuen Termin wollte sie mit mir nicht direkt absprechen, „sie habe so viel um die Ohren“.

… keine Lösung ?

Ehrlich gesagt, ich habe keine Lösung für die Probleme mit Tim. Meine Möglichkeiten in der großen Klasse sind auch begrenzt. Die Eltern müssen schon mitziehen.

Ich wende mich an Sie, weil Sie ja für Problemfamilien zuständig sind. Ich hoffe und er-warte, dass Sie sich um die Familie Boland kümmern. Mit Tim geht es auf keinen Fall so weiter, für unsere Schule ist er bald nicht mehr tragbar. Wenn’s nicht besser wird, müssen wir ein Aufnahmeverfahren in die Sonderschule einleiten. Herr Berg, ich werde Sie in der nächsten Woche anrufen.

Mit freundlichen Grüßen, Martina Schulz

Die Reaktion

Als der Mitarbeiter des Jugendamtes wieder in sein Büro kommt, findet er den Brief bereits vor. Er kennt die Familie Boland ein wenig: etwa zwei Monate nach der Trennung der Eltern gab es einige Gespräche. Einmal war er auch bei den Bolands, hat die Kinder kurz kennen gelernt. Schließlich hatten sie vereinbart, dass sich Herr Berg in zwei Monaten nochmals bei Bolands meldet und fragt, wie es der Familie geht. Zudem könne Frau Boland jederzeit bei ihm anrufen. Bevor er nun Tims Lehrerin zurückruft, wirft er einen Blick in die angelegte Akte.

Schule und Jugendhilfe wenden sich diesem Fall intensiv zu. Mit dem hier zur Verfügung stehenden Material wird ein Verfahren vorgestellt.

„Niemand weiß, was ich um die Ohren habe…“

Förderkonzepte von Schule und Jugendhilfe – zwei Blickwinkel auf den Fall Tim“

 

Autoren: Dr. Sabine Ader, Dr. Katrin Höhmann und Dr. Stephan Maykus

Herausgegeben von: ISA – Institut für soziale Arbeit e.V. in Münster und dem Landesinstitut für Schule/Qualitätsagentur in Soest

Datum: 23.03.2010
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