Ein Gespräch mit Irene Gebhardt (Inklusionsbeauftragte Wiener Neudorf) und Prof. Dr. Michael Urban (Professor für Sonderpädagogik an der Universität Bielefeld) im Rahmen des 3. Transferforums am 22.3.12 in Bremen
Frau Gebhardt, Sie sind Inklusionsbeauftragte der österreichischen Gemeinde Wiener Neudorf. Was sind aus Ihrer Sicht zentrale Elemente einer inklusiven Gemeinde?
Irene Gebhardt:
Ganz zentrale Elemente sind die Teilhabe, die Kommunikation und der gleichwertige Umgang mit Menschen. Man muss Strukturen überdenken und überlegen, inwieweit sie zu einem inklusiven System passen. Strukturen sind sowohl im schulischen Bereich als auch in der Gemeinde und der Verwaltung bisher „Top-down“ angelegt. Das Inklusionsprojekt selbst ist aber ein „Bottom-up“-Projekt. Es lebt von der Beteiligung aller.
Wenn wir zum Beispiel über die Zusammenarbeit von Schule und Kommune im inklusiven Projekt sprechen, ist unser Zauberwort das Steuerteam. Hier arbeiten Vertreter aus allen Bildungseinrichtungen, von Vereinen, aus der Verwaltung, Eltern und die Gemeindehäuser zusammen. Da sitzt man am gleichen Tisch und jeder ist gleichwertig. So kann man relativ rasch Dinge austauschen und an die richtige Adresse weiterleiten.
Herr Urban, Sie haben im Forschungsprojekt „Potenziale der Ganztagsförderschule zur Optimierung der Relation zwischen Familie und Schule“ mitgearbeitet. Was waren für Sie die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Untersuchung?
Prof. Michael Urban:
Wir haben festgestellt, dass Ganztag nicht gleich Ganztag ist. Die Arten und Weisen, wie der Ganztag genutzt wurde, um die Schülerinnen und Schüler und zu fördern, waren sehr unterschiedlich. An der Förderschule Lernen gibt es generell eine zentrale Frage: Schafft man es unter den besonderen Bedingungen dieser Schule, den Jugendlichen zu einem Hauptschulabschluss zu verhelfen? Insgesamt gelingt das an diesem Schultyp nur bei relativ wenigen Schülerinnen und Schülern.
Wir hatten aber eine Schule in unserem Sample, die den Ganztag genutzt hat, um die Lern- und Fördermöglichkeiten auszuweiten. Dadurch ist es an dieser Schule gelungen, einen großen Teil der Jugendlichen – ca. zwei Drittel bis drei Viertel der Schülerschaft – zum Hauptschulabschluss zu bringen. Das lag daran, dass der Ganztag nicht nur als Freizeitangebot aufgebaut wurde, in dem Schülerinnen und Schüler ihren Hobbys nachgehen konnten. Stattdessen war es dort zentral, auch Lernzeiten zu erweitern und eine individualisierte Förderung durchzuführen.
Sie haben an 18 niedersächsischen Ganztagsförderschulen Gruppendiskussionen und Interviews mit Lehrkräften, Eltern und Kindern durchgeführt und dabei untersucht, wie sich Ganztagsschule auf das Verhältnis von Schule und Familie auswirkt. Was haben Sie herausgefunden?
Prof. Michael Urban:
Die Kinder und Jugendlichen aus der Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen stammen in der Regel aus sozial marginalisierten und bildungsfernen Familien, denen im häuslichen Umfeld wenig Unterstützung und wenig Anregung geboten wird. Deshalb wird jetzt an Förderschulen der Ganztag oft mit der Intention aufgebaut, das auszugleichen. Diese Sichtweise ist allerdings durchaus problematisch. Zwar kann es nicht schaden, wenn in der Ganztagsschule erweiterte Bildungsangebote gemacht werden. Aber wenn das als ein Gegenmodell zur Familie konzipiert wird, dann ist das ein großes Problem. Denn so wird die Diskrepanz und die Spannung zwischen dem familiären Kontext und dem schulischen Kontext verstärkt.
Die Haltung der Eltern gegenüber Bildungsprozessen ist für die Kinder von großer Bedeutung. Und die konkrete Unterstützung der Schüler und Schülerinnen in ihrem schulischen Lernen sind wichtige Aufgaben der Eltern, die von der Schule nicht in Gänze übernommen werden können. Vielmehr ist es wichtig, dass Schulen die Eltern in den schulischen Kontext einbinden und ihnen auch Wissen darüber vermitteln, wie sie ihre Kinder unterstützen können.
Frau Gebhardt, welche Rolle spielen Eltern in der inklusiven Kommune?
Irene Gebhardt:
Eltern werden sehr ernst und wichtig genommen. Die Elternvertreter arbeiten in Schulgemeinschaftskonferenzen mit und auch Kinder nehmen daran teil. Außerdem sind die Eltern in die Vernetzung an der Schnittstelle Kindergarten-Schule und Schule-Hort eingebunden. Sie geben zu Schulbeginn dem Hort die Genehmigung, mit uns in der Schule über ihre Kinder zu reden. Auf der anderen Seite wollen wir sie nicht von ihrer Verantwortung entbinden, deswegen sind sie immer wieder in Round-Table-Gespräche eingebunden, an denen zum Teil auch die Kinder selbst teilnehmen. Über diese Struktur kann es auch gelingen, sie in schwierigen Zeiten ein Stück weit aufzufangen. Man entwirft dann gemeinsame Konzepte mit der Hortpädagogin, der Schulpädagogin, vielleicht auch mal der Direktorin und den Eltern und anderen Beteiligten. Natürlich hat jeder immer noch seine eigene Schulzeit im Hinterkopf und es ist immer noch oft schwierig, dieses Vertrauen aufzubauen. Aber je mehr positive Beispiele es gibt, umso eher ist es möglich.
Ganztagsschule wird oft als Möglichkeit verstanden, die Eltern zu entlasten. Wie können Sie Eltern, die eigentlich die Entlastung suchen, trotzdem dazu motivieren, die Kommune oder die Schule mitzugestalten?
Irene Gebhardt:
Das klingt jetzt vielleicht paradox, aber am ehesten gelingt es, sie über Feste mit einzubinden. Dort, wo Kinder selbst auftreten oder Leistungen bringen, da sind dann auch die Eltern. Dabei kann es sich um Auftritte der Bläserklasse oder sonstige gemeinsame Feste handeln, wo Gruppen von Kindern auftreten. Das versuchen wir immer wieder zu nutzen. Bei einer Befragung von einer Mutter mit Migrationshintergrund, die wenig Deutsch konnte und gedolmetscht wurde, haben wir gefragt, inwieweit sie sich vorstellen kann, sich am Inklusionsprojekt zu beteiligen. Sie meinte: ‚Feste feiern‘ und strahlte, weil sie sich da mit ihrer Kultur einbringen kann.
Prof. Michael Urban:
Ich kann das unterstützen. Feste spielen eine wichtige Rolle als Ausdruck schulischen Lebens und sie ermöglichen es, Eltern einzubeziehen. Außerdem ist besonders im Kontext der Förderschule Lernen eine aktive, aufsuchende Form der Elternarbeit sehr wichtig, z.B. in Form von Hausbesuchen – die wir allerdings in unserem Forschungskontext nur hin und wieder gefunden haben. Regelmäßig, mindestens einmal pro Schuljahr, besser einmal pro Halbjahr, werden die Eltern aller Kinder zu Hause besucht. Das ist deshalb besonders wichtig, weil gerade diese Familien oft sehr negative Erfahrungen mit Schule gemacht haben. In der Regel sind die Kinder von einer Grundschule oder einer Hauptschule an diesen Schultypus überwiesen worden. Von den allermeisten Familien wird das als Exklusionsprozess wahrgenommen. Deshalb muss zunächst ein gespanntes Verhältnis, geprägt durch Enttäuschung und Misstrauen, bearbeitet und transformiert werden. Daher ist es wichtig, auf die Eltern zuzugehen.
Und ein weiterer Aspekt zog sich durch das Forschungsprojekt: Elternarbeit gelingt dann, wenn sie auf Augenhöhe betrieben wird. Wenn die Eltern wirklich ernst genommen werden und wenn ihnen nicht von oben herab begegnet wird – das scheint mir ganz zentral zu sein.
Das Forschungsprojekt „Potentiale der Ganztagsförderschule Lernen“ ist an einem sehr spezifischen Schultypus durchgeführt worden. Es gibt aktuell viele Bestrebungen, diesen Schultypus möglicherweise abzuschaffen und durch inklusive Settings zu ersetzen. Das erscheint mir prinzipiell sinnvoll, vor allem, weil wir die Erfahrung gemacht haben, wie stark das Verhältnis zwischen Familie und Schule durch die Umschulung der Schüler an die Förderschule belastet wird. Trotzdem sind die Ergebnisse des Projekts auch in anderen schulischen Kontexten, in anderen Settings, hochgradig relevant für die Elternarbeit und den Umgang mit Eltern. Da lässt sich sehr viel übertragen.
Irene Gebhardt:
Ich habe den Eindruck, dass es ganz stark um Vertrauensbildung geht. Ferner geht es um den Aufbau von Unterstützungsnetzwerken, vielleicht auch abseits von den offiziellen Netzwerken der Jugendwohlfahrt, wo Dinge dann schon amtlich sind. Vielmehr sollte präventiv und niedrigschwellig unterstützt werden. Das kann von Ort zu Ort unterschiedlich ausschauen, je nachdem, was erforderlich ist. Vor allem aber soll den Menschen rechtzeitig dort die Unterstützung gegeben werden, wo sie sie brauchen.
Frau Gebhardt und Herr Urban, vielen Dank für das Interview!
Mehr zur Arbeit von Irene Gebhardt und zur inklusiven Kommune Wiener Neudorf finden Sie hier.
Den Vortrag von Prof. Dr. Michael Urban zum Thema „Inklusion als Systemwechsel – zu den Potenzialen einer ganztägigen Organisation von Schule“, gehalten auf dem 3. Transferforum in Bremen, finden Sie hier.
23.04.2012
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