Bildungslandschaften aufbauen

(c) DKJS / D. Ibovnik
DKJS/D. Ibovnik

Nicht dem Zufall überlassen

Was Bildungslandschaften zum Wachsen brauchen

Ein Bericht von Christine Plaß

Das Nebeneinander von Schule und Jugendhilfe hat sich als wenig wirksam erwiesen. Die Fachtagung „Bildungslandschaften aufbauen, Kooperationen eingehen, Prozesse gestalten“ zeigt, wie Bildung gemeinsam gelingt.

Jahrzehntelang bauten Schule und Jugendhilfe vielerorts lieber Gräben als Bildungslandschaften. Doch die Zeiten sind vorbei, in denen Ämter sich abschotten und Lehrer und Sozialarbeiter nebeneinander her arbeiten konnten: Immer mehr Kinder wachsen in schwierigen sozialen Verhältnissen auf. Zu viele Jugendliche brechen die Schule ab, finden keinen Ausbildungsplatz. Gleichzeitig stellt die Wirtschaft hohe Anforderungen an Absolventen und klagt über Fachkräftemangel.

In ganz Deutschland sind Kommunen herausgefordert, integrierte Konzepte für Bildung und Erziehung zu entwickeln, die dafür sorgen, dass kein Kind verloren geht. Im Zentrum stehen dabei die Ganztagsschulen. Sie haben bereits damit begonnen, sich zu öffnen und ihren Kooperationspartnern nicht nur den Nachmittag zu überlassen, sondern gemeinsam ganzheitlich zu bilden. Die Fachtagung „Bildungslandschaften aufbauen, Kooperationen eingehen, Prozesse gestalten“ gibt Schulen und Verwaltungen gute Beispiele, Methoden und Tipps an die Hand, mit denen sie die begonnene Arbeit fortsetzen und noch verbessern können. Die Veranstalterin, die Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft (steg) unterstützt Schulen bereits seit 1996 dabei, sich zu öffnen und gelingende Kooperationsbeziehungen einzugehen. Nicht immer verstehen die Menschen, was Stadterneuerung mit Bildung zu tun hat.

Martin Brinkmann, Geschäftsführer von STEG steg musste sich häufig fragen lassen: Warum macht ihr was zum Thema Schule? Seine Antwort: „Nur wenn Menschen aus verschiedenen Institutionen zusammenarbeiten, gelingt es, optimale Rahmenbedingungen für gemeinsames Lernen, Leben und Kultur zu schaffen, können Stadtteil und Schule sich gemeinsam entwickeln.“ Der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS, Auftraggeberin der Veranstaltung) leuchtete das sofort ein. Seit vier Jahren (2005) ist steg als Werkstatt „Schule ist Partner“ im Programm „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“ vertreten.

Mitveranstalter Björn Steffen von der Serviceagentur für Ganztagsschule begrüßt die Teilnehmer. Sie sind aus ganz Norddeutschland, Sachsen und Berlin angereist. Zwei Drittel arbeiten in Ämtern, Kommunalbehörden oder Ministerien. Ein Drittel sind als Schulleiter, Lehrer oder Kooperationspartner von Schulen tätig. Sie erleben tagtäglich, was Björn Steffen jetzt ausspricht: „Qualitativ hochwertiges Lernen findet nicht nur in Schulen statt“. Außerhalb des Teilnehmerkreises ist dies allerdings nicht selbstverständlich. Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass Bildung ein gemeinsames Anliegen von allen Akteuren in Stadt und Kommune sein sollte.

Wer kann mit wem – Bildungslandschaften darf man nicht der Willkür überlassen

In Hamburg wachsen bereits die ersten Bildungslandschaften, doch die Senatorin der Behörde für Schule und Berufsbildung, Christa Goetsch, gibt sich damit nicht zufrieden. Sie will eine verbindliche Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe strukturell verankern. Man dürfe Kooperationen nicht der Willkür oder dem Engagement einzelner vor Ort überlassen, ist sie überzeugt. In Hamburg-Altona hat sie selbst miterlebt, wie sich eine gut funktionierende Zusammenarbeit sukzessive auflöste, als die Personen, die sie aufgebaut hatten, plötzlich weg brachen. Damit sich so etwas nicht wiederholt, plant ihr Senat, eine mittlere Steuerungsebene in der Bildungspolitik zu etablieren, die sich dauerhaft um alle Belange von Erziehung und Bildung in ihrer Region kümmert.

Ganz Hamburg wird dann in regionale Bildungsregionen aufgeteilt, die das Bildungsangebot vor Ort gestalten. Von den Förderschulen bis zu den Berufsschulen sind sämtliche Schulen einbezogen. Dabei wird die qualitative Entwicklung des ganztägigen Lernens im Mittelpunkt stehen: „Wir wollen uns weiß Gott davon wegbewegen, dass die Schule sechs Stunden im 45 Minuten Takt Frontalunterricht macht, und dann kommt das Mittagessen und die Kletterwand“, betont Goetsch. Sie will Sozialarbeiter und Lehrer, die an einem Strang ziehen. Umso mehr freut sie, dass die Tagung mit gutem Beispiel voran geht und Pädagogen und Verwaltungsbeamte gemeinsam fortbildet.

Es muss gewollt sein und es muss einen klaren Auftrag geben

Ellen Künzel von der Beratungsfirma Consulting für Projektmanagement und Organisation (Como) bescheinigt den Veranstaltern, mit ihrer Tagung den Nerv der Zeit getroffen zu haben. Kooperationslandschaften aufbauen sei international eines der gefragtesten Themen. Der Deutsche Städtetag, ein Zusammenschluss von 4400 Städten und Gemeinden, hat bereits ein Leitbild für die kommunale Bildungslandschaft entwickelt:
Darin sollen die Potenziale des Individuums und deren Förderung im Mittelpunkt von  Bildungs- und Lernprozessen stehen. „Kein Kind, kein Jugendlicher darf verloren gehen.“ Das klingt schön, bringt aber viel Unruhe in traditionelle Strukturen von Behörden und Bildungsinstitutionen. „Es ist eine riesige Aufgabe für Führungskräfte, die Mitarbeiter für Kooperation zu belohnen“, hat Künzel festgestellt.

Kooperation dürfe nicht als Zusatzaufgabe verstanden wird, die die Mitarbeiter in ihrer Freizeit zu bewältigen haben. Sie lässt keinen Zweifel daran, wie viel Arbeit es macht, sich Aufgaben mit Menschen aus anderen Professionen zu teilen: „Institutionelle Kooperation impliziert einen massiven Umstrukturierungsprozess von Routinen, Strukturen, Gewohnheiten und Abläufen“. Dem Gewohnheitstier Mensch sei es nicht in die Wiege gelegt, Veränderungen zu organisieren. Unterschiedliche „Fachsprachen“, Arbeitsabläufe und Denkweisen erschweren die Beziehungen. Deshalb überfordere Kooperation in vielen Fällen die Beteiligten, funktionierte häufig nur punktuell oder situativ und hänge zu sehr von der Chemie zwischen Personen ab.

Kooperation sei eigentlich eine Zumutung, weil sie den fachlichen Diskurs und gemeinsame Werte in Frage stellt. Kooperation um jeden Preis und ohne klares Ziel vor Augen hält sie für keine gute Idee. Sie plädiert für einen klar definierten und systematisch gestalteten Umsetzungsprozess. Inmitten der Verunsicherung muss es ein Ziel und einen Auftrag geben, der öffentlich kommuniziert, von allen verstanden und von möglichst vielen geteilt wird. Dann sollte auch der Mehrwert für alle Beteiligten  offensichtlich sein. Einen Trost für die Mühen hat Künzel aber auch: Es lohnt sich, und zwar gerade bei schwierigen Ausgangsbedingungen: „Je höher die Unterschiede der Perspektiven in einem Netzwerk sind, desto höher ist die Innovationskraft“, stellt Künzel fest.

Vom Fremdkörper zum Bündnispartner

Wie es sich lohnt, darüber berichten Christine Helmken und Werner Ratt vom Zentrum für Schule und Beruf (zsb) in Bremen. Die Leiterin des zsb und der Schulleiter der Allgemeinen Berufsschule Bremen blicken bereits auf 14 Jahre Zusammenarbeit zurück. Ihr gemeinsames Ziel drückt Werner Ratt so aus: „Jugendlichen, die auf der Verlierer-Straße waren, das Gefühl vermitteln, dass sie etwas leisten können“. Dabei tragen klare Zuständigkeiten über geteilte Meinungen hinweg, wie sich das Ziel, Jugendliche für eine Ausbildung zu motivieren, erreichen lässt. Weitreichend formulierte Verträge auf unterschiedlichen Ebenen sorgen dafür, dass man nicht immer wieder bei Null abfängt. „Wir haben viel verschriftlicht vom Umgang miteinander“, berichtet Helmken, ein „lebendiges Konfliktmanagement“ werde dadurch aber nicht behindert, sondern eher befördert.

Konflikte gibt es zahlreich und auf allen Ebenen. Schließlich sind Helmken und Ratt nur ein Teil des großen Kooperationsprojektes, das fünf gleichberechtigte Partner umfasst: vom Deutschen Roten Kreuz als Träger der Kooperation, dem Senator für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales, dem Senator für Bildung und Wissenschaft, dem Amt für soziale Dienst, bis zur Allgemeinen Berufsschule (ABS) Bremen. Das Schöne daran: Man unterstützt sich gegenseitig. Wenn bei einem Kooperationspartner gekürzt werden soll, beschwert sich der andere. Waren die ersten Jahre noch anstrengend, weil das zsb als Fremdkörper wahrgenommen wurde, sind Helmken und ihre Kolleginnen und Kollegen inzwischen Teil der Schule: Lehrer und Sozialpädagogen machen gemeinsame Fortbildungen von Jugendhilfe und Schule, selbstverständlich nehmen die Kollegen vom zsb an den Schulsitzungen und an den Feiern teil.

Was sind optimale Wachstumsbedingungen für Bildungslandschaften?

Die Workshops am Nachmittag finden sich spontan nach Fragen zusammen, die sich aus den Vorträgen am Vormittag ergeben haben. Für das Thema „Die mittlere Ebene ist die entscheidende Ebene“ interessieren sich die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Sie stammen aus allen Ebenen, kommen aus der Jugendarbeit, der Wissenschaft, von Ämtern, Stadtentwicklungsbehörden, Vereinen und Ganztagsschulen. Und sie haben jede Menge Fragen.

Peter Bleckmann von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) will wissen: „Welche Verwaltungsstrukturen ermutigen die Menschen zu kooperieren?“ Andere beschäftigt die Frage: Von wo kommt das Mandat zum Aufbau einer Bildungslandschaft? Kann sie von unten entstehen, wie es in Rostock gerade passiert? Soll sie von oben installiert werden, wie es in Hamburg geplant ist? Kann man Kooperationen anstiften, aber nicht sofort Geld dafür bereitstellen, wie es eine Teilnehmerin aus Kiel vorschwebt? Für die Beraterin Ellen Künzel steht fest, dass die Leitungsebene den Auftrag vergeben und auch die Ressourcen bereit stellen muss.

Doch die Wirklichkeit sieht vielerorts anders aus. Ohne Ressourcen und auch ohne Auftrag seitens der politischen Entscheidungsträger fangen Menschen an die Grenzen ihrer Institutionen zu durchbrechen und Bildung und Erziehung zusammen zu denken. Martin Brinkmann von steg rät in solchen Situationen, der Führungsebene klar zu machen, was droht, wenn sie nicht in der Lage ist, einen Auftrag zu erteilen. Eine Teilnehmerin aus Bremen rät, sich aktiv um Aufträge zu bemühen, anstatt darauf zu warten. Das funktioniere zwar auch nicht immer, sei aber oft die einzige Möglichkeit.

In der Kaffeepause frage ich eine Expertin für Bildungslandschaften: Ulrike Baumheier vom Institut für Arbeit und Wirtschaft Bremen. Sie ist überzeugt: Es klappt nur, wenn man top down und button up zusammenbringt. Ihr Rat lautet, viel stärker mit Standortbudgets arbeiten, anstatt einzelne Posten für Kita, Schule und Jugendhilfe zu vergeben. Natürlich dürften die Standortbudgets nicht als Deckmäntelchen für Sparmodelle missbraucht werden.

Wenn es ums Geld geht, hört der Spaß am Kooperieren auf

Soll keiner sagen, Ellen Künzel hätte ihn nicht gewarnt: „Ein gemeinsames Sozialraumbudget, das ist das dickste Brett, das Sie zu bohren haben. Doch genau darum geht es“. Auch Uwe Rietz von der Hamburger Behörde für Soziales und Familie der Stadt Hamburg ist überzeugt: „Wenn man Ressourcen zusammenlegt und dadurch Mehrwert erzeugt, lässt sich mehr Bildung für gleiches Geld erwerben“.

Und dann erzählt er das Beispiel der Erich-Kästner-Gesamtschule, die kein Geld für eine richtige Schulküche hatte. Sie schlossen einen Kooperationsvertrag mit der Behindertenwerkstatt ab, die jetzt eine Mensa betreibt. „Was man braucht, ist Kreativität und das Management die Dinge zusammenzubringen“, ist Rietz überzeugt. Dafür will er den Schulen auch mehr Verantwortung zugestehen: „Wenn die Schulbehörde zentral steuert, wird das gar nichts. Es muss selbst bestimmte Schulen geben, die die Möglichkeit haben, für sich zu entscheiden und die betriebliche Einheiten mit anderen Institutionen bilden können. Das bisschen Freiheit sich die Lehrer auszusuchen ist nicht genug“.

Nett ist schmerzfrei, aber auch nicht besonders wirkungsvoll

Zum Abschluss führen Ellen Künzel und Krimhild Strenger von steg die roten Fäden aus den Workshops zusammen. Für die Startphase braucht man eher Grenzgänger als Lagerverwalter, lautet eine Erkenntnis. Diese Leute müssen aber auch gewollt und akzeptiert werden, fügt Künzel hinzu und macht noch einmal deutlich, wie wichtig Wertschätzung und Anerkennung im gesamten Prozess sind. Das gilt nicht zuletzt für die
mittlere Ebene, die auf einem unbequemen Stuhl sitzt. Sie muss gleichzeitig die über ihnen und die unter ihnen überzeugen. Hier gilt es, sich nicht in Grabenkämpfen zu verausgaben. Wobei es auch nicht gut ist, Konflikten aus dem Weg zu gehen.

„In netten Einrichtungen, vor allem wenn viele Männer darin arbeiten, heißt die Devise: Man tut sich nicht weh“, so Künzel. Nett mag angenehm sein, bringt aber nicht weiter. Strenger wüsste natürlich gerne, was weiterhilft. Laut Künzel sind es Grundlagen im Projektmanagement, Mut und Unterstützung beim Ansprechen und Bewältigung von Problemen, den politischen Willen und das massive Umschichten von Ressourcen. Ganz am Ende stellt Strenger die Frage was denn Kinder und Eltern zu der Diskussion heute sagen würden? Künzels Antwort bringt alle noch einmal zum Schmunzeln: „Beeilt euch und wir würden auch mal gern mitreden“.

 

Datum: 11.08.2008
© www.ganztaegig-lernen.de