Bildung lokal verantworten

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DKJS/D. Ibovnik

Schule ist mehr als Bildung – Bildung ist mehr als Schule:
Auf dem Weg zu lokalen Bildungslandschaften

Schon in der näheren Umschreibung dessen, was eine „Bildungslandschaft“ ausmacht, unterscheiden sich die einzelnen Konzeptionen: kommunal, regional oder eben auch lokal sind die üblichen näheren Bestimmungen. Im Folgenden wird die Bezeichnung „lokal“ verwendet und damit das Programm einer auf die geographischen Grenzen einer einzelnen Gebietskörperschaft (Stadt bzw. Landkreis) und die für sie zuständige Schulaufsichtsbehörde begrenzten lokalen Bildungspolitik umrissen.

Die Aufwertung der Bildungspolitik

Wer das (medien-)öffentliche Interesse an Bildungsfragen hierzulande vor und nach dem Erscheinen der ersten PISA-Studie im Jahr 2001 vergleicht, mag sich erstaunt die Augen reiben: Mit einem Politikbereich, der es bis dahin nur ins Feuilleton schaffte, konnte man nach PISA plötzlich Wahlkämpfe bestreiten und gewinnen. Sechs Jahre später darf man nun mit Fug und Recht behaupten, dass diese gesellschaftspolitische Aufwertung von Bildungsfragen durchaus nachhaltiger Art ist.

Angeschoben wurde diese Entwicklung, wie erwähnt, fast ausschließlich durch die massenmediale Inszenierung des so genannten PISA-Schocks. Was für BildungsforscherInnen schon längst keine Neuigkeit mehr war – vielmehr als durch frühere internationale Schulleistungsvergleichsstudien längst belegt galt – wurde plötzlich zum medienöffentlichen Thema: Die Kompetenzentwicklung der in Deutschland lebenden Jugendlichen ist im internationalen Vergleich bestenfalls durchschnittlich.

Institutionelle Diskriminierung

Nach und nach setzte eine Versachlichung der Debatte ein und anstatt über „Ranking Lists“ zu lamentieren, wurde mehr und mehr der eigentliche bildungspolitische Skandal akzentuiert: In keinem anderen OECD-Staat gibt es eine engere Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg! Oder anders ausgedrückt: Nirgendwo sonst hat – bei gleicher Kompetenzentwicklung – ein Arbeiterkind im Vergleich zu einem Mittelschichtkind geringere Chancen ein Gymnasium zu besuchen wie hierzulande; zuletzt kritisierte sogar UN-Menschenrechtsinspektor Muñoz dies als Verletzung des Menschenrechts auf Bildung. Jeder fünfte in Deutschland lebende Jugendliche erwirbt nicht die für eine erfolgreiche Schul- und Berufslaufbahn erforderliche Kompetenz, wobei die „institutionelle Diskriminierung“ (1) vor allem Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund betrifft. Hauptschulen degenerieren vielerorts zu Restschulen, in die man quasi hineingeboren wird; und die individuellen Bildungschancen hängen hierzulande stärker als anderswo von den Ressourcen des jeweiligen Elternhauses – dem so genannten ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital (2) – ab.

Das Bildungsthema schafft es also wieder auf die Titelseiten der Zeitungen und in die Fernsehnachrichten hinein. Die Notwendigkeit der frühkindlichen individuellen Förderung, des Ausbaus ganztägiger Bildung, Erziehung und Betreuung für Kindergarten- und Schulkinder und der im politischen Diskurs allerdings häufig auf Sprachförderung reduzierten Aufgabe der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund, werden dabei derzeit besonders betont und zum Teil mit milliardenschweren Investitionsprogrammen bedacht.

Bildung lokal verantworten

Die zentralen öffentlich verantworteten Institutionen der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen – also Schule und Jugendhilfe – sehen sich in dieser veränderten politischen Situation gewachsenen und teilweise neuen Herausforderungen gegenüber. Vor allem der rasche – und möglicherweise etwas überhitzte – Ausbau von Ganztagsschulen in offener Angebotsform erforderte von Beginn an die enge Kooperation von Schule und Jugendhilfe. Immer deutlicher wird, dass auch die Kooperation einzelner Ganztagsschulen mit außerschulischen Partnern an deutliche Grenzen stößt: So muss in diesem bislang durchgängig angewandten Modell z.B. jede Schule für sich das volle Angebotsspektrum vorhalten und kann daher nur begrenzt schulprogrammspezifische Schwerpunkte setzen.

Des Weiteren kommen für die in Bezug auf eine verbesserte individuelle Förderung notwendigen Nischenangebote in jeder einzelnen Schule für sich genommen häufig nicht genug Anmeldungen zustande. Jede Schule muss außerdem für sich Netzwerke knüpfen und logistische Probleme (SchülerInnentransport) lösen; auch Honorarverträge, versicherungs- und aufsichtsrechtliche Fragen (bei Delegation der Aufsichtspflicht an Kooperationspartner) etc. müssen – zumindest in Bundesländern ohne entsprechende Rahmenvereinbarungen – von jeder Schule und (im Extremfall) in jeder neuen Kooperationsbeziehung wieder ausgehandelt werden. Eine weitere Restriktion der einzelschulisch verantworteten Ganztagsschulentwicklung liegt darin begründet, dass vor allem kleinere (Grund-)Schulen häufig über kein Leitungsteam verfügen, keine hinreichenden personellen Ressourcen für die Freistellung von AngebotskoordinatorInnen zur Verfügung haben und nur in geringem Umfang Verwaltungskräfte (Sekretariat) einsetzen können.

Letztverantwortung der Schulleitung

Die „Letztverantwortung der Schulleitung“ für das Angebot steht aus all diesen Gründen zum Teil nur auf dem Papier. Dies wirkt sich besonders negativ auf die Konzeptqualität aus, da im Tagesgeschäft die reflexiv-planerische Umsetzung der bildungsprogrammatischen Leitziele der Ganztagsschulentwicklung schnell aus dem Blick gerät. Die strukturelle Alternative besteht in einer fortgeschrittenen Vernetzungsstufe darin, dass benachbarte Schulen im Verbund miteinander und mit außerschulischen Partnern ihr Ganztagsangebot gemeinsam gestalten. Auf diese Weise würden vergleichsweise anspruchsvollere, stärker spezialisierte Bildungssettings möglich; zudem wird auf diese Weise eine sozial besser durchmischte Angebotsnutzung möglich, in der bestimmte Angebote z.B. von HauptschülerInnen und GymnasiastInnen gemeinsam gestaltet werden können.

Letztendlich reicht die Vernetzung von Einzelschulen und Einrichtungen der Partner aber nicht aus, um eine flächendeckende Infrastruktur ganztägiger Bildung zu gewährleisten. Zu implementieren ist darüber hinaus vielmehr auch eine integrierte Fachplanung auf lokaler Ebene, in deren Kontext z.B. Jugendhilfe-, Schulentwicklungs-, Raum-, Verkehrs- und Sozialplanung unter Bildungsaspekten aufeinander abgestimmt sind. In diesem Zusammenhang wird ein erheblicher Ressourceneinsatz erforderlich, etwa in Form der Konstitution regionaler Bildungsbüros. (3)

Kooperation auf Augenhöhe

 Aber auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene bedarf es lokal aufgestellter Akteure, z.B. in Form einer Aktivierung von Träger und Schulverbünden, von Arbeitsgemeinschaften nach § 78 KJHG und der Schaffung eines gemeinsamen Unterausschusses von Jugendhilfe- und Schulausschuss zu Fragen der lokal vernetzten ganztägigen Bildung. Mit Hilfe solcher Strukturen und Gremien kann das Angebotsspektrum deutlicher an übergeordneten (lokalen) fachpolitischen Zielen entlang entwickelt und im Rahmen einer „Kooperation auf Augenhöhe“ zwischen den unterschiedlich institutionalisierten Bildungsanbietern eine verbesserte Konzeptqualität im Ganztag erreicht werden. Die Umsetzung der Konzeptionen in konkrete Bildungspraxis kann dann z.B. durch inter-institutionell getragene lokale Wirksamkeitsdialoge und eine Zertifizierung non-formaler Bildungsangebote im Ganztag in Angriff genommen werden.

Partizipativ strukturiertes, lokales Bildungsnetz

Diese zivilgesellschaftlichen Elemente sind idealerweise eingebunden in ein öffentlich verantwortetes und hauptamtlich verbindlich gepflegtes, zugleich aber partizipativ strukturiertes, lokales Bildungsnetz. Eine solchermaßen lokal verantwortete Ganztagsbildung überschreitet den Horizont von Ganztagsschule und bildet einen wichtigen Schritt hin zur Umgestaltung des gesamten lokalen Raums als anregende Lern- und Lebensumgebung.

In den Blick zu nehmen sind dabei nicht nur explizite pädagogisch vorstrukturierte Angebotsformen, sondern auch die Schaffung von Gelegenheitsstrukturen für informelles, selbstbestimmtes Lernen. Schritte in diese Richtung sind die beteiligungsorientierte (Um-)Gestaltung des Schulgeländes, Quartiers und des lokalen Raums als Ganzem, die Stärkung der Akzeptanz selbstbestimmter – möglicherweise: „zweckwidriger“ – kreativer Aneignungsformen durch Kinder und Jugendliche, sowie die Senkung von Zugangsschwellen für Kinder und Jugendliche zu etablierten Bildungseinrichtungen (Museen, Bibliotheken, …).

Erste Schritte

Die Gestaltung lokaler Bildungslandschaften verlangt einen langen Atem und lässt sich daher nicht mit knappen Ratsmehrheiten, sondern nur im partei- und institutionsübergreifenden Grundkonsens verwirklichen; zudem müssen die kommunalen Spitzen und die Schulamtsleitung aktiv steuernd in den Implementierungsprozess involviert sein. Ein gemeinsames kommunales Dezernat „Jugend und Schule“ mit Ansätzen der Verwaltungsintegration auf Ämter- bzw. Fachdienstebene ist ebenso hilfreich wie eine auf die einzelnen Gebietskörperschaften hin regionalisierte staatliche Schulaufsichtsbehörde. Eine wichtige Aufgabe dieser Administration ist die Implementierung einer integrierten lokalen Sozial- und Bildungsberichterstattung, um den Bildungseffekt innovativer Maßnahmen besser abschätzen zu können.

Aushandlungs- und Partizipationskultur

Jenseits dieser administrativen Strukturen sind konkrete Ansätze zur Schaffung oder Stärkung einer Aushandlungs- und Partizipationskultur zwischen den Akteuren notwendig („local governance“ 4) zu stärken, und zwar sowohl in Bezug auf die zivilgesellschaftlichen Bildungsanbieter als auch hinsichtlich der Familien sowie der Kinder und Jugendlichen selbst. Im schulischen Bereich ist darauf zu achten, dass es künftig verstärkt zu der fachpolitisch geforderten Verzahnung von Unterricht und außerunterrichtlichen Angeboten kommt; der Ganztag muss auch den Unterricht verändern! Wichtige Anstöße hierfür können thematisch gezielte und flächendeckende „Tandem-Fortbildungen“ für PraktikerInnen aus Schule und Jugendhilfe sowie die Ausrichtung entsprechender lokaler Fachtage geben.

Die kommunalen Rahmenbedingungen für die Gestaltung lokaler Bildungslandschaften schließlich lassen sich durch den Abschluss von Kooperationsvereinbarungen zwischen Kommune und Bundesland mit dem Ziel der Schaffung einer „Bildungsregion“ mit erweiterten Planungs- und Budgetierungsspielräumen erheblich verbessern. (5)

Der Autor, Dr. Stolz, ist wissenschaftl. Referent am Deutschen Jugendinstitut mit den Arbeitsschwerpunkten
Kooperation Jugendhilfe – Schule, Lokale Bildungslandschaften, Ganztagsschule und Bildungsforschung.

 

Literatur
1 Gomolla, M. / F.-O. Radtke: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen 2002
2 Vgl. Bourdieu, P. (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt. Sonderband 2. Göttingen: 183-198
3 Im Bildungsbüro des Landkreises Herford arbeiten acht fachliche MitarbeiterInnen und vier Verwaltungskräfte. Dies macht die Größenordnung der lokal aufzubringenden Ressourcen deutlich. Lokale Bildungslandschaften gibt es nicht zum Nulltarif.
4 Holtkamp, L. 2007: Local Governance. In: Benz, A. et al.: Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder. Wiesbaden: 366-377
5 So etwa im Landkreis Groß-Gerau in Hessen. Vgl.: Projektleitung Selbständige Schule (Hg.) 2004: Regionale Bildungslandschaften. Grundlagen einer staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft. Troisdorf: 80-86

 

Quelle: Forum GanzGut der Serviceagentur Brandenburg und kobra.net

Autor: Dr. Heinz-Jürgen Stolz, stolz[at]dji.de

Datum: 04.10.2009
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