Befunde der Sozialforschung über Kindheit und Jugend in Deutschland legen eine Erweiterung des Selbstverständnisses der Bildungspolitik nahe, aus der pädagogische Strategien folgen, die ihrerseits strukturelle Implikationen haben. „Bedarfsgerechte Förderung“ galt auch bisher als ein Leitprinzip bildungspolitischer Ansprüche an die Schule, lag aber auch dem Verständnis der sozialen Arbeit zugrunde. Dabei meint „Förderung“ vor allem die Kompensation von Defiziten. Defizite werden als individuelle oder gruppenspezifische Abweichungen von einer unterstellten Norm erwartbarer Leistung in spezifischen Leistungsbereichen begriffen. Dieses Verständnis bestimmt seit PISA die Diskussion über schulische Defizite benachteiligter Gruppen: Migrantenkinder brauchen Sprachförderung, Ausländer Integrationshilfen, Hauptschüler Unterstützung zur Erreichung der Berufsfähigkeit. Es geht um spezifische Förderungsbedarfe für spezifische Gruppen zur Kompensation von Defiziten, beantwortet von spezifischen Kompetenzangeboten spezialisierter Professionen.
Diesem Konzept der Förderung zur Kompensation von sektoralen Defiziten in deutlich umschriebenen Gruppen tritt ein normativ bestimmtes Konzept allgemeiner Entwicklungsförderung gegenüber. Dieses Konzept leugnet zwar keineswegs den an bestimmten Leistungskriterien festgemachten Förderungsbedarf spezifischer Gruppen, hebt diesen indessen in einer allgemeinen sozialstrukturell begründeten und gleichsam sozial-evolutionär aktivierenden pädagogischen Entwicklungsförderung auf, welche spezifische Förderungen in ihre allgemeinen Förderungsmaximen einschließt. Ein solches Konzept hat ein anderes Verständnis der relevanten Institutionen (also vor allem der Schule), ein anderes Konzept der pädagogischen Arbeit sowie ein anderes Konzept der damit befassten Profession zur Folge. Pädagogische Arbeit bedeutet dann, im eigentlichen Wortsinne, Entwicklungsförderung für Kinder und Jugendliche. In diesem Sinne sind alle Kinder und Jugendliche auf Förderung angewiesen, und die Institutionen, die Kinder und Jugendliche pädagogisch betreuen, stehen prinzipiell im Dienste der Förderung. Ein Funktionsverständnis, das, übrigens bis in die Jugendhilfe hinein, der Schule vor allem oder ausschließlich didaktische und lehrplanbezogene Aufgaben unterstellt, ist nach diesem Verständnis dysfunktional und obsolet.
Entwicklungsökologie für alle Kinder und Jugendliche
Institutionen, die für Kinder und Jugendliche eine förderliche und zugleich professionell multidisziplinär betreute Lebenswelt bereitstellen und diese systemisch entwickeln und mehrdimensional evaluieren, gibt es in vielen Ländern. Der institutionelle Ausdruck eines solchen entwickelten Funktionsverständnisses ist eine ganztags und ganzheitlich organisierte längsschnittlich funktionell differenzierte „Einheitsschule“. (In Deutschland löst diese Bezeichnung Fehldeutungen und Affekte aus, so dass man sie vielleicht besser als Gemeinschaftsschule bezeichnen sollte – ein freilich aus historischen Gründen ebenfalls missverständlicher Name.) Die Einheitsschule wird in ihrer psychologisch entwickelten und professionell reflexiven Form als Entwicklungsökologie für alle Kinder und Jugendliche in den entwicklungssensitiven und entwicklungsintensiven Lebensabschnitten der Kindheit und Jugend begriffen. Dieses in Deutschland verpönte Konzept hat sich nicht zuletzt im Bereich jener Leistungen als erfolgreich erwiesen, die in Deutschland besonders defizitär sind: Im PISA-Vergleich haben jene Länder insbesondere dort gut abgeschnitten, wo das Konzept einer allgemeinen Entwicklungsförderung, sei es explizit, sei es eher implizit, bei der Konstruktion der schulischen Institutionen systembestimmend ist, so in Skandinavien, insbesondere in Schweden und Finnland, in Kanada, aber auch – in Südtirol!
Das faktisch sozial evolutionäre Konzept eines differenzierten Systems der gemeinsamen Entwicklungsförderung für alle in einer einheitlichen Institution setzt in Kindergarten und Vorschule ein und reicht über die Entwicklungsübergänge des Jugendalters hinweg. Anders als das deutsche Schulsystem akzeptiert es individuelle Unterschiede, d.h. die natürliche wie die sozial konstituierte Heterogenität der Individuen, bindet diese jedoch inklusionär in die übergreifende Einheit gemeinsamer Entwicklungsziele ein. Eine sozial-evolutionäre Metatheorie für eine Bildungslandschaft, die auf komplexe Modernisierungsschübe entwicklungsbezogen antwortet, steht noch aus. In den avancierten Systemen selbst ist man in der Regel weit davon entfernt, diese Systeme bewusst als sozial-evolutionäre Antworten auf die Herausforderungen von Modernisierungskonflikten zu entwerfen. Eher haben lokale kulturelle Normen, etwa kinderfreundliche Einstellungen, als Maximen der Professionalisierung und die sozialen Selbstverständlichkeiten einer egalitären Sozialpolitik zu einer gleichsam evolutionären Lösung bei der Gestaltung des jeweiligen Schulsystems geführt.
Das selektive Schulsystem als Anachronismus
Der vereinheitlichende Blick kann indessen helfen, für die verschiedenen Übergänge, die unterschiedlichen Segmente des Systems und die differentiellen Bedarfe verschieden deprivierter Gruppen Fördermaßnahmen, Interventionsgesichtspunkte und Professionalisierungsperspektiven zu entwerfen, die über das gegenwärtig fragmentierte und von partikularen Interessen beherrschte Szenario einer Kooperation von Schule und Sozialarbeit hinausweisen. Eine evolutionär orientierte, sozialwissenschaftlich aufgeklärte Perspektive kann dazu beitragen, das selektive Schulsystem als Anachronismus zu entlarven und die Kompetenzen der entwicklungsfördernden und kompensatorisch wirksamen Professionen von der vorschulischen bis zur jugendtypischen Projekt- und Unterstützungsarbeit als Bausteine einer zwar unterschiedlich spezialisierten, aber kooperativ wirksamen entwicklungspädagogischen Profession zu betrachten.
Aus der Perspektive eines fragmentierten Anforderungsprofils, das von einem anachronistischen Schulsystem beherrscht wird und mit der Zeit einer ganzheitlich strukturierten Institution der Entwicklungsförderung Platz machen sollte, erscheint die Einrichtung der Ganztagsschule als Schritt auf einem evolutionären Pfad zu einem allgemeinen System der Förderung aller Kinder. Aus dieser Sicht erscheint der Förderungsbedarf bestimmter Gruppen auf bestimmten Sektoren strategisch relevant für die gesellschaftliche Entwicklung und deshalb prioritär. Diese Förderbereiche stellen herausgehobene Gelegenheitsstrukturen und professionelle Herausforderungen für die Kompetenzen der betroffenen Professionen der Lehrer und Sozialarbeiter dar. Insofern repräsentiert die Ganztagsschule mit einer veränderten Zeitstruktur, einer anderen Rhythmisierung ihrer Aktivität, mit der Auflösung des rigiden Stundenrasters und der von diesem diktierten frontalen Interaktionsform etc. entgegenkommende Strukturen für eine Förderung auf der Basis unterschiedlicher Inhaltsbereiche, Arbeitssegmente, pädagogisch begründeter Herausforderungen und Zielsetzungen im Kontext der natürlichen Variabilität der Population. Dafür bietet die Kooperation bereichsspezifisch unterschiedlich kompetenter Professionen – Lehrer unterschiedlichen Typs und Qualifikation, Sozialarbeiter, Erzieher, Psychologen, aber auch Aktivisten und Experten der Zivilgesellschaft, insbesondere der Eltern, vor allem auch der bisher kaum beteiligten Senioren – in unterschiedlichen Funktionen eine bisher kaum genutzte Chance. Und obwohl es nicht unmittelbar Teil dieser Argumentation ist, sei in diesem Kontext doch darauf hingewiesen, dass solche kooperative Strukturen vor Ort zu einer produktiveren Rolle der Schulen im lokalen kommunalen Umfeld und zu einer konstruktiven Präsenz der Kommune im Leben der Schule führen könnte.
Anforderungen an die Bildungswirksamkeit
Im Folgenden sollen bedeutsame Entwicklungsbereiche skizziert werden, in denen gesellschaftlich folgenreiche Deprivationen und pädagogisch chancenreiche Fördermöglichkeiten zusammentreffen. Sie stellen einerseits besondere Anforderungen an die Bildungswirksamkeit der Institution, die als Ganztagsschule entgegenkommende Verhältnisse der Entwicklungsförderung bereitstellen soll. Sie stellen andererseits besondere Herausforderungen an die zu entwickelnden Kompetenzen der Professionen, in deren Aufgabenbereich die Förderung der Kinder und Jugendlichen fällt, für die Schulen nach dieser Konzeption ausgelegt sein sollten. Der Beruf der Lehrer benötigt entsprechend überfachliche Elemente professionellen Handlungs- und Steuerungswissens, das in der Ausbildung der Lehrer an den Universitäten bislang keine Rolle spielt (obwohl es in den neu formulierten Standards der Kultusminister für die Lehrerbildung bereits in allgemeiner Form zum Ausdruck kommt). Umgekehrt könnten die Professionen der sozialen Arbeit, insofern sie über die überfachlichen Handlungskompetenzen verfügen, die für eine Entwicklungsförderung von Individuen in Gruppen erforderlich sind, in den auf ganztägiges Lernen umgestellten Schulen eine weitaus größere Rolle spielen als bisher. Gemeinsam mit den Schülern können Lehrer, Sozialarbeiter, Eltern und Akteure der Zivilgesellschaft die Organisation einer Schule vorantreiben, die gleichermaßen der Bildung, Entwicklung und Förderung ihrer Schüler dient.
1. Unterbrechung des Armutszyklus
Nach dem Datenreport des Statistischen Bundesamts lebten 1997 2,8 Millionen Kinder im Alter bis zu 18 Jahren in relativer Armut (unter 60 Prozent des gewichteten Durchschnittseinkommens). Das sind 20 Prozent der entsprechenden Altersgruppen. Die Armutsquote (unter 50 Prozent des Durchschnittseinkommens) liegt nach einem Bericht der Hans-Böckler-Stiftung bei 2 Millionen Kindern bis 15 Jahre oder 15 Prozent der entsprechenden Altersklassen. Kinder unter 18 Jahren stellen die größte Gruppe (relativ) armer Menschen in Deutschland. Ein rundes Drittel aller Kinder lebt nach dem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands (2005) in den großen Städten des Landes in Armut. Im Jahre 2002 stellten Kinder bis 15 Jahre 33 Prozent aller Sozialhilfeempfänger. Die Milieus, in denen arme Kinder leben, sind kulturell anregungsarm und transportieren in Ermangelung kultureller Stimulierung ein großes Risiko sozialer und kultureller Deprivation. Aus psychologischen Armutsstudien wissen wir einiges über die sozialökologischen und psychologischen Eigenschaften solcher Milieus, die kollektiv zu Ghettobildung, individuell zu armutsbestimmten Lebensverläufen disponieren, die überproportional häufig ohne reguläre Schulabschlüsse bleiben, problembelastete Schullaufbahnen aufweisen, durch Ausbildungsmangel in anhaltende Arbeitslosigkeit, im ungünstigen Fall schließlich in Devianz- und/oder Sozialhilfekarrieren führen. Armut beeinträchtigt die Entwicklungschancen der von ihr betroffenen Kinder und erzeugt häufig dissoziale Bewältigungsstrategien, die zur Reproduktion der Armutsverhältnisse führen und diese gleichsam zwischen Generationen sozial vererben.
Um den Armutszyklus zu unterbrechen, sind schulische Interventionen erforderlich, die den Deprivationskontext durch schulisch vermittelte und schulisch organisierte Anregungen und motivationsförderliche Handlungsangebote auflösen. In den USA hat das Head Start-Programm gezeigt, dass vorschulische, aber auch schulische Interventionen gegen die Konsolidierung des Armutszyklus im Lebensverlauf und zwischen den Generationen nachhaltig wirksam sind. Es liegt auf der Hand, dass die komprimierte Halbtagsschule mit den für sie charakteristischen Sequenzen von lehrerdominierten 45-Minuten-Lektionen mit ihren der Mittelschichtmentalität entsprechenden Anforderungen an kognitive Leistungsfähigkeit, Persönlichkeitseigenschaften und motivationale Dispositionen nicht dazu geeignet sind, die typischen Einstellungen und spezifischen Bedürfnisse armer Kinder anzusprechen und den Armutshabitus aufzulösen. Dafür bieten variable Formen der Projekt- und Gruppenarbeit, die motivationale Anregung einer Didaktik des situierten Lernens, zeitlich rhythmisierte und flexibel organisierte Lern- und Arbeitsformen bessere Erfolgsaussichten. Zeit ist die zentrale pädagogische Ressource für die kognitive und motivationale Entwicklungsförderung armutsgeschädigter Kinder. Voraussetzungen für Beschäftigungsfähigkeit zu schaffen, Jugendlichen den Weg zu Lehre und Arbeit zu ebnen, dadurch Voraussetzungen für Inklusion, für die Integration in die Gesellschaft zu schaffen und Arbeitslosigkeit und der Bildung von Sozialhilfekarrieren vorzubeugen, all das ist unmittelbar und mittelbar auf Zeit als pädagogische Ressource, d.h. auf pädagogische Strategien angewiesen, die nur in Ganztagsschulen mit ihrem erweiterten Zeitbudget und den damit gegebenen Chancen variabler Lehrstrategien, individueller Unterstützung und funktional gestalteter Gruppenkomposition erfolgreich zum Einsatz kommen können. Diese Strategien sind auf Kompetenzen und Maßnahmen angewiesen, über die gegenwärtig vor allem Sozialpädagogen und Sozialarbeiter verfügen, die Erfahrungen aus der sozialen Arbeit mit Jugendlichen mitbringen und diese in die schulische Arbeit transferieren können. Die Kooperation von Pädagogen und Sozialarbeitern bietet deshalb eine konstruktive zugleich eher leicht verfügbare Lösung für die Aufgabe kompensatorischer Entwicklungsförderung an Ganztagsschulen.
2. Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund
Ein Teil der Migrantenkinder stammt aus den soeben beschriebenen Armutsmilieus oder umgekehrt: Ein erheblicher Teil der armen Kinder stammt aus fremdkulturellen Lebenswelten und der größte Teil von ihnen besucht Haupt- und Sonderschulen. Für die Migranten gilt das Deprivationsrisiko in besonderem Maße, weil sie zu den durch Armut geprägten Einstellungen und Dispositionen, Versagenserfahrungen und gelernter Hilflosigkeit zusätzlich noch ihre fremdkulturelle Distanz zur Schule als einer sie faktisch abweisenden Institution der deutschen Mittelschicht und ihrer Kultur mitbringen. 40 Prozent der Kinder werden in Deutschland in Migrantenfamilien geboren. Doch Kinder aus Migrantenmilieus sind nach den Befunden der PISA-Studie überrepräsentiert im Segment des leistungsschwächsten Fünftels der Schülerpopulation. Karrieren konsistenter und überdauernder Leistungsschwäche in der Schule sagen mit hoher Wahrscheinlichkeit Arbeitslosigkeits- und Sozialhilfekarrieren vorher. Eine vordringliche Aufgabe der Ganztagsschule besteht darin, Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Integration der Migrantenkinder in den Leistungskontext der Schule zu normalisieren. Die notwendigen Sprachfertigkeiten zu erzeugen, ist nur ein Aspekt des Problems. Dabei geht es keineswegs bloß um den grammatisch korrekten Ausdruck und ein angemessen differenziertes Lexikon. Vielmehr geht es um die Fähigkeit, die subjektive Befindlichkeit und die Wahrnehmung der sozialen Welt überhaupt in sprachlichen Ausdruck zu verwandeln – nicht nur in der Umgangssprache. Zweisprachigkeit ist nicht bloß die Doppelung des Lexikons, sondern eine doppelte Erschließung kultureller Deutungen individueller und kollektiver Erfahrung. Es ist zwar eine vordringliche Aufgabe der Ganztagsschule, den Circulus vitiosus von Migrantendasein – Arbeitslosigkeit –Sozialhilfe zu unterbrechen, doch wichtiger und weitreichender noch ist die Aufgabe, die Reflexionsbarrieren und Reduktionsformen der Migrantenkulturen zu überwinden.
Nicht alle Migrantenkinder stammen aus Armutsmilieus, doch die große Mehrheit hat fremdkulturell bestimmte Entwicklungs- und Nachholbedürfnisse, auf die Ganztagsschulen mit ihren Zeit- und Interaktionsressourcen sehr viel besser antworten können als Halbtagsschulen. Die Schulen sollen Kindern fremdkultureller Abstammung (deren spezifische Kulturen und herkunftserzeugte Bedürfnisse noch immer nicht hinreichend erforscht sind!) integrationsrelevante Kompetenzen vermitteln, die durchaus mit ihrer eigenkulturellen Identität einhergehen können, wie es z.B. das kanadische Schulsystem überzeugend gezeigt hat. Dazu gehört gewiss auch die differenzierte Beherrschung der Mehrheitssprache, ohne die weder Integrationsvoraussetzungen noch Beschäftigungsfähigkeit gegeben sind. Dazu gehört aber in vielen Fällen Unterstützung bei der Bewältigung der kognitiven Herausforderungen der aufnehmenden Kultur und mit diesen der schulischen Aufgaben, bei denen die Kinder auch aus anderen als sprachlichen Gründen versagen können. Diese Integrationshilfen sind entwicklungsförderlich und beugen der Entstehung von Devianzkarrieren vor. Aufwendungen dafür machen sich durch die erhöhte Beschäftigungsquote und eingesparte Sozialtransfers schnell bezahlt.
Für diese Aufgaben ist die Kooperation von Lehrern, Sozialarbeitern und Berufspädagogen die Lösung der Wahl – eine Verbindung von beruflichen Kompetenzen, die es andernorts so gar nicht gibt. Zweisprachigkeit der Lehrpersonen ist eine günstige Voraussetzung für den Erfolg der Arbeit mit diesen Kindern. Die Verbindung sprachpädagogischer, berufspädagogischer und freizeitpädagogischer Angebote in gemischten Gruppen hebt auf persönlichkeitsstabilisierende, sozial sensibilisierende und integrationsintensive Leistungen gleichermaßen ab. Im eng geknüpften Panzer der Halbtagsschule gibt es weder Spielräume noch Ressourcen für solche Angebote. Dabei wäre die Ganztagsschule, auch unter fiskalischen Gesichtspunkten, effizienter und vermutlich insgesamt sogar kostengünstiger als eine aus finanziellen Gründen erzwungene Beibehaltung des herkömmlichen Systems.
3. Gesundheitserziehung, Bewegungstraining, Sportangebote
Viele Jugendliche, nach Schätzungen bis zu 20 Prozent, sind übergewichtig. Die Gesundheitsprognose der Übergewichtigen ist schlecht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Leben mit physischen Beeinträchtigungen führen, ist hoch. Diabetes, Koronarkrankheit, Skelett- und Gelenkerkrankungen der heute übergewichtigen Kinder werden ein ohnehin bereits überfordertes Gesundheitssystem zusätzlich belasten, wenn sie erwachsen sind. Ein Mittel, dieser Entwicklung wirkungsvoll zu begegnen, ist ein bewegungsintensives Sportangebot – ohne den Leistungsdruck, der vom herkömmlichen Sportunterricht ausgeht. Denn dieser kann die übergewichtigen Kinder nicht motivieren. Die Erfahrung dauerhafter Unterlegenheit schränkt die Motivation der Betroffenen zu sportlicher Aktivität nachhaltig ein. Fehlende Anerkennung zersetzt die Überzeugung eigener Wirksamkeit, die für den Aufbau zielorientierter Aktivitätspotenziale unerlässlich ist. Die Ganztagsschule stellt eine Gelegenheitsstruktur für die Aktivierung dieser Kinder dar, die in der Halbtagsschule schon aus Zeitgründen nicht hergestellt werden kann. Auch die Sportvereine können ein solches Angebot außerhalb strukturierter institutioneller Bedingungen, wie sie die Ganztagsschule bietet, nur schwer an mögliche Nachfrager heranbringen.
Suchtanfälligkeit setzt nach neueren Schätzungen bereits mit Beginn der Pubertät ein. Oft tritt diese gemeinsam mit Gewichtsproblemen und Bewegungshemmung auf. Psychische Störungen, insbesondere Depressionen, sind weit verbreitet. Sie werden nur allzu häufig von den Schulen befördert, wenn nicht gar verursacht, wie die massiv überforderten Psychologen und Therapeuten bestätigen, die einen ungleichen Kampf mit schulerzeugten Phobien, Ängsten, motorischen und kognitiven Störungen führen, die in ungezählten Fällen mit Ritalin gedämpft, aber nicht behandelt werden.
Die Ganztagsschule kann ein bedeutendes gesundheitspolitisches Anreizsystem darstellen, das geeignet ist, die Gesundheitskosten langfristig positiv zu beeinflussen. Für den Aufbau des Angebots ist die Mitwirkung der Sportvereine in Kooperation mit medizinischem und psychotherapeutischem Sachverstand erforderlich. Vor allem ist eine Mitwirkung an Bildungsprozessen, an schulisch organisierten Aktivitäten wichtig, die Befriedigung und Erfolg statt Demütigung und Misserfolg versprechen. Solche Aktivitäten könnten vor allem projektdidaktisch, theaterpädagogisch und erlebnispädagogisch kompetente Sozial- und Freizeitpädagogen übernehmen, die Spielräume der Ganztagsschule nutzen, um ein organisches Konzept des variablen, vielseitigen und konstruktiven Lernens in eine Schule einbringen, die sich zugleich als aktivierende und befriedende Lebensform für Kinder und Jugendliche begreift.
4. Zivilgesellschaftliche Erziehung und Bildung: Demokratie als Lebensform
Die zivilgesellschaftliche Kultur wird durch den Rückbau von Subventionen und wachsende Finanzprobleme der Kommunen zunehmend auf Initiativen und Handlungsinteressen der Bürger angewiesen sein. Didaktische Prozesse und thematische Inhalte, die der Bildung und der Ausbildung von Fähigkeiten, Fertigkeiten, Dispositionen und Motiven zum Handeln in der Zivilgesellschaft dienen, gebührt eine Priorität, die nur unter einem veränderten Zeitregime, faktisch also in einem ganztägigen Programm, realisiert werden kann. Demokratie als Lebensform ist die politische Seite der Zivilgesellschaft. Verantwortungsübernahme, Autonomieförderung, Partizipationserfahrung und Planungskompetenz sind zentrale Elemente nicht zuletzt einer projektbasierten Demokratiepädagogik, die auf Aktivierung der mikropolitischen Gemeinschaft in der Schule und auf deren Einbettung in das soziale und politische Leben der Gemeinde setzt. Projekte als didaktische Großform fördern die Beteiligung an Planungsprozessen und an der Durchführung von Vorhaben sowie die Verantwortungsübernahme der beteiligten, planenden, durchführenden, evaluierenden und ihre Leistungen und Produkte gemeinsam präsentierenden Schüler. Projekte fördern die Motivation und die Autonomie der Handelnden, die Selbstwirksamkeit der Akteure und die gegenseitige Anerkennung der Teilnehmer an zivilgesellschaftlichen Vorhaben. Deshalb sind Projekte nicht nur soziale, sondern vor allem die individuelle Entwicklung fördernde Initiativen, die die kognitive, die sozio-moralischen und die Persönlichkeitsentwicklung vorantreiben.
Politische Handlungsfähigkeit im kommunalen Nahraum erscheint für die Entfaltung einer demokratischen Zivilgesellschaft umso wichtiger, je abstrakter sich die Handlungsformen der „großen“ Politik auf staatlicher, überstaatlicher und globaler Ebene darstellen. Die mikropolitische Gestaltung des Nahraums setzt eine Mitwirkung der Beteiligten voraus, für die in der herkömmlichen Halbtagsschule die Anreize schon aus Zeitgründen fehlen. Ausnahmen wie die Helene-Lange-Schule zeigen, dass aktive Schulen und eine aktivierende Pädagogik sich über die Einschränkungen der Halbtagsschule gleichsam aus eigenem Antrieb hinwegsetzen und aus sich heraus zu einer Art Ganztagsschule gelangen. Partizipatorische Unterrichtsformen und selbstregulierte Mitwirkung an der Entwicklung der Schulgemeinschaft ist eine zugleich politische und moralische Herausforderung an die Schule, die in der Ganztagsschule mehr Handlungsspielraum erhält als in der Halbtagsschule, welche die Handlungsspielräume strukturell, nicht nur zeitlich begrenzt. Gemeindenähe und Self-Government in der Schule stellen Herausforderungen dar für eine demokratische Politisierung der Schüler (aber auch der Lehrpersonen, der Eltern und der zivilgesellschaftlichen Akteure des Umfelds), die nicht nur für das soziale Miteinander in der Schule, sondern auch für ihre didaktische Kultur Folgen hat. Auch dies lässt sich an der Entwicklung der Helene-Lange-Schule ablesen: Aus der aktivierenden Pädagogik entwickelt sich mit der Zeit eine aktive und problemlösende Schulgemeinde, eine lebendige Schulkultur, eine in Kooperation und Kommunikation der Mitglieder sich selbst verwaltende Polis. Der Politikverdrossenheit der Jugendlichen, aber auch der Erwachsenen, die sie werden, kann so die Schule ein eigenes Demokratisierungspotenzial entgegensetzen. Nur als demokratische und als demokratieförderliche Lebensform bietet die Schule eine ernsthafte Perspektive zur Prävention rechtsextremistischer Ersatzangebote, an deren Attraktivität die Unzufriedenheit mit einer als sinn- und perspektivlos, freudlos und unfreundlich bewerteten Schule nachweislich einen erheblichen Anteil hat.
5. Kulturelle Aktivierung der Schule
Viele Schule fördern kulturelle Projekte, spielen Theater, unterhalten einen Schulchor oder eine Musikgruppe oder gar ein Schulorchester. Vor allem Gymnasien kultivieren Traditionen kultureller Aktivität, die einem Teil der Schüler die Erfahrung kreativer Beteiligung an der Kultur vermitteln. Unter den 44.000 deutschen Schulen ist dies indes nur eine Minderheit, die die kulturelle Armut des Schulsystems, seine zeitlichen, finanziellen und personellen Zwänge durchbricht. Im Blick auf die kulturelle und künstlerische Aktivierung der Schulen ist eine Kooperation mit sozialpädagogischer Kompetenz und zivilgesellschaftlichen Akteuren eine Hoffnung der zivilen Gesellschaft. Die Schule ist mit dem Rückgang der künstlerischen Fächer zu einer intensiven Kultivierung kreativer Leistungen von Kindern und Jugendlichen in der Schule gegenwärtig nur mit besonderen Anstrengungen und als Normalfall kaum in der Lage.
Der zunehmende Leistungsdruck durch die vergleichende Evaluierung unter schulübergreifenden Standards lässt der Halbtagsschule noch weniger Muße zu spielerischem Ausdruck. Und doch ist für die lernenden Individuen die Entfaltung ihrer kreativen Potenziale für den Lebensvollzug und das innere Gleichgewicht, d.h. für ihre Bildung, besonders wichtig. Umgekehrt ist eine das Leben gestaltende zivilgesellschaftliche Kultur auf die Kultivierung jugendlicher Interessen und auf den Aufbau von Handlungskompetenzen im kreativen Bereich für ihre eigene Qualität angewiesen. Die kulturelle Qualität der Zivilgesellschaft auf lokaler Ebene gleichsam von unten in den Schulen und mithilfe der Schulen aufzubauen erscheint umso dringlicher, als die öffentliche Versorgung mit kulturellen Leistungen durch die Austrocknung der finanziellen Ressourcen, die hierfür ehedem zur Verfügung standen, mittelfristig durchaus gefährdet erscheint. Einerseits kommt es deswegen auf die Kultivierung des Nachwuchses an, der das Bedürfnis nach lokalen und überlokalen kulturellen Angeboten und Leistungen am Leben hält. Andererseits aber kommt es darauf an, Gelegenheiten zu kultureller Selbsttätigkeit zu entfalten, die Kindern und Jugendlichen die Erfahrung eigener schöpferischer Leistungsfähigkeit, ästhetische Wahrnehmungsmuster und kulturelle Perspektiven zu erschließen vermag. Ohne solche Erfahrungen verarmen Bildungsprozesse zu einer Anhäufung bloßer Tauschwertäquivalente auf dem Stellenmarkt. Hier kann die Ganztagsschule eine willkommene Änderung herbeiführen.
Der kulturellen Austrocknung der Schulen kann sie anders als die zeitlich überregulierte Halbtagsschule Chancen kultureller Aktivierung entgegensetzen, für die Pädagogen, Sozialpädagogen und lokale Akteure gemeinsam eine kooperative Basis schaffen können. Die meisten Schulen könnten vor Ort mit Vereinen, lokalen Künstlern, Institutionen der Kunst- und Musikpflege kooperieren. Solche Möglichkeiten sollten genutzt werden, um die Schule als kulturelle Einheit im mikropolitischen Kontext der Kommune zu beleben und für jede Schule eine spezifische kulturelle Identität zu prägen. Damit würde der Schule neben ihrer Aufgabe der Förderung individueller, sozialer und politischer Kompetenzen eine kulturelle Funktion zuwachsen, die ihr in ihrer heutigen Isolierung vom kulturellen, kommunalen und politischen Leben weitgehend fehlt. In anderen Worten: Künstlerische Projekte sind neben den sozialen, kommunalen, aber auch ökologischen Vorhaben besonders geeignet, Entwicklungspotenziale und Realisierungsformen von Dispositionen, Motivationen, Tugenden und Kompetenzen zu aktivieren, auf die zivilgesellschaftliche Daseinsformen in Zukunft mehr noch als heute angewiesen sein werden.
Inklusion und Nachhaltigkeit als Leitwerte
Die Europäische Union hat im Rahmen des sog. Lissabon-Prozesses ein bildungspolitisches Konzept definiert, in dem Menschenrechte, Demokratie, soziale Inklusion und Nachhaltigkeit als Leitwerte definiert sind, denen die Bildungssysteme der Mitgliedsländer verpflichtet sind. Diese sind aufgerufen, ihre Schulen in den Dienst dieser Normen zu stellen. Die OECD hat als Kernkompetenzen, die in den Schulen ihrer Mitgliedsländer die Bildungsprozesse steuern (und die in zukünftigen PISA-Studien überprüft werden) sollen, die Fähigkeit zu autonomem Handeln, die Fähigkeit zu konstruktiver Nutzung der Instrumentarien der Welterschließung (literacies) und die Fähigkeit, in heterogenen Gruppen erfolgreich zu handeln, proklamiert. Der Europarat hat seine Mitglieder aufgefordert, in den Schulen Demokratie lernen und leben zu fördern. Er hat das Jahr 2005 als Jahr der Demokratieerziehung in den Schulen ausgerufen.
Diese Wertorientierungen, Kompetenzen und Lebensformen sind auf fachliche und überfachliche Bildungsprozesse angewiesen, für die das zeitlich prohibitiv eng geknüpfte Raster der halbtägigen Unterrichtsschule nur wenig Gelegenheit bietet. Entgegenkommende Verhältnisse für Bildungsprozesse, die zur Überwindung der Armutskulturen, zur Integration von Kindern fremdkultureller Herkunft, zu Gesundheitserziehung, zu ästhetischer Bildung, schließlich zur Bildung demokratischer Verhältnisse an den Schulen sowie eines demokratischen Habitus der Schüler führen, sind auf die pädagogische Ressource Zeit in den Institutionen angewiesen, die in den Halbtagsschulen einer Organisationsrationalität zum Opfer fällt, die individuelle Förderung und Zuwendung weitgehend verhindert, die Selbstorganisation kooperativen Lernens unterbindet und eine aktive Entwicklungsförderung nicht zuletzt der Benachteiligten des Schulsystems massiv erschwert. Traditionelle wie kompensatorische Bildungsziele, soziale Integration und Chancengleichheit sind auf eine Organisation schulischer Aufgaben und Arbeitsformen angewiesen, die sie aus einer zeitlichen Ordnung löst, der ihrer elementaren Verpflichtung auf Entwicklungsförderung und Kindeswohl systematisch zuwiderläuft.
Von Prof. Dr. Dr. hc. Wolfgang Edelstein
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Datum: 04.09.2006
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