Die Frage „Was brauchen Kinder?“ – wohl bemerkt: im Schulalter – wird in unserem Land nicht so oft gestellt. Sobald Kinder in der Schule sind, liegt den meisten Erwachsenen nämlich eine andere Frage näher: „Was müssen wir Erwachsenen unternehmen, damit die Kinder so werden, wie wir es für notwendig halten? – Wie müssen wir sie erziehen?
Oggi Enderlein
Je nachdem, um welche Erwachsenen es sich handelt, fällt die Frage unterschiedlich aus:
- Bei Politikern lautet sie: Was müssen unsere Schüler wissen und können, damit die deutsche Wirtschaft auch in Zukunft international konkurrenzfähig bleibt und die Renten gesichert sind?
- In der Wirtschaft wird gefragt: Was können wir auf den Markt bringen, was kann zum Modeprodukt „promotet“ werden, damit es die Kids und ihre Eltern kaufen, z.B. Schlabberhosen, Kickboards, Scoubidous?
- Die Krankenkassen interessieren sich für die Frage: Wie können wir erreichen, dass die Kinder wieder schlank werden, damit die Kassen später nicht so viel für Herz- und Kreislauferkrankungen und Diabetes ausgeben müssen?
- Lehrerinnen und Lehrer stellen sich die Frage: Wie kann ich das vorgeschriebene Pensum vermitteln, damit es wenigstens der größere Teil der Schüler/innen versteht und auch beherrscht? Wie kann ich Ruhe in der Klasse herstellen, wie beherrsche ich aufsässiges Verhalten?
- Vater und Mutter fragen (sofern sie an der Entwicklung ihrer Kinder interessiert sind, was leider nicht immer der Fall ist): Was muss mein Kind können, um mit den anderen mitzuhalten? Wie kriege ich mein Kind dazu, etwas zu tun oder zu lassen, was ich will? Welche Leistung muss es bringen, um zu einem vernünftigen Bildungsabschluss zu kommen, damit es später nicht arbeitslos oder gar kriminell wird? Wie halte ich es von schlechtem Einfluss ab?
- Ärzte sehen Kinder meist als Patienten und stehen oft unter dem Druck, Medikamente zu verschreiben, zum Beispiel gegen Zappeligkeit, Konzentrationsschwäche, Aggressivität, Schlafprobleme, Bauch- und Kopfschmerzen.
Wie das Leben aus der Perspektive der Kinder aussieht, gerät dabei oft ins Hintertreffen. Deshalb möchte ich Ihnen zu diesem Thema zunächst ein paar aufschlussreiche Daten nennen. In einem zweiten Schritt wird dargestellt, was Kinder zwischen Einschulung und Pubertät brauchen, um sich gesund zu entwickeln und gut zu lernen. Drittens soll deutlich werden, worauf geachtet werden muss, wenn Kinder einen wesentlichen Teil ihres Tages in der Schule verbringen.
Einige Daten zum Befinden der Kinder in unserem Land
Im Jugendgesundheitssurvey 2003 geben Schülerinnen und Schüler der 5., 7. und 9. Klassen an, dass sie fast jede Woche, mehrmals pro Woche oder fast täglich unter folgenden psychosomatischen Symptomen leiden:
- Müdigkeit/Erschöpfung 46,2 %
- Schlechte Laune/Reizbarkeit 30,5 %
- Einschlafstörungen 26,9 %
- Kopfschmerzen 24,5 %
Für die 5. und 7. Klassen wurde festgestellt, dass 20 % der Schüler/innen zumindest grenzwertig psychisch auffällig sind (mehr Mädchen als Jungen) und 27 % der Jungen Verhaltensprobleme haben. Schule ist Angstfaktor Nummer eins bei Schulkindern – so das jüngste Kinderbarometer aus Nordrhein-Westfalen. Auch aus anderen Studien wissen wir, dass viele Kinder in Deutschland Angst vor der Schule haben. Und gleichzeitig wird Unterricht häufig als langweilig erlebt – je älter die Kinder sind, umso mehr! Erziehungsberatungsstellen machen die Erfahrung, dass die emotionalen Belastungen von Kindern zunehmend häufiger so weit gehen, dass immer jüngere Kinder mit dem Gedanken spielen, sich das Leben zu nehmen. Im Jugendgesundheitssurvey 2003 wurde festgestellt, dass diese Symptome ganz klar mit dem erlebten Schulstress zusammenhängen.
Wenn man sich eine Klasse mit 24 Schüler/innen vorstellt, von denen acht Kopf- oder Bauchschmerzen haben, fünf übermüdet herumhängen, sieben Jungen verhaltensauffällig agieren, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, vier Mädchen voller Sorgen vor sich hingrübeln, fünf als psychiatrische Grenzfälle gelten können, und elf latente Angst haben, dann wird deutlich, dass unter diesen Bedingungen keine gute Arbeitsstimmung aufkommen kann. Zum Glück sind die „normalen“ Schülerinnen und Schüler immer noch in der Mehrzahl, aber auch sie werden durch ihre belasteten Klassenkameraden in ihrem Lerneifer und Wohlbefinden gebremst. Hinzu kommt, dass die belasteten Kinder oft unter mehreren Symptomen gleichzeitig leiden. Auch die Lehrerinnen und Lehrer geraten immer mehr unter Druck, und allen Beteiligten vergeht die gute Laune. Mehr von dieser Art des Schulalltags – auch noch am Nachmittag – wäre deshalb fatal.