… zur Individualisierung des Lernens – ein Paradigmenwechsel
Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Vorabdruck aus dem Material zum Fortbildungsmodul des BLK-Verbundprojekts „Lernen für den Ganztag“ zur individuellen Förderung an Ganztagsschulen. 1 Teile des Textes wurden bereits veröffentlicht unter dem Titel „Ziel jeder Förderung: Selbstgesteuertes Lernen“ in: Schulverwaltung spezial Nr. 2, 2004, S.18 f.
Kein Lehrer, keine Lehrerin muss heute noch davon überzeugt werden, dass Lernen ein höchst individueller Prozess ist, der differenzierte Angebote und Unterstützung, aber auch gezielte Förderung benötigt. Andererseits klagen viele Lehrerinnen und Lehrer in allen Schulformen über enorme Leistungsunterschiede, die durch die Ergebnisse von PISA nachdrücklich bestätigt wurden. Nicht selten steht hinter diesen Klagen auch der Wunsch nach mehr Homogenität beim Leistungsstand und nach mehr Einheitlichkeit bei der Gestaltung des Unterrichts. Dieser Wunsch hat eine lange Tradition. Eine Ursache besteht darin, dass das gegliederte deutsche Schulwesen auf Heterogenität vorrangig mit Verfahren reagiert, die sich schon seit langem als untauglich erwiesen haben, weil sie in erster Linie auf Homogenisierung orientieren und die soziale Selektion manifestieren.
Homogenisierung von Lerngruppen – eine Fiktion
Seit seinem Bestehen hat das gegliederte deutsche Schulwesen mit zahlreichen Formen äußerer Leistungsdifferenzierung (Zuordnung zu verschiedenen Schulformen, Bildungsgängen, Leistungskursen, Jahrgangsstufen) eine Fiktion suggeriert: Es sei möglich, einigermaßen homogene Lerngruppen zu bilden, in denen gleiche Lernanforderungen auf weitgehend einheitlichen Lernwegen erfolgreich realisiert werden können. Dass dies nicht funktioniert und nicht funktionieren kann, ist schon lange klar. Es gibt sogar gute Gründe, dies für die entscheidende Schwäche des deutschen Bildungswesens zu halten (vgl. Lange 2003, S. 36).
Differenzierung unterrichtlichen Lernens
Fatal ist vor allem, dass dieser Wunsch nach Homogenisierung von Lernprozessen zum Leitbild vieler Lehrerinnen und Lehrer geworden ist und auch deren Umgang mit Heterogenität im Unterricht bestimmt. Die hinlänglich bekannten und in der Literatur ausführlich beschriebenen Formen zur Differenzierung unterrichtlichen Lernens (vgl. Paradies / Linser 2001) werden dann vor allem zur Homogenisierung der Leistungsvoraussetzungen in der Lerngruppe eingesetzt. Sie werden aus dieser Sicht als notwendige, aber lediglich zeitweilige Schritte angesehen und realisiert, die auf das unterschiedliche Leistungsniveau der Lernenden reagieren. Vor allem sollen sie aber die Voraussetzungen dafür schaffen, möglichst schnell wieder zum einheitlich gestalteten Lernprozess, zu den von der Lehrkraft vorgeschriebenen Lernwegen zurückzukehren, die sich am „durchschnittlich“ Lernenden orientieren, so die weit verbreitete trügerische Hoffnung vieler Lehrerinnen und Lehrer.
Die alltägliche Unterrichtspraxis bestätigt allerdings stets aufs Neue, dass es den „durchschnittlich“ Lernenden
nicht gibt, dass auf diese Weise individuelle Lernprozesse nicht im erforderlichen Maße unterstützt werden und über andere Förderkonzepte nachgedacht werden muss. Dagegen manifestiert sich die bekannte Erkenntnis, dass auch unter den Bedingungen von Schule und Unterricht Lernen sich letztlich als individueller Prozess vollzieht und demzufolge der individuellen Förderung bedarf. Dabei sollen nicht nur die Leistungen der schwächeren Schüler verbessert und die besonders begabten Schüler systematisch gefördert werden, sondern alle Schülerinnen und Schüler zielgerichtet individuell gefördert werden.
Damit vollzieht sich ein Paradigmenwechsel mit folgender Orientierung: Auf der Grundlage einer konsequenten Akzeptanz der Individualität des Lernens vielfältige Möglichkeiten zur Individualisierung des Lernens suchen und nutzen.
Lernkompetenzförderung statt defizitorientierter Förderkonzepte
Der skizzierte Paradigmenwechsel weg von einem Unterricht, der sich an einem fiktiven Durchschnittsschüler orientiert, hin zur Berücksichtigung der Individualität des Lernens und damit der Heterogenität der Schülerschaft kann nur gelingen, wenn zugleich effektive Wege gefunden werden mit der Unterschiedlichkeit der Lernenden entwicklungsfördernd umzugehen. Es ist bekannt, dass eine an der Homogenisierung von Lerngruppen orientierte Schul- und Unterrichtskultur nicht nur Heterogenität zur Belastung werden lässt, sondern auch zu mechanistischen Förderkonzepten führen kann. Ausgangspunkt solcher Konzepte sind die mit Blick auf die jeweiligen Lernanforderungen und die differenten Leistungsvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler diagnostizierten Defizite.
Wie können aber die Schülerinnen und Schüler selbst an der Steuerung ihrer eigenen Lernprozesse beteiligt werden?
Immer mehr Lehrerinnen und Lehrer sind in den letzten Jahren dazu übergegangen, auf die Vorgabe von Förderkonzepten, die vordergründig auf den Ausgleich von Lerndefiziten ausgelegt sind, zu verzichten. Stattdessen bemühen sie sich verstärkt um ein zunehmend selbst gesteuertes, eigenverantwortliches und motiviertes Lernen. Das schließt auch die Fähigkeit und Bereitschaft zur „Selbstförderung“ ein, d.h. die Lernenden sind zunehmend in der Lage, ihre individuelle Förderung selbst bestimmt in die eigenen „Hände“ zu nehmen. Die dafür erforderlichen Persönlichkeitseigenschaften werden mit dem Begriff „Lernkompetenz“ zusammengefasst:
Lernkompetenz umfasst die Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Gewohnheiten und Einstellungen, die für individuelle und kooperative Lernprozesse benötigt und zugleich beim Lernen entwickelt und optimiert werden. Lernkompetenz verknüpft demzufolge Sach- und Methodenkompetenz, soziale Kompetenz und Selbstkompetenz (personale Kompetenz) miteinander und benötigt die Reflexion über die Lernprozesse und -ergebnisse als unverzichtbare Voraussetzung. (vgl. Czerwanski / Solzbacher / Vollstädt 2002, S. 31)
Systematische Förderung
Lernen als lebenslanger Prozess sorgt dafür, dass die Kinder schon am ersten Schultag recht unterschiedliche Lern- und Leistungsvoraussetzungen mitbringen, die das bekannte heterogene Bild einer Klasse oder einer Jahrgangsstufe prägen. Wenn der Paradigmenwechsel hin zur Individualisierung des Lernens erfolgreich sein soll, muss es darum gehen, die weitere individuelle Entwicklung durch systematische Förderung der Lernkompetenz so zu unterstützen, dass die Kinder und Jugendlichen ihr eigenes Lernen zunehmend effektiver und selbstständig planen, gestalten und reflektieren. Lernkompetenz wird somit letztlich zum Ziel jeglicher schulischer Förderung, das mit defizitorientierten Förderkonzepten nur schwerlich oder gar nicht erreicht werden kann.
Die Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudie der OECD „PISA“ lassen vermuten, dass in Ganztagsschulen für diese erforderliche Individualisierung des Lernens besonders günstige Bedingungen existieren. Zumindest fällt auf, dass in der Spitzengruppe der beteiligten Länder augenfällig viele Länder mit einem Ganztagschulsystem zu finden sind. Offensichtlich bietet die Ganztagsschule zahlreiche Möglichkeiten zur Verbesserung der Lernqualität, sowohl zur Vermeidung von Benachteiligungen als auch für die Förderung besonderer Begabungen. Allerdings verändert die Einrichtung einer Ganztagsschule zunächst nur die äußeren Rahmenbedingungen. Der Erfolg entscheidet sich beim Lernen. Deshalb muss die Qualität der Lernarrangements an einer Ganztagsschule konsequent in den Blick genommen, müssen die sich bietenden Chancen effektiv genutzt werden. Es ist nicht zu erwarten, dass ein Mehr vom Gleichen allein schon zu besseren Bildungsergebnissen führt. Dazu sind zielstrebig an der Schule insgesamt und in den einzelnen Unterrichtsfächern entsprechende Konzepte zu entwickeln und schöpferisch umzusetzen.
Literatur
- Czerwanski, A. / Solzbacher, C. / Vollstädt, W. (Hrsg.): Förderung von Lernkompetenz in der Schule. Bd. 1: Recherche und Empfehlungen. Gütersloh 2002.
- Lange, H.: Wie heterogen sind deutsche Schulen und was folgt daraus? Befunde und Konsequenzen aus PISA und IGLU. In: Pädagogik 55, Heft 9/2003, S. 32 – 37.
- Paradies, L. / Linser, H. J.: Differenzieren im Unterricht. Berlin 2001.
Der Autor, Prof. Dr. Witlof Vollstädt, arbeitet freiberuflich als Erziehungswissenschaftler und Schulforscher am DIALOG-Institut
Dr. Kilian in Kassel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Allgemeine Didaktik, Schulpädagogik, Schulentwicklung und empirische Schulforschung.
Von: Prof. Dr. Witlof Vollstädt
Quelle: Forum Ganztag von der Serviceagentur Ganztag Potsdam
Datum: 8.04.2009
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