… oder wie kommt Lebenswelt in den Unterricht?
Diese Frage stellen sich vor allem Lehrerinnen und Lehrer der Ganztagsschule. Denn sie tragen mittlerweile die große Verantwortung, Ganztagsschule und Lebenswelt zu vereinen – beispielsweise im Projektunterricht.
Projektlernen sprengt herkömmliche Rahmenbedingungen. „Es geht um 180 Grad-Veränderungen. Denn das Zentrum des Projektunterrichts ist eine für die Lernenden zentrale Frage bzw. ein für sie interessantes Lernproblem. Fragen und Probleme finden Kinder bei ihrer Auseinandersetzung mit der Welt. Das kann zu Hause sein, mit Freunden, bei Reisen, aber auch in der Schule selbst. Diese Fragen zuzulassen und in den Mittelpunkt zu rücken, heißt die Schülerinnen und Schüler ernst nehmen, und dann wird Lernen ihre Sache. Dann wird auch Lernen Lebenswelt.“, so Andreas Benkhofer von der Reformschule Hamburg-Winterhude.
Die Bildungsexpertin Silke Traub aus Karlsruhe spitzt das Thema zu: „Wir können gar nicht fragen, ob Schule und Lebenswelt zusammenpassen, sondern sie gehören ganz einfach zusammen. Wenn wir uns mit Lernen beschäftigen, sind die Erfahrungshintergründe der Schüler, ihr Lebensweltbezug einfach ein ganz wichtiger Aspekt, um überhaupt lernen zu können. Die Lernpsychologie geht von fünf Merkmalen selbstgesteuerten Lernens aus, nämlich von selbstgesteuertem, aktivem, kumulativem, einzigartigem und eben auch dem problemorientierten oder situierten Lernen. Man kann das Lebenswelt nennen, man kann das aber auch als Erfahrungshorizont kennzeichnen. Das heißt, wir müssen in der Schule, wenn wir Lernen effektiv gestalten wollen, auch auf dieses problemorientierte oder situierte oder lebensweltbezogene Lernen eingehen. Insofern gehören Lebenswelt und Schule, vor allem Ganztagsschule, natürlich zusammen.“
„Anknüpfen“ und dann …
Silke Traub spricht von kumulativem Lernen und meint, dass an die Erfahrungen der Lernenden „angeknüpft“ wird und dadurch Interesse am Lernen geweckt wird. Motivation ist die wichtigste Zutat für selbstgesteuertes Lernen. Allerdings müssen für Projektunterricht viele Voraussetzungen erfüllt sein. Unpassende Rahmenbedingungen wie Zeittakt, Fächergliederung, Raummangel und viel zu große Klassen hemmen laut Silke Traub nicht nur, sondern verhindern den Projektunterricht. Günstige Bedingunen sind hingegen flexible Zeittaktung, kleinere Klassen, bedarfsgerechte Räume, bestenfalls Werkstätten. Traub beschreibt die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer als Berater und Coachs, die bestärken, hinterfragen und koordinieren. Das ist ungewohnt und kann verunsichern, wichtig ist dabei die Rückendeckung der Schulleitung. Die Selbstorganisation der Schülerinnen und Schüler muss schrittweise vermittelt, dann geübt und reflektiert werden, so dass es zur Routine werden kann. Um diesen Entwicklungsprozess systematisch und verbindlich zu garantieren, schreiben einige Schulen bereits interne Curricula. Die Reformschule Winterhude, die Willy-Brandt-Schule Magdeburg, die Bernsteinschule Ribnitz-Damgarten oder die Erich-Kästner-Schule Hamburg – um nur einige zu nennen – haben Lösungen gefunden. Ansätze, die in den Unterrichtsalltag passen und nun dazu führen, dass Schule Spaß macht und als Lebenswelt verstanden wird.
Jeden Tag Projektunterricht! Was geht? Was geht nicht?
Selbstständiges Lernen braucht nur relativ wenige „Zutaten“. Zunächst eine spannende Frage, die entweder von den Schülerinnen und Schülern vorgeschlagen oder von den Lehrerinnen und Lehrern eingebracht wird. Ersteres ist der konsequentere Ansatz, setzt aber voraus, dass die Fragen in die Ziele der Fachcurricula passen. „Irgendwie gibt es immer eine rasante Frage – in jedem Fach“, meint Schulleiterin Christina Rebbin aus Ribnitz-Damgarten. Dann gilt es, einen passenden Bewertungsschlüssel zu diskutieren. Der legt fest, dass es neben Fachzensuren nun auch „Strategienoten“ geben wird. Selbstorganisation, lückenlose Forschungsbeschreibungen – viele Produkte werden zu Belegen für die sogenannten „Soft Skills“. Je „professioneller“ Schülerinnen und Schüler bei der Bearbeitung eigener Fragen und Lernprobleme werden, desto schneller wird diese Form des Lernens zum Alltag der Ganztagsschule.
Die Friedensburg-Oberschule in Berlin hat ebenfalls einen interessanten Ansatz gefunden und beschreibt diesen als „BOP“ – berufsorientierendes Projekt. Generell geht es bei „BOP“ um die Frage: „Wie bringen wir unser Können und unsere Produkte in die außerschulische Welt?“ Schulleiter Schuknecht setzt nicht auf die bekannten „Mitleidsprodukte“ wie Vogelhäuschen oder Tischdecken, die oft nur von Eltern erworben werden, sondern mitreißende Orchesteraufführungen, den neuentwickelten „Hocker-to-go“, die digitale Radiosendung, den neuesten Blog und ähnliche, vor allem aber zeitgemäße Kreativleistungen. Bildungsexpertin Silke Traub warnt davor, dass Projektunterricht als Allheilmittel dafür steht, dass Schule zur Lebenswelt wird. Wichtig ist, dass eine ausgewogene Mischung mit anderen Methoden gefunden wird. Wenn Ganztagsschule Lebenswelt werden soll, dann sollte sich die gesamte Schulkultur danach ausrichtet.
Lebenswelt und Unterricht kann auch noch anders funktionieren
Wenn es um die Lebenswelt geht, stellt Silke Traub auch die herkömmliche Aufgabenkultur in Frage. „In Schulbüchern, Arbeitsblättern oder bei Aufgaben sollte man nicht so sehr abstrakte oder erwachsenenbezogene Aufgaben stellen, sondern schülerorientierte oder schülergerechte Aufgaben. Das klassische Beispiel ist die Textaufgabe in Mathematik in der 5. Klasse: Dein Vater fährt mit seinem Auto zur Tankstelle und er hat 30 Euro dabei, er tankt soundso viel Liter, reichen die 30 Euro aus, wenn der Liter einen Preis von soundso viel Euro hat. Das ist eine Frage, die am Erfahrungshorizont eines elf- oder zwölfjährigen Schülers völlig vorbeigeht. Weil ein Schüler in dieser Altersklasse in der Regel kein Auto besitzt und damit zum Tanken fährt, also diese Dinge gar nicht so richtig zusammenbringen kann. Und hier könnte man ganz einfach Lebensweltbezüge und Erfahrungshorizonte von Kindern und Jugendlichen mit einbeziehen, indem man solche Aufgaben verändert.“
Lebenswelt beginnt, wo die Schüler eigene Fragen haben. Diese sind ein Indikator für bereits vorhandenes Wissen und für Interesse und werden damit zum Schlüssel zur Lebenswelt. Auf diese Weise zu lernen, ist zukunftsorientiert, denn es geht primar um die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler.
11.04.2012
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