S.- eines der 176 an unserem Projekt beteiligten Kinder – ein blasses dünnes Mädchen, das jeden Morgen zu spät kommt, weil ihre Mutter sie nicht weckt und sie sich morgens selbst versorgen muss. Auch an ihrem Geburtstag steht niemand mit ihr auf und überreicht ihr Geschenke. S. hat keinen Tuschkasten und keine Turnsachen, obwohl die Lehrerin schon viele Mitteilungen an ihre Mutter geschrieben hat. Frühstücksmilch und Mittagessen sind für sie nicht bezahlt, aber S. hat sich Strategien erarbeitet, um auf halblegalem Wege dennoch an das für sie Nötigste zu kommen. Und das ist ihr auch lieber als die Scham, die sie empfindet, wenn eine Lehrerin auf ihre Mängel aufmerksam wird. Bei ihr zu Hause gibt es Geschichten höchstens aus dem Fernsehen. Zweimal in ihrem Leben war sie schon in einem Kino, mit einer Frau vom Jugendamt, die sie manchmal besucht. „Die ist auch in deutsch“, sagt S. „Aber ich bin nicht Deutschland. Ich bin Bosnien.“
In der Anna-Lindh-Schule sind bis zu 90% der am Projekt beteiligten Kinder so genannte ‚ndH-Kinder’, also nicht deutscher Herkunftssprache mit z.T. erheblichem Förderbedarf. 80 % von ihnen wurde zu Schulbeginn eine schlechte bis ungenügende Beherrschung der deutschen Sprache bescheinigt. Ihre Muttersprache: türkisch, arabisch, serbo-kroatisch, russisch, polnisch, georgisch, tschetschenisch, chinesisch, englisch, französisch, spanisch, Hindi, … Die Muttersprache bleibt alltägliches familiäres Kommunikationsmittel, nicht mehr. Die Bindung der Sprache an die Herkunfts-Kultur ihrer Eltern oder Großeltern ist weitestgehend aufgelöst. In der Regel haben die Kinder ein klares Bewusstsein für ihre nicht-deutsche Identität, der Bezug zu ihrem Herkunftsland bleibt unkonkret und vage. Das Deutsche erlernen die am Projekt beteiligten Kinder mit Migrationshintergrund in zwiefacher Form, als Hochsprache im Unterricht und als Soziolekt im Alltag, der den Umgang mit dem Hochdeutsch überlagert bzw. verdrängt. Zudem erlernt ein nicht unerheblicher Teil dieser Kinder eine weitere Sprache, nämlich das Hocharabisch in den Koranschulen, in denen ein äußerst strenges Reglement herrscht.
In diesem Umfeld, in dem auch die Grundschulen mit gravierenden sozialen, kulturellen, religiösen und ethnischen Problemen zu kämpfen haben, siedelten wir unser Projekt an. Dessen Zentrum ist die künstlerische Vermittlung der deutschen Sprache. Es wird verwirklicht von drei an der UdK Berlin ausgebildeten professionellen Erzählerinnen, Sabine Kolbe, Kerstin Otto und Marietta Rohrer-Ipekkaya.
Darüber hinaus begleitet das Institut für Theaterpädagogik an der Universität der Künste Berlin das Projekt.
Die drei Erzählerinnen erzählen den Schülern der 1. /2. Klasse zweimal wöchentlich Märchen. Erzählt werden internationale Märchen, vornehmlich aus jenen Kulturkreisen, aus denen die Familien der Kinder kommen, und zwar in nicht reduzierter, nicht vereinfachter Form. Das Projekt behauptet radikal die Konzentration auf das gesprochene Wort, d.h. eine literarische, vom Alltag deutlich unterschiedene Sprache. Die Märchen werden frei erzählt, nicht vorgelesen!
Die Geschichten werden bewusst nicht auf ein vermutetes kindliches Fassungsvermögen reduziert. Nur in Ausnahmefällen wird bildgestützt erzählt. Auch die spielerischen Sequenzen halten sich in Grenzen. Gearbeitet wird relativ häufig mit Gegenständen, die den Kindern sinnlich-ästhetische Erfahrungen ermöglichen. Aus diesem Erleben hinaus erweitert sich ihr Wortschatz, mit dem sie die gehörten Geschichten nacherzählen und eigene Geschichten erfinden können. Im Verlauf des Projektes haben sich die Proportionen verschoben: immer stärker werden die Kinder selbst zu Erzählern.
Die Praxis des Erzählens war anfangs den Schülern, auch denen ohne Migrationshintergrund, weitgehend unbekannt. Das Fernsehen als omnipräsenter Familienunterhalter bestimmt zu einem Großteil ihren Familienalltag. Märchen- oder Kinderbücher sind in den Haushalten kaum oder gar nicht vorhanden.
M. antwortet auf die Frage, ob es zu Hause auch Märchenbücher habe: „Nein. Aber ich war krank, da hab’ ich ein Buch von Doktor gekriegt. Da les’ ich oft drin. Da steht von Hals. Dass man immer trinken muss und Hand vor Mund.“ Auf die Frage, ob ihnen zu Hause Geschichten erzählt würden, antwortet J.: „Das macht meine Mutter nicht. Weil sie immer telefoniert, am Computer sitzt, und dann ist es dunkel, und dann sind wir im Bett. Manchmal verspricht sie es, aber dann vergisst sie es wieder.
N.: „Meine Mama und Papa macht das nicht. Meine Mama geht an Computer und spielt so. Sie geht ans Telefon: 660060. Dann ist Carsten dran, mein Papa und erzählt von dem Spiel. Da kann man kämpfen. Finde ich langweilig. Meine Mama erzählt nie Geschichten.“
Fragen in Bezug auf die Freizeitgestaltung der Kinder machen deutlich, dass sie – wie auch ihre Eltern – ihre Freizeit überwiegend mit Fernseher und Computer verbringen. Häufig können die Sechs-bis Achtjährigen am Montag-Morgen den „Tatort“ vom Vorabend erzählen. Und fragen die Erzählerinnen nach dem schönsten Erlebnis am Wochenende, so rangieren Fernsehen, Gameboy und Playstation in der Regel auf den obersten Plätzen.
So war die Fähigkeit, einer über das Wort vermittelten Geschichte zu folgen, zu Schulbeginn nur rudimentär entwickelt. Wie machten sich die Erzählerinnen diesen Kindern dennoch ‚verständlich’?
Die Erzählerinnen aktivierten – spontan oder wohlkalkuliert – alle Möglichkeiten ihres expressiven Repertoires und holten damit die Kinder in die Welt der Geschichten, auch wenn einzelne Worte unverständlich blieben. Ihr Erzählen näherte sich immer stärker dem Darstellen an: Unbekannte Begriffe erläuterten sie weniger mit Worten als mit Gesten und über situatives Handeln; Spannungsbögen wurden nicht mehr allein über das Wort, sondern auch über das ‚Anspielen‘ von Figuren und Aktionen aufgebaut.
So erfolgte die Verständigung über vielfältige kommunikative Kanäle, die das Sprechen als interaktiven Vorgang begleiten. Wird eine Geschichte ‚spielend‘ erzählt, dann erscheinen ihre Wörter eingebettet in ein dichtes Netz von sinnlich Wahrnehmbarem, welches für das Miterleben einer Geschichte unverzichtbar ist.
Was ist eigentlich „Hölle“, was bedeutet „ Argwohn“, wohin geht der Prinz, wenn er in eine „Kammer“ geht? Welche „Kunde“ wird „verbreitet“, was macht Großmutter, wenn sie mit Maschenka „schilt“?
Ein „Müller“ ist für sie ein Mann, der den Müll wegbringt, „Donau“ assoziieren sie mit Döner, die „Spree“ mit Spray, „Kohle“ mit Cola… Das sind einige von unzähligen Irritationen, die in den Erzählstunden auftauchen, aber in den seltensten Fällen wie im Deutschunterricht direkt erklärt werden. Am Ende der Geschichte haben die Kinder jedoch in der Regel ohne explizite Erklärung Verständnis für die Bedeutung und Verwendung des neuen Wortes entwickelt. Im besten Falle benutzen sie es selbst, wenn sie die Geschichte nacherzählen.
Die ersten Projekt-Monate waren keine Erfolgsstory und gaben eher zu Zweifeln Anlass als zu Triumphgefühlen. Nur die aller ersten Erzählstunden bestätigten hochgesteckte Erwartungen – und die Erfahrungen der Erzählerinnen, dass sie vor allem hyperaktive Kinder und Kinder mit eklatanten Sprachdefiziten tatsächlich verzaubern können: Die Kinder hörten anfangs fasziniert zu und beendeten die Stunde mit lautem Klatschen und skandieren lautstark „Zugabe, Zugabe!“ Aber der Zauber war schnell verflogen. Der Schulalltag brach in die Erzählstunden ein mit all seiner brachialen Gewalt.
Die Erzählstunden glichen Wechselbädern: Mitunter konzentriertes, lustvolles Zuhören, dann wieder Gebrüll, Schlägereien, Toben, ohne jede Chance, eine Geschichte zu Ende zu führen. Die Gründe des Wechsels waren schwer auszumachen. Keines der bisher verlässlichen Rezepte konnte den Erfolg dauerhaft sichern – Gelingen und Misslingen lagen nahe beieinander. Die Auseinandersetzungen der Erzählerinnen mit diesem Phänomen der unberechenbaren Unruhe nahmen vielfach einen größeren Raum ein als das Erzählen selbst. Nach den jeweiligen Erzählstunden entspannen sich die heftigsten Auseinandersetzungen über den Sinn und die Möglichkeiten des Erzählens von Märchen in dem genannten Umfeld.
War das Konzept eine Überforderung? Sollte das Erzählen reduziert werden zugunsten spielerischer oder anderer kreativer Anteile? Sollte dem Verstehen-Können durch visuelle Medien aufgeholfen werden? Sollte sich die Sprache der Alltagskommunikation der Kinder anpassen?
Nach etwa 4 Monaten wurden erste Erfolge sichtbar, die unseren Ansatz bestätigten: Die Kinder hören jetzt vielfach bis zu 40 Minuten (!) mit sichtbarer emotionaler Beteiligung zu. Sie genießen die Stille, in der man die berühmte Stecknadel fallen hören könnte, sie sprechen Verse und bestimmte Wendungen mit.
Die Einwürfe und Fragen der Kinder sind zunehmend bestimmt von wirklicher Neugier und überraschtem Staunen. Sie geben ihrem Unmut über das Geschehen oder ihrer Freude nicht mehr nur unartikulierten, sondern verbalen Ausdruck, immer stärker von dem Verlangen getrieben, sich in ihren verbalen Rückmeldungen dem poetischen Wortschatz der Erzählerinnen anzugleichen.
Immer häufiger verweisen sie bei neuen Märchen auf ein bereits erzähltes. Mit gewitzten Zwischenbemerkungen beweisen sie ihre Aufmerksamkeit und ihr Verständnis der mitunter komplex gestrickten Geschichten. Besonders im Vergleich zu den erst seit wenigen Monaten neu hinzugekommenen Klassen wird die Entwicklung im Verständnis der Märchenstrukturen deutlich. In einer Geschichte wirft der böse König das Baby ins Wasser. „Was passiert nun mit dem Kind?“ fragte die Erzählerin. „Vielleicht fällt es in einen Wasserfall.“ „Es stirbt“, vermuteten die ’Neuen’.
Die gleiche Frage führte in einer seit Beginn am Projekt beteiligten Klasse zu folgenden Äußerungen: „Aber das war doch ein Glückskind!“ „Vielleicht rettet ihn jemand!“ „Vielleicht wachsen ihm Flügel!“ Immer öfter ahnen die Kinder die Prinzipien des Märchen voraus. Erzählerin: „Er schlief bei einer alten Frau. Was er aber nicht wusste…“ .J: „Ne Hexe!“ Erzählerin: „Beim Sultan angekommen, hielt er um die Hand der schönen Charz an.“ M.: „Ach, jetzt muss er drei Prüfungen machen.“
Beim Nacherzählen (das zunehmend mehr Raum einnimmt) erstaunt immer wieder, an welche Details sich die Kinder erinnern. Kinder, die im Sprachstandstests zu Beginn des Projektes elementare Wörter der deutschen Sprache nicht verstehen konnten, lassen hier ausgefallene Formulierungen hören. Vielfach wird den Kindern beim Versuch, die gehörten Geschichten nachzuerzählen, die Differenz zwischen dem sprachlichen Ausdruck der Erzählerin und ihren sprachlichen Möglichkeiten bewusst. Während sie in ihrem Alltag mit minimalen Satzkonstruktionen ohne Deklinationen und Konjugationen, ohne Futur und Präteritum auskommen, versagen ihre Möglichkeiten plötzlich, wenn die oft komplexen Zeitstrukturen der Märchen dargestellt werden wollen und sie der Plastizität der Schilderung durch die Erzählerin nahe kommen wollen.
I. ist einer der Jungen, der beim Erzählen sichtlich unter seinen sprachlichen Barrieren leidet. Er erzählt sehr langsam, denkt zwischendurch lange nach und sucht in der Erinnerung nach den richtigen Worten. Er wirkt geradezu zerknirscht, wenn er an einer Stelle ins Stocken gerät. Es quält ihn, Dinge nicht erzählen zu können, die eigentlich in seinem Kopf vorhanden sind: „Ich hab noch mehr verstanden. Ich kann bloß die Sprache nicht so gut.“ Dennoch bemüht er sich innerhalb seiner Möglichkeiten, Lösungen zu finden. In der von ihm erzählten Geschichte gibt es eine Verheißung bei der Geburt des Jungen für sein 14. Lebensjahr. Imam probiert sich im Konjunktiv: „Der wird, wenn er 14 wäre, dann würde er die Prinzessin heiraten.“ An anderer Stelle versucht er, das Präteritum zu bilden und arbeitet mit Wiederholung, um die von der Erzählerin sehr intensiv vermittelte Dauer der Reise wieder zu geben. „Und er gang und gang und gang, bis zu einem Baum.“
W. spricht zu Hause nur polnisch und ist erst seit kurzem in Deutschland. Alle Sätze werden von ihr mit dem Hilfsverb ‚hat’ gebildet, zudem verwendet sie grundsätzlich den weiblichen Artikel. Dennoch zeigt sie beim Nacherzählen von Geschichten zunehmend ein Gefühl für die Bedeutung der Wortwahl und sucht stärker nach Worten, die den ausgewählten Äußerungen der Erzählerin nachempfunden sind. „Voller Wut zerknüllte der Räuber den Zettel“, hatte die Erzählerin geschildert und dieses „Zerknüllen“ auf der Zunge zergehen lassen, dass man das Rascheln des Papiers fast hören konnte. Aber nun kann W. dieses schöne Wort nicht genau erinnern und formt in der Suche nach dem richtigen Laut eine ähnlich klingende Kreation. „Er hat den Zettel so geknilcht“ . Im weiteren Verlauf ihrer Erzählung übernimmt sie zum Teil originale Wendungen der Erzählerin und erreicht eine für sie ungewöhnliche Ausdrucksqualität. „Er ruft diese Junge und sagt: Ich habe noch niemals diese Häuschen gesehen! Wo sind deine Eltern? Mit wem lebst du hier?“
Wie bereits erwähnt, begannen die Kinder im Laufe des Projektes, auch selbst Märchen zu erfinden und ihren Mitschülern zu erzählen. Mittlerweile verfügen sie über ein gesichertes Wissen über Märchenstrukturen, Motive und Bilder, die sie in selbst erfundenen Geschichten mit ihrer Alltagsrealität und mit Medienerfahrungen auf oft abenteuerliche Weise vermischen. Kinder, die zu Beginn des Projektes ständig einander ins Wort fielen, hören jetzt einander geduldig und respektvoll zu, und sie sind – als Zweitklässler! -in der Lage, kleine, mitunter noch fragmentarische, zum Teil kohärente Geschichten zu erzählen. Während die Kinder zu Beginn des Projektes mit Mühe kleine Ein-Satz – Geschichten bildeten, lernten sie nach und nach die Lust am Erfinden und Erzählen von Geschichten kennen. Über viele Monate des Hörens und Probierens entwickelte sich die Fähigkeit spannungsvolle Geschichte zu entwickeln, die sich vom Alltagserleben unterscheiden.
Diese Entwicklung sei am Beispiel der 4 Geschichten von M. verdeutlicht:
Ein Teil der anfänglichen Schwierigkeiten, und das war uns eingangs nicht bewusst, lag nicht nur im Bereich der sprachlichen Defizite, sondern insbesondere im Bereich der Phantasie – unabhängig von der ethnischen Herkunft der Kinder. Bei einem erheblichen Teil der Kinder war die Imaginationsfähigkeit blockiert. Andere Platzhalter besetzten ihre Phantasie – in oft erschreckender Weise auch bei den Erstklässlern Sex and Crime. D.h., die Landkarte der Phantasie dieser Kinder ist beschrieben; eingezeichnet aber sind medial vorgefertigte Bilder.
Zu Beginn des Projektes waren besonders die selbst erfundenen Geschichten der Kinder von Gewalt geprägt. So bekamen die Kinder einer zweiten Klasse in einer Stunde die Aufgabe, Lügengeschichten zu erzählen. Die Geschichten der Kinder handelten allesamt von Kämpfen, Töten, explodierenden Bomben. Anwesende Kinder kamen in den Schilderungen der Mitschüler zuhauf zu Tode. S.: „Der hat eine Granate geworfen. Ist explodiert. Valentino hat gestorben und seine Beine waren Salami. Sind sie zu Gott und der hat ihm noch eine letzte Chance gegeben. Sind sie im Haus gegangen. Im Haus war eine Bombe. Das Haus explodiert.“ Die Kinder lachten sich bei jeder Explosion kaputt und wirkten geradezu high, wodurch der jeweilige Erzähler weiter angefeuert wurde. Die Erzählerin fragte die Kinder anschließend, ob sie zu Hause auch Bombenexplosionen spielten. „Ja.“ antwortete M., „im Computer gibt es den Torpedo. Da kann man eine ganze Titanic zerstören.“ Erzählerin: „Und das macht euch Spaß?“ Ein einstimmiges euphorisches „Jaaaa!“ als Antwort.
Diese Art von Kolonisierung der Phantasie korrespondiert mit der Schwierigkeit der Kinder, aus dem gehörten Wort Bilder im Kopf zu erzeugen, also das Gehörte und Gesehene in selbstgefertigte – nicht medial vorgegebene – Vorstellungen zu übersetzen. Der Ausruf eines Jungen: „Jetzt seh’ ich das alles in meinem Kopf!’ kommt einem Durchbruch gleich. Diese Art von Imaginationsfähigkeit ist unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis nicht nur von Gehörtem, sondern vor allem von Gelesenem. Literarische Bildung hat ja nicht nur etwas zu tun mit Lesefertigkeit, sondern in gleicher Weise mit Imaginationsfähigkeit. Auch das muss heute – im ‚digitalen Zeitalter’ – offensichtlich in weit stärkerem Maße ‚trainiert’ werden als im ‚Gutenberg-Zeitalter’. Nur dann kann Literatur tatsächlich ‚ankommen’, kann ein literarischer Text transformiert werden in individuelle Phantasmen, um so den Erfahrungshorizont zu erweitern.
Der durch Literatur vermittelte Zugang zur Welt ist nur möglich über ein dichtes Netz solch individuell geformter, subjektiver Imaginationen. So begann eine Erzählerin, die Kinder nach einer Geschichte jeweils zu fragen, welches Bild sie noch im Kopf hätten. Waren die Kinder beim ersten Mal noch völlig außerstande, eigene Bilder entstehen zu lassen oder gar zu beschreiben, entwickelte sich nach und nach eine Lust am Imaginieren des Erzählten, die sich auch in den Nacherzählungen der Kinder bemerkbar machte. M. erzählt: „Dann ist der Großvater (Väterchen Frost des gleichnamigen russischen Märchens) gekommen mit die Kutsche. Die Kutsche ist wunderschön. Hellweiß und hat eine rote Tür, und sie hat ein weißes Pferd. Eine Feder oben drauf. Hat sie abgesetzt, und dann kam dieser Mann. Er hat einen weißen Bart und so’ ne helle Farbe. Dann ist der näher gekommen, und dann hat er gesagt: Ist dir warm? Mir ist warm. Ist er näher gekommen: Ist dir warm? Mir ist warm. Dann drittes Mal. Und denn hat er ihr kuschelige Sachen rein gemacht, und sie ist eingestiegen.“ Weder das Aussehen von Väterchen Frost und der Kutsche, noch der Unstand, dass er in der Kutsche für das Mädchen „kuschelige Sachen“ ausbreitete, war von der Erzählerin mit einem Wort erwähnt.
Die Langfristigkeit dieser ‚Infusion’ mit den Vitaminen Sprache und Phantasie zeitigt Wirkung: Heute spielen die Kinder im Hort unaufgefordert Märchen nach, und sie ‚spielen’ erzählen: Ein Kind gibt den Erzähler, die anderen hören zu.
Im Unterricht ist das Lehrpersonal verblüfft über den Zuwachs im Bereich der Lexik, der Flexion, der Flüssigkeit des Sprechens und vor allem auch darüber, dass die Kinder immer stärker in der Lage sind, tatsächlich zuzuhören, statt lediglich hinzuhören. „Hinhören“, so eine der am Projekt beteiligten Lehrerinnen der Erstklässler, „das tun sie. Das kennen sie von zuhause. ‚Mach das…, lass jenes…, hör auf…’: Hinhören und Abschalten, das ist der Alltag in den Familien. Aber jetzt kann man richtig sehen, wie sie beim Zuhören anfangen zu denken!“ Zuhören ist eine Grundvoraussetzung menschlicher Kommunikation und hiermit unabdingbar für schulisches Lernen. Auch diese ist über Erzählen vermittelbar.
Alle Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihren Kindern am Projekt teilgenommen haben, beschreiben einen Zuwachs an Konzentration, Kreativität und sprachlichem Ausdrucksvermögen bei den Kindern ihrer Klassen. „Wenn wir jetzt Lesestücke haben und ich sage: Wir lesen jetzt bloß mal bis hierher und jetzt erzählt mir doch mal, was könnte denn passieren? Da kommen die auf so viele Ideen. Und ich hab’ das Gefühl, einige Kinder, die vorher überhaupt nicht so viel geredet haben, die können jetzt auch mitreden.“ Eine andere Lehrerin: „Und dann ist es natürlich fantastisch, die Kinder zu beobachten, wie die da mit offenem Mund sitzen und mit glühenden Augen und mitgehen. Das ist schon sehr, sehr schön.
Wenn manche Kinder mal schlecht drauf sind, und wenn die dann total überdreht sind, wie die Erzählerinnen das einfach schaffen durch ihre künstlerische Art, eben diese Kinder zur Ruhe zu bringen. Dass sie sich so zurücknehmen und innere Ruhe finden.“ Insbesondere solche Kinder, die im normalen Unterricht ständig als schwierig, lern- und konzentrationsschwach auffallen, profitieren von der neuen Situation und dem kreativen, von Leistungsdruck befreiten Zugang zur Sprache und zur Literatur. „F. z.B., auch wenn der manchmal so reinhaut, undiszipliniert ist, die Erzählerinnen bekommen ihn dazu zuzuhören. Also, da kann der schon richtig folgerichtig Sätze formulieren und sich gut ausdrücken, hat schöpferische Ideen, wo man ihm das nicht zutrauen würde.
Der hat so ne richtige Fantasiewelt. Also, im Unterricht ist das alles sehr schleppend“, so die Klassenlehrerin.
H. – ein Junge, der mit gerade acht Jahren bereits zum zweiten Mal wegen massiver körperlicher Handgreiflichkeiten auf dem Schulhof einer Vorladung zur Polizei nachkommen musste, ist es im Unterricht unmöglich, mehrere Minuten still zu sitzen und sich auf eine Sache zu konzentrieren. „Aber bei diesem Erzählprojekt, da ist er so verzaubert, da findet der so seine Insel und entspannt“, stellt die Lehrerin fest. In den Erzählstunden ist H. sehr ruhig, verbale Äußerungen gibt es von ihm kaum.
Insbesondere bei den Kämpfen der Helden gegen Drachen und andere Ungeheuer ist er jedoch sichtlich körperlich und geistig involviert, und manchmal scheint es, als würde er einen Teil seiner aggressiven Energien abbauen, wenn er sich in den Drachen oder den Helden verwandelt. Im Interview sagt H., er schäme sich, vor der ganzen Klasse Geschichten zu erzählen, beginnt jedoch in der etwas intimeren Situation des Interviews eine Geschichte nach der anderen zu erzählen. Dabei benutzt er erkennbar Elemente aus vergangenen Erzählstunden. Seine Geschichten handeln in erschütternder Weise von Verlassenwerden, Verrat, Verfolgung und Tod. Ein Ausschnitt: „Es war einmal ein Wald. Da war nur ein Wildschwein. Nur eins, sonst gar keiner. Das ist gerannt, nach Hause. Da war keiner. „Wo ist Mama?“ hat der so geredet, obwohl da keiner war. Nur so geredet. „Mama!“ gerufen, so laut er konnte. Mutter ist gekommen. „Wo warst du? Ich hab dich gesucht.“ Sagt die Mama: „Ich war die ganze Zeit neben dir.“ „Aber ich hab links und rechts geguckt. Da warst du nicht.“ „Dann war ich über dir.“ „Hab ich auch geguckt.“ „Dann war ich zu Hause.“ Sie hat gelogen. Das war auch nicht seine Mutter. Sie hatte eine Maske und so einen Anzug. Sie waren alle tot. Das hat das Wildschwein nicht gewusst.
W. erzählt gern und viel. Allerdings kostet es Zeit und Mühe, ihren Worten in stark polnischem Akzent zu folgen – oft fehlen ihr zwischendurch Worte, und sie gerät ins Stocken. Im Unterricht wird ihr darum häufig von der Lehrerin das Wort abgeschnitten, auch die MitschülerInnen meiden den Kontakt zu ihr. Im Interview genießt W. die ungeeilte Aufmerksamkeit und erzählt das komplexe Märchen aus der Erzählstunde in der vergangenen Woche in beeindruckender Genauigkeit und Detailtreue nach. Anschließend muss ich ihr das von ihr Erzählte vorlesen, und sie ist vollkommen überrascht und beeindruckt, dass sie allein diese ganze Geschichte erzählt hat. Das hat sie sich nicht zugetraut; das wird ihr auch im Deutschunterricht von niemandem zugetraut.
D. hat massive Sprechprobleme. Er stottert und braucht viel Zeit, um eine Geschichte nachzuerzählen. Immer wieder neigt er zum Aufgeben, wenn die Worte nicht heraus kommen wollen und kritisiert sich selbst. Er genießt es sehr, dass im Interview genug Zeit für ihn vorhanden ist und wird sehr stolz, als ich ihm zeige, wie viele Seiten ich in meinem Buch mit der Aufzeichnung seiner Erzählung gefüllt habe. Er kann die Geschichte gut und zusammenhängend erzählen, stellt sich vieles beim Erzählen bildlich vor und freut sich an diesen Vorstellungen: „Dann kam die wunderschöne Prinzessin. Wie heißt die? Nur Prinzessin? Prinzessin Wunderschön könnte die doch heißen.“ Als ich ihn frage, ob er nicht auch mal den anderen Kindern eine Geschichte erzählen wolle, antwortet er sofort: „Nein. Ich stotter doch.“
Was wir ihnen zugemutet haben, ist enorm viel: Primat des Zuhörens (fast) ohne körperliche/motorische Aktivitäten, Geschichten von erheblicher Länge, erzählt in einer den meisten Kindern noch nicht vertrauten poetischen Sprache; Bilder und Motive, die kaum eine Entsprechung in der unmittelbar sinnlichen und intellektuellen Erfahrungswelt der Kinder haben. Die Gründe des Erfolgs liegen primär in der Langfristigkeit und Dichte der Erfahrungen, die die Kinder mittlerweile machen konnten, im Vertrauen darauf, dass über eine lange ‚Inkubationszeit‘ die Phantasie dieser Kinder mit poetischen Geschichten angereichert werden kann.
Die Erfolge sind – und dies sei mit aller Deutlichkeit hervorgehoben- gebunden an die Professionalität der Erzählerinnen und an die Intensität, die Regelmäßigkeit und Langfristigkeit der Angebote. Was die Erzählerinnen an Zeit, Kraft und Spezialistentum investierten, geht über das hinaus, was ein Lehrer dafür bereitstellen könnte. Erzählen ist eine spezifische Kunst, von der die Schule profitieren kann, wenn ihr dort der entsprechende Platz eingeräumt wird. In einigen unserer europäischen Nachbarländern, in Frankreich, England und Norwegen z.B., ist dies bereits geschehen. Dort agieren professionelle Erzähler in den Schulen und führen die Schüler ein in die orale und literarische Tradition des Landes – ein Beispiel gelungener Integration künstlerischer Professionalität in die Lebens- und Lernwelt Schule.
Das Projekt steht wie ein Solitär in dem skizzierten kulturellen Umfeld.
Um die Nachhaltigkeit zu sichern, haben wir uns bei verschiedenen Stiftungen um Finanzierung beworben, um weiterhin professionelle Erzählerinnen mit ihrem künstlerischem Vermögen als Sprach- und Literaturvermittler in den Schulalltag zu integrieren. Außerdem ist geplant, das Projekt auf andere Brennpunktschulen des Stadtbezirkes auszuweiten. Unser stärkster Verbündeter ist der Bezirksschulrat, Wolfgang Köpnick, auf dessen Inititiative hin sich ca. 30 Schulen um die Integration dieses Projektes in ihren Schule bewarben. Auf diese Aufgabe bereiten sich seit Oktober 06 weitere Erzählerinnen, ebenfalls Absolventinnen der UdK, vor. In regelmäßigen Treffen erarbeiten sie sich ein breites Repertoire an internationalen Märchen und Mythen sowie an didaktischen Möglichkeiten, um die Sprachkompetenz, das literarische Empfinden und die Kreativität der Kinder zu fördern.
Darüber hinaus haben 8 Lehrerinnen und Lehrer der Projektschule an einem Workshop zum Erzählen teilgenommen. Eine dieser Lehrerinnen besuchte zusätzlich im Sommersemester 06 ein Seminar zum Erzählen an der UdK. Diese Lehrerin wird ab September 07 spezielle Erzählstunden in der Anna-Lindh-Schule anbieten.
Für die Hilfe beim Einwerben der Drittmittel zur Finanzierung des dargestellten Projektes sowie für vielfältige inhaltliche Unterstützung ein herzliches Dankeschön an Marie-Agnes von Stechow.
Bundespräsident a.D., Herr Richard v. Weizsäcker,: „beeindruckendes Projekt…Ohne das Erlernen der deutschen Sprache gibt es keine Integration für die Kinder der Einwanderer.“
Herr Prof. Dr. Klaus Ring, langjähriger Präsident der „Stiftung Lesen“,: „Ich kann Ihnen zu Ihrem Projektkonzept nur gratulieren und tue dies ohne jede Einschränkung. Das betrifft nicht nur die inhaltlichen Aspekte und Ihre methodisch – didaktischen Ansätze, sondern auch die Wahl der Partner – in der Schule selbst wie auch in der Universität der Künste (was ich besonders interessant finde).“
Herr Prof. Hartmut v. Hentig: „Dass Ihre Gedanken zur Bedeutung des Erzählens in der Menschenbildung richtig und wichtig sind, können nur Esel bestreiten. Alle großen Pädagogen, auch alle Menschenfreunde und Aufklärer, haben sich der Erzählung und deren Wiedergabe als Mittel der geistigen Ordnung und seelischen Bereicherung bedient.“
Frau Prof. Edith Clever, Professorin an der Universität der Künste, Berlin,: „Was für eine großartige Idee – was für ein sinnvolles Projekt! Eine echte Möglichkeit, die Neugier der Kinder, ihre Phantasie und ihr ganzes Wesen anzusprechen und damit innigst zusammenhängend die Kunst an der Äußerung, ihre Sprachentwicklung zu fördern.“
Der Schriftsteller, Herr Günter de Bruyn,: „Da das Erlernen der deutschen Sprache Voraussetzung späterer Integration ist, scheint mir das Vorhaben der Anna-Lindh-Schule, Migrantenkindern der ersten beiden Schuljahre durch das Projekt „ Erzählen und Spielen“ den Spracherwerb zu erleichtern, viel versprechend….Weiß man doch von sich selbst oder von seinen Kindern, wie stark das Hören von Märchen und Geschichten sprachlich bildet…“
Die Kultursenatorin der Hansestadt Hamburg, Frau Prof. Dr. Karin v. Welck,: „Ich bin beeindruckt von dem innovativen Ansatz, der mit Ihrem Projekt verbunden ist, zumal ich mir vorstellen kann, dass der Modellversuch sehr geeignet ist, die Lesemotivation der Kinder zu fördern. Insbesondere die Idee, den Kindern auch Märchen aus ihrem eigenen Kulturkreis zu vermitteln und so ihre Identität zu stärken, finde ich überzeugend.“
Herr Dr. Michael Naumann, Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“,: „Ihr Projekt zur Sprachförderung von Migrantenkindern ist ebenso notwendig wie in seiner Planung überzeugend….von dem Glück, das es den Kindern bereitet ganz zu schweigen.“
Frau Prof. Dr. Gesine Schwan, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/ Oder,: „Das Projekt…scheint mir ein neuer Ansatz zur Sprach- und Kulturvermittlung zu sein, der sich aber auf jahrhundertealte Traditionen bezieht, die in der Gesellschaft verloren gegangen sind und von den Familien nicht mehr wahrgenommen werden….Ein Erfolg dieses Modellversuches würde sicher zur Nachahmung anregen und damit Nachhaltigkeit gewährleisten.“
Herr Prof. Dr. Kaspar H. Spinner, Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur in Augsburg,: „Einmalig ist die enge Verzahnung von praktischer Arbeit, Maßnahmen der Weiterbildung und wissenschaftlicher Begleitung auf einer fächerübergreifenden Grundlage. Aus Sicht der Schulpädagogik, der Kunstpädagogik und der Deutschdidaktik ist der sorgfältig und überzeugend geplante Berliner Modellversuch von höchstem Interesse.“
Frau Kara Huber: „Seit drei Jahrzehnten bemühe ich mich, mit freiem Erzählen … die sprachlichen Möglichkeiten der Kinder zu erweitern….Ich unterstütze die Initiative nach Kräften und bin bereit, als Patin das Meine dazu beizutragen.“
Das Projekt wurde 2007 mit dem Sonderpreis der Jury des bundesweiten Wettbewerbes ‚Kinder zum Olymp’ ausgezeichnet. Mit dem Preisgeld konnte es über ein weiteres Schuljahr gefördert werden. Mittlerweile gibt es Nachfolgeprojekte in Berlin (Brüder-Grimm-GS, Hermann-Herzog-GS, Trift-GS, Heinrich-Seidel-GS, Lenau-GS, Hansa-GS, Schule an der Marie, Scharmützelsee-GS, Schule am Wäldchen, Aziz-Nesin-GS sowie an zwei Kindertagesstätten (Kita Pfiffikus, Kita am Kleistpark).
Insgesamt wurden bisher mit diesen langfristigen Projekten ca. 2500 Grundschüler erreicht.
Von: Kristin Wardetzky und Christiane Weigel
Bild: www.kinder-zum-olymp.de
Datum: 22.12.2008
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