Schulpraxis in der Schweiz

 

Lernwerkstätten und Lerngärten sind das Thema einer Berliner Exkursion in den Kanton St. Gallen zu vier Regionalen Didaktischen Zentren (RDZ)

Stille. Es ist dunkel. Nur eine kleine Lampe brennt über einer merkwürdig anmutenden Holzkiste. Erwartungsvolle Blicke von 13 Augenpaaren. Der Kamishibai-Mann schlägt zwei Holzklötze zusammen und beginnt zu lesen. „Du groß, ich klein“ heißt die Geschichte vom kleinen Elefanten, der sich vom König der Löwen adoptieren lässt.  Diese Geschichte erzählt Werner Hangartner, Leiter des RDZ Rorschach, den Berliner Besuchern im Stile des japanischen Papiertheaters Kamishibai. Der große Löwe versucht, dem Elefanten die Welt zu erklären – er kennt anscheinend keine Lernwerkstätten. Das können die Mitfahrer und Mitfahrerinnen der Exkursion zu den St. Galler Lerngärten und Lernwerkstätten spätestens nach diesem Besuch nicht mehr von sich behaupten.

Das Konzept der denkenden Hand – Lernwerkstätten und Lerngärten

„Lernwerkstätten sind die Personalisierung, Materialisierung und Institutionalisierung einer partizipativen Lehr- und Lernkultur. Es sind Räume voller inspirierender Materialien, die zum Anfassen und Handeln einladen, zum Staunen anregen und Fragen provozieren, die eigenverantwortlich durch die Lernenden beantwortet werden.“ So definiert Hartmut Wedekind von der Humboldt-Universität Berlin das Konzept der Lernwerkstätten. Das entdeckende Lernen fußt auf der Idee, das Selbstbewusstsein der Lernenden zu stärken und durch Wertschätzung und Partizipation den Weg zu einem demokratischen Miteinander zu bereiten. Auch Erwachsene eignen sich dabei neue Kenntnisse an und arbeiten aus dieser Erfahrung heraus anders mit Schülern und Schülerinnen. Sie vollziehen eine Rollenänderung vom Lehrenden zum Lernbegleiter. Die Instruktion des klassischen Schulunterrichtes weicht einem moderaten Konstruktivismus.

Lerngärten hingegen, die in den Regionalen Didaktischen Zentren – kurz RDZ – im Kanton St. Gallen in der Schweiz eingerichtet sind, gehen einen Mittelweg. Räume mit teilweise über hundert Stationen bieten arrangierte Lernmaterialien mit einem stärkeren Anteil von Instruktion. Tafeln mit zwei bis drei Fragen oder Anleitungen erläutern Versuchsanordnungen, zeigen Arbeits- und Lernwege auf und definieren die angesprochene Altersgruppe.

Sowohl in Lerngärten als auch Lernwerkstätten werden die Arbeitsergebnisse dokumentiert und am Ende der Lernetappe präsentiert. Diese Reflexion erlaubt, sich des zurückgelegten Lernwegs bewusst zu werden.  „Ohne konkrete Fragestellung ist die Kontrolle des Lernerfolges schwer“, gibt Ralph Kugler, Lernberater im RDZ Gossau, zu bedenken. Dieses Thema begleitet die Exkursionsteilnehmer auf ihrer Reise wie der treue Elefant den Löwen.

 

In die Töpfe der anderen schauen

Alle Theorie der Welt ist nichts wert ohne die praktische Anschauung. „Das Denken verändert sich, wenn man die Dinge wirklich sieht“, sagt Hartmut Wedekind. „Durchlauferhitzer“, nennt er schnoddrig die Ortstermine in den vier RDZ Gossau, Rorschach, Wattwil und Rapperswil-Jona. Die Exkursion bietet Gelegenheit für den gegenseitigen Austausch von Gedanken und für praktische Erfahrungen auf verschiedenen Ebenen. Konzeptionelle Fragen der Lernwerkstätten werden genauso diskutiert wie deren Rolle in der Fortbildung der Lehrkräfte. Entsprechend sind sowohl Berliner Lernwerkstatt-Aktivisten als auch Verantwortliche der regionalen Fortbildung in Berlin mit von der Partie. Die Serviceagentur „Ganztägig Lernen“ in Berlin hat die Reise organisiert und dem Lernwerkstätten-Netzwerk ein Dach geliehen. „Eine Lernwerkstatt ist sozusagen der Prototyp des Ganztägigen Lernens“, sagt Charlotte von Wangenheim von der Serviceagentur „Ganztägig Lernen“ Berlin. „Das Lernen kann über den ganzen Tag verteilt werden, und alle Professionen einer Schule arbeiten zusammen.“

Die Besucher erhalten einen Eindruck von den baulichen Gegebenheiten der RDZ, können Kindern beim Lernen in den Lerngärten über die Schulter schauen und genießen nicht zuletzt in Rorschach einen fulminanten Blick über den Bodensee. Sie werden von den Schweizer Gastgebern über die Entstehung der RDZ, die Konzeption der Lernräume, Organisation, Logistik und die finanziellen Strukturen informiert. Ein Augenmerk liegt auf den Möglichkeiten der dezentralen Fortbildung sowie auf der Schweizer Lobbyarbeit. Die herzliche Atmosphäre und freundschaftliche Aufnahme der Berliner und Berlinerinnen ermöglicht eine für beide Seiten fruchtbare Diskussion.

Der Beginn einer wundervollen Freundschaft

 

Im Jahr 2004 war das deutsche Lernwerkstatt-Netzwerk in eine schwierige Phase geraten, da durch zu wenig Aktivität auf der Habenseite der Absturz in die Bedeutungslosigkeit drohte. Dies änderte sich, als 2005 in Berlin die internationale Lernwerkstätten-Tagung stattfand, an der auch die Schweizer RDZ  teilnahmen. Im Herbst 2006 reisten Berliner Lernwerkstattpraktiker auf Einladung von Werner Hangartner nach St. Gallen, im April 2007 erfolgte der Gegenbesuch von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aus allen fünf RDZ in Berlin. Bereits ein halbes Jahr später referierte Hartmut Wedekind wieder in Gossau. Im Anschluss an diesen Vortrag ergab sich spontan eine gemeinsame Begehung des dortigen Lerngartens, bei der die einzelnen Stationen dem Prüfstand der Lernwerkstatt-Philosophie standhalten mussten.

Diese Begehung schob eine neue Auseinandersetzung der Schweizer mit ihren Lerngärten an. In ihrer Folge wurden viele Stationen zugunsten des konstruktiven Prinzips überarbeitet, in Gossau wurde zusätzlich zum ursprünglichen Lerngarten eine Lernwerkstatt eingerichtet. Der bilaterale Austausch zwischen Deutschland und der Schweiz inklusive dem „inspirierenden Ideenklau“(Wedekind) ist mit der jetzigen Exkursion endgültig zur Institution geworden.

 

Die RDZ – Orte des Lernens und der Inspiration

Die Regionalen Didaktischen Zentren des Kantons St. Gallen haben den Auftrag, die Schulqualität zu erhöhen, und verstehen sich als Dienstleister für alle pädagogischen Bereiche vom Kindergarten bis zur Volksschule. Diese umfasst in der Schweiz die Primarschule und die Sekundarschule bis zum neunten Schuljahr.

Das erste RDZ entstand 2003 in Rorschach. Werner Hangartner, Mann der ersten Stunde, hat dort Pionier- und Lobbyarbeit geleistet. In einem Land, in dem Schulrat bzw. Schulrätin ein politisches Mandat ist und in der Regel von Fachfremden ausgeübt wird, ist das herausfordernd. Schon vor 20 Jahren reiste Hangartner zusammen mit seinem Prorektor für Ausbildung in eine der ersten Lernwerkstätten in Kassel. In den Jahren nach 2003 entstanden die anderen RDZ, 2006 wurde das jüngste in Gossau eröffnet.

Der Kanton St. Gallen hat 450.000 Einwohner und verfügt über fünf RDZ, die in der Struktur, nicht aber in der Ausgestaltung gleich sind. Neben den vier RDZ, denen die Exkursion einen Besuch abstattet, arbeitet ein weiteres in Sargans. Jedes Zentrum hat ein eigenes didaktisches Profil entwickelt. Wattwil und Rapperswil-Jona, geleitet von Beatrice Straub und Armin Konrad, bilden als sogenannte Land-RDZ in erster Linie Lehrkräfte fort, während die RDZ in Gossau und Rorschach (Leitung: Johannes Gunzenreiner, bzw. Werner Hangartner) Pädagogischen Hochschulen angeschlossen und auch in der Ausbildung von Studierenden tätig sind.

Dass angehende Lehrkräfte bereits im Studium mit der neuen Lernkultur der Lerngärten konfrontiert werden, bedeutet eine qualitative Veränderung ihrer Ausbildung. Studierende treten in der Schweiz früh in Kontakt mit der Praxis. Sie beginnen in der zweiten Studienwoche als Hospitanten im Unterricht,  ab der vierten Woche unterrichten sie bereits einen Vormittag in der Woche, begleitet durch ihren Mentor. Der Mentor unterstützt die Studierenden auch bei der gegenseitigen Vernetzung und Zusammenarbeit, die nahtlos ins Berufsleben übergeht. Lerngärten sind die Möglichkeit, den angehenden Pädagogen eine „Zweifel-Kultur“, die reflexive Distanz zum Schulalltag, zu erlauben.

Die Lerngärten in den RDZ sind Teil eines Angebotes, dass eine Mediathek, Lernkisten, Seminarräume und teilweise eine Medienwerkstatt umfasst. Die Themen werden jeweils von einem RDZ für den eigenen Lerngarten realisiert. Danach wandern sie durch die anderen vier Einrichtungen, meist im halbjährlichen Rhythmus. Klappern gehört auch hier zum Handwerk. Breite Informationskanäle kommunizieren die Angebote der RDZ. Jede Lehrkraft des Kantons erhält einmal im Monat das „Amtliche Schulblatt“ mit aktuellen Informationen und Terminen, dazu wandern vierteljährlich ein Newsletter und ein Info-Plakat in die Schulen. Die Website, verschiedene Flyer und eine aktive Pressearbeit sind weitere Vehikel der Kommunikation.

Die Dichte des Angebotes im vergleichsweise kleinen Kanton St. Gallen, aber auch die materielle Ausstattung der RDZ sind für Berliner Besucher beachtenswert. Aus der Fülle der neuen Eindrücke und durch die offene Art der Schweizer Kollegen und Kolleginnen entsteht eine angeregte Diskussion.

 

Diskussion im Spannungsfeld der Lernräume

Die Auseinandersetzung während der zweitägigen Reise macht das Spannungsfeld sichtbar, in dem sich die Diskussion um die Lernwerkstätten in Deutschland befindet. Das Prinzip der Lernwerkstatt ist kein statisches System, sondern ein sich ständig weiterentwickelnder Prozess. Die Bandbreite der Argumente ist komplex wie die Lernwerkstätten selber.

 

Instruktion vs. Konstruktion

In den Lerngärten überwiegt die Instruktion, in den Lernwerkstätten schlägt das Pendel in Richtung der Konstruktion aus. Lernwerkstätten erlauben eine offenere Herangehensweise und ein kreativeres, eigenständiges Arbeiten. Lerngärten können aber, so argumentiert eine Teilnehmerin der Exkursion, ein Weg sein, zögerliche und unerfahrene Kollegen und Kolleginnen abzuholen und aufzuschließen. Im RDZ Gossau, in dem Lerngarten und Lernwerkstatt nebeneinander eingerichtet sind, wird an einer vergleichenden Evaluation gearbeitet, die im nächsten Jahr erste Ergebnisse bereithalten soll.

Mindestanforderungen vs. Offenheit

Der Begriff der Lernwerkstatt ist definiert, wenn auch nicht geschützt. Das führt dazu, dass sich viele Angebote – angefangen von der Fortbildungsveranstaltung bis zum kommerziellen Experimentierkasten – mit dem Etikett der Lernwerkstatt schmücken. Dies zu kanalisieren ist Ziel des Netzwerkes. Dabei gibt es Stimmen für eindeutige Standards, andere befürchten den fälschlichen Eindruck einer Exklusivität, der richtige Ansätze in Richtung Lernwerkstätten bereits im Keim erstickt.

Vorbereitungspflicht für Lehrkräfte vs. Konsumierbarkeit

In St. Gallen wird grundsätzlich von Lehrkräften der Besuch einer Einführungsveranstaltung vor Benutzung des Lerngartens verlangt. Da sich in der Praxis die organisatorischen Schwierigkeiten dieses Anspruches zeigen, wird in einigen RDZ eine Aufweichung dieser Regel erwogen. Die niedrigere Einstiegsschwelle führt zu höherer Akzeptanz, die leichtere Konsumierbarkeit verwässert den konzeptionellen Ansatz.

Lernspuren hinterlassen vs. Ergebnisse wegräumen

Im Lernwerkstatt-Konzept hinterlässt jeder Lernende seine Spur, auf die die Nachfolgenden zurückgreifen können. Einige Stimmen plädieren dafür, Lernergebnisse grundsätzlich wegzuräumen („zu entsorgen“). Damit könnte jeder Besucher eigene Wege gehen, ohne sich von den Vorgängern beeinflussen zu lassen.

Mit dem Thema herausfordern vs. Lehrplankongruenz

Die Themenauswahl unterliegt der Entscheidung der Lernbegleiter. In St. Gallen werden alle Projekte evaluiert. Dabei werden auch die Wünsche der Lehrkräfte abgefragt, die gerne Themen sehen, die auch im Lehrplan vorkommen. Lernwerkstatt-Enthusiasten dagegen hoffen auf freie und herausfordernde Themen wie zum Beispiel „Treppen“, „Knöpfe“ oder gar „Grün“.

Aufwand vs. Ökonomie

Die Lernwerkstatt erfordert mehr Aufwand an Platz und Material als ein Lerngarten. Auch das Lernen selbst nimmt mehr Zeit in Anspruch. Besuche in den Lerngärten werden mit zwei bis vier Stunden veranschlagt, eine Dauer, die im Schulalltag leichter zu realisieren ist. Ist der Lerngarten eine Alternative nach rein ökonomischen Gesichtspunkten?

Materialfülle vs. Struktur

Die Lernwerkstatt zeichnet sich durch eine geradezu barocke Üppigkeit der Materialien aus. Diskutiert wird, ob mehr Strukturierung und größere Übersichtlichkeit das Arbeiten in der Lernwerkstatt erleichtert, erschwert oder sogar verhindert.

Zieldiskussion vs. Gibt es überhaupt ein (Lern-)ziel?

Fragt Ralf Kugler nach der Kontrolle des Lernerfolges, impliziert das ein definiertes Lernziel. Im selbstständigen Finden der individuellen Lernfrage kann im Vorfeld kein Ziel benannt werden. Die Frage nach der Kontrolle würde sich damit erübrigen.

Politik der kleinen Schritte vs. Konsequenz des Konzeptes

Äußere Zwänge erlauben nicht immer, eine vollständig durchkonzeptionierte Lernwerkstatt aufzubauen. Reicht auch ein abgespecktes Angebot, um das Lern- und Lehrverhalten zu verändern oder konterkarieren Kompromisse den Transfer von der Lernwerkstatt zum Lernenden?

Vernetzung zur Koalition

 

Die Besucher/innen aus Berlin beeindruckt das Gesamtkonzept, das in St. Gallen hinter allen RDZ steht. Etwas Vergleichbares befindet sich in Berlin erst im Aufbau. Die Vernetzung aller Lernwerkstätten-Beteiligten auf Ebene der Schulen wie der regionalen Fortbildung wird angestrebt. Die Kompetenzen, die vielfältig vorhanden sind, werden so besser ausgeschöpft. Aus vielen Einzelkämpfern, die bereits aktiv sind oder in den Startlöchern stehen, würde eine Koalition. Auf dieser Basis entwickelt sich der quantitative und qualitative Ausbau des Konzeptes „Lernwerkstatt“ fort. Von den Berliner Schulaufsichten können dazu die entscheidenden Impulse ausgehen. Weitere Lehrer und motivierte Multiplikatoren zu gewinnen, ist Hoffnung der Berliner Lernwerkstattler.

Und was passiert mit dem kleinen Elefanten?

Der Elefant wächst dem Löwen naturgemäß schnell über den Kopf. Dieser jagt ihn weg, da er meint, der Kleine wisse nun schon alles. Er kennt wirklich keine Lernwerkstätten. Nach vielen Jahren treffen die beiden wieder aufeinander. Der Löwe ist alt und von seinen Untertanen abgesetzt worden. Der Elefant nimmt ihn mit nach Hause, um sich um ihn zu kümmern. Steif und fest behauptet er: „Du groß, ich klein“.

 

Text: Katharina Kleinschmidt
Fotos: Katharina Kleinschmidt
Datum: 18.01.2008
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