Räume ohne ganztägiges Lernen

Für individuelles, jahrgangsübergreifendes und rhythmisiertes Lernen hat die Gesamtschule Winterhude ein neues Raumkonzept entwickelt. Was aber noch fehlt: Räume, in die sich die Schüler zurückziehen können. Mensa und Schulhof allein reichen dafür nicht aus.

 

 

Über zehn Jahre arbeitete die Schule an ihrem Konzept und stellt nun fest: „Wir haben wirklich eine brauchbare Lernkultur entwickelt, doch keine Räume, um sich davon zu erholen!“ Im Rahmen des Netzwerks Ganztagsschule will die Schule erneut die Raumsuche thematisieren. Rückzug vom Lernen wird an staatlichen Schulen als Luxus verstanden. Die meisten Nachbarschulen suchen noch immer zuerst nach Räumen für das Lernen. An der Hamburger Gesamtschule denkt man mittlerweile auch in die andere Richtung. Benkhofer bringt es auf dem Punkt: „Die Haltung zum Schüler ist die richtige und deswegen geht es uns neben den etablierten Angeboten des individuellen, jahrgangsübergreifenden und rhythmisierten Lernens auch um gemütliche und warme Rückzugsgebiete für unsere Schüler.“

Fast 1.000 Schüler verbringen mit über 90 Lehrkräften, Sozialpädagogen und Erziehern den ganzen Tag gemeinsam. Es gibt die Primarstufe, die Stufen 5-7, 8-10 und 11-13 unter einem Dach. Das Lernen richtet sich an der Stadtteilschule grundlegend an den Schülern aus. Das zeigt ein Blick auf einen Tag eines Schülers der Jahrgangsstufe 5-7. Dieser gliedert sich in „Lern- und Arbeitsfelder“ und staffelt sich nach:

  • Gruppenzeit
    Allmorgendlich trifft sich die Klasse und präsentiert Arbeitsergebnisse des Vortages, diskutiert Aktuelles.
  • KuBa
    In dieser Zeit orientiert sich der einzelne Schüler an Aufgaben mit einem angemessenen Niveau. Die Inhalte sind aufeinander aufbauende Bausteine aus den Fächern Deutsch, Englisch, Mathematik, Methodentraining, Naturwissenschaft und Gesellschaft. Über drei Jahre können die Schüler ihre Pensen bearbeiten. Der Schüler selbst reguliert sich in seinem Pensum über ein Logbuch. In diesem findet er seine anzustrebenden Kompetenzen und erhält konkrete Hinweise, wie er diese entwickeln kann. Alle 14 Tage ist dem Einzelnen ein Feedbackgespräch garantiert. Innerhalb des Logbuchs beschreibt er sein Lernen. Die Schüler lernen das von Anfang an und verstehen die Bedeutung, haben sich daran gewöhnt und sind dafür bereit.
  • Projekt
    Mit der Frage „Was wollen wir machen?“ entscheiden die Schüler, mit welchen Fragen sie die Projektarbeit gestalten. Ziel dieses Angebots ist es, das Denken in Zusammenhängen und die Arbeit im Team zu lernen.
  • EVA
    Die Abkürzung steht für eine eigenverantwortliche Arbeitszeit. Dabei geht es um die Frage: „Was muss ich vertiefen oder nacharbeiten?“. Jeder Schüler hat die Chance, innerhalb von 14 Tagen ein persönliches Gespräch mit seinem Klassenleiter zu führen. Dabei greifen beide auf das vom Schüler selbstständig geführte Logbuch zurück.
  • Mittagessen
    Jeder Schüler nimmt mit seiner Klasse das Mittagessen ein. Danach und davor bieten sich vielfältige Angebote, in denen die Schüler sich bewegen, ausruhen, lesen, nacharbeiten oder kreativ sein können.
  • Atelier
    An zwei Tagen belegen die Schüler Ateliers. In diese wählen sie sich ein und entscheiden je nach Interessenlage. Dort entwickelte Ergebnisse, Erfindungen oder Lernerfahrungen werden auch in der KuBa-Zeit aufgegriffen und mit theoretischen Fragestellungen verbunden. Auf diese „Verlinkung“ wird im Rahmen der individuellen Gespräche im Rahmen der EVA–Zeit geachtet.
  • Werkstatt
    An traditionell organisierten Schulen ist das die klassische „Wahlpflicht-Zeit“. In zwei Werkstätten pro Woche wird die Beschäftigung mit Fremdsprachen aber genauso Musik, Bewegung, Kunst, Literatur, Forschen, Natur und Technik eingebettet.

     

Zeit zwischen dem aktiven Lernen

Die Mensa als Zentrum der Schule ist ein größerer Raum, in dem es um die Mittagszeit hoch hergeht. Die Ausgabezeiten für die einzelnen Stufen sind breit gefächert, jedoch nicht die Belegung von Tischen und Sitzen. Reibereien halten sich zwar in Grenzen, denn das selbständige Lernen sorgt für Gelassenheit unter den Schülerinnen und Schülern. Doch brauchen gerade die „Großen“ Zeit für sich und bleiben auch mal länger am Tisch. Die „Kleinen“ fühlen sich nicht selten gegängelt, weil sie ausweichen müssen. In den kalten Jahreszeiten haben „Kleine“ wie „Große“ nur die Mensa, um sich aus ihren Lernebenen zurückzuziehen. Im Sommer verteilen sich die Schülerinnen und Schüler auf dem weitläufigen Schulhof.

Schaut man am Vormittag in die Räume, so sieht man offene Türen und Schülerinnen und Schüler, die in Gruppen arbeiten, die Lehrerin oder der Lehrer sitzt dazwischen. Das ursprüngliche Konzept des Schulhauses wurde für die neuen Lernumgebungen „verbogen“. Der Architekt ist regelmäßiger Gast der Steuergruppe und revolutionierte mit seinen Ideen Schritt für Schritt das Raumkonzept. Zuwendungen wurden und werden noch immer zu großen Teilen in die Veränderung von Räumen investiert. Da die Schule an einem Punkt angekommen ist, an dem ein verändertes Raumsystem endlich den Vorstellungen einer neuen Lernkultur dient, fehlt nun „lernfreier“ Raum. Wenn das Lernen in Winterhude seine konzeptionellen und räumlichen Rahmenbedingungen gefunden hat, so noch nicht das Entspannen und der Rückzug.

Rückzugsräume als Herausforderung

Unter dem Dach wird nun das PC-Labor seiner Heimat beraubt. Der ausgebaute Dachboden wird eigener Raum für Schülerinnen und Schüler der Stufe 8-10. Wo die Computer aufgestellt werden, wird noch zu überlegen sein. Die Schule selbst betritt mit so definierten Rückzugsgebieten Neuland. Was sind die offenen Fragen?

  • Mehr Unruhe?
    Der Raum ist nicht mehr direkt an die Ebene angelagert. Es entstehen Wege, die nicht nur in der Mittagsfreizeit zurückgelegt werden, sondern auch in Lernpausen und während der selbst verantworteten Lernzeiten. Den Raum nur für den Mittag zu öffnen, erscheint als „Verschwendung“ kostbaren Raums. Eher geht man davon aus, dass auch in diesem selbstständig weitergelernt wird. Wie weit soll dieser Raum einen Wächter erhalten?
  • Randale und Streit?
    Wie viel Vertrauen können wir den Schülerinnen und Schülern entgegenbringen? Was ist, wenn wir uns einmischen, Aufsicht leisten? Mit welchem Regelwerk wollen wir arbeiten, um den Raum zu dem zu machen, was er sein soll? Welche Auswirkungen hat der Raum auf das Bewegen in der Etage der Jahrgangsstufe?
  • Falsch verstandene Freiheit?
    Wie viel Zeit geben wir den Schülern für Rückzug und Ausstieg aus dem aktiven Lernen? Wie oft und wie lange entlassen wir sie in die lernfreien Zonen?

Rückzugsräume sind für Ganztagsschulen eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Die Leitung und das Kollegium bewegen sich bei der Einrichtung und Inbetriebnahme von Rückzugsräumen zwischen „Selbstverwaltung und Kontrolle“ – zwischen Aufsichtspflicht und Selbstverantwortung der Schüler.

Bisher halten sich die Schülerinnen und Schüler in ihren Klassenräumen auf. Bis zu 25 gehören zu einer Lerngruppe. In Winterhude ist das eine „Klasse“. Diese setzt sich aus drei Alterstufen zusammen und verfügt über einen eigenen Raum, der von dem Klassenlehrer und dieser Gruppe belegt und gestaltet wird. Jahrgangsübergreifende Klassen belegen die Räume nach Stufen. Ein Kind lernt ab der Klasse 5 alle drei Jahre in einer anderen und wechselt damit auch den Raum, in dem es sich täglich und ganztägig bewegt. Das „Käfig-Gefühl“ stellt sich nicht ein, weil innerhalb der Etage und damit der Jahrgangsstufe Lernarrangements für Bewegung und Veränderung sorgen.

Diese „Raum-Heimat“ teilt sich eine Klasse innerhalb des sogenannten KuBa-Lernens immer auch mit den anderen Jahrgangsgruppen der Stufe. Die dafür notwendige Lernumgebung wird fachspezifisch auf die vorhandenen Klassenareale verteilt. So gibt es Fach- oder besser Themenräume, die aber gleichzeitig immer Klassenräume sind. Das bedeutet, dass die Materialien für das selbstständige Lernen im Bereich Mathematik nicht in der eigenen Klasse zu finden sind, sondern „nebenan“. In den täglichen und zweistündigen KuBa-Zeiten suchen die Schüler Räume danach aus, in welchem Fach sie Aufgaben bearbeiten möchten.

Zu Rückzugsräumen gibt es keine Alternativen

Auch wenn dieses Lernsetting den Schülern ein entspanntes Verhältnis zum Lehrer bietet, so braucht es im Ganztag eben noch mehr. Immer sind Lehrer dabei. Der Wechsel in die große Mensa ist da keine Alternative, um mal „unter sich“ zu sein.