Studie im Auftrag der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung von Dr. Heike Weinbach
Konzepte und Diskussionen zum Thema “Multiperspektivität im Schulunterricht” sind offenbar Produkte aus dem Kontext reformpädagogischer Innovationsprozesse. Sie lassen sich in Deutschland auf reformpädagogische Ansätze zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in die 1970er Jahre zurück verfolgen. Multiperspektivität bedeutet vom Ursprung her: Lat., multi (viele) und perspicere (durchsehen, deutlich sehen, genau besehen, untersuchen, erkennen, kennen lernen). Es geht also darum, Vieles genau anzusehen, viele Sicht- und Sehweisen kennen zu lernen und zu untersuchen.
Unterbrochen wurde diese Entwicklung in den 1930er Jahren durch die nationalsozialistische Politik, die für das Gegenteil von Multiperspektivität steht: Denken von Einheit und Absolutheit sowie die Praxis der Auslöschung von Vielheit und Differenz. Dieses Denken hat Nachwirkungen, die sich nicht nur bis in die 1970er Jahre und deren erstes weiterreichendes Umdenken erstrecken. Ideen von Wahrheit und Einheit, von Dominanz, von Ausgrenzung und Unterdrückung werden auch heute noch über Bildung, zum Beispiel im Unterricht und in Schulbüchern transportiert. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass Schulbücher von Ideen der Multiperspektivität in einem weit gefassten Sinne bis heute eher frei sind. Multiperspektivitätskonzepte, die in dieser Studie analysiert werden, sind also tendenziell Materialien, die bislang außerhalb des schulpolitischen Mainstreams für die schulische Arbeit produziert werden und zuweilen auch mit außerschulischer Bildungsarbeit zusammenfließen.
Der Begriff von Multiperspektivität, der in dieser Studie zugrunde gelegt und zugleich entwickelt und diskutiert werden soll, setzt bei den Begriffen “multi” im Sinne von (möglichst) “vielen” und dem Begriff der “Differenz” im Sinne von (möglichst ausdifferenzierter) Verschiedenheit und Unterschiedenheit an und sucht nach Definitionen, Konzepten und Kriterien, die dies in didaktische Vorstellungen umgesetzt haben oder einen Ansatz bieten, in diese Richtung weiterzuarbeiten. Die Schwierigkeiten, auf die ich hierbei gestoßen bin, lassen sich folgendermaßen benennen: die Diskussion um Multiperspektivität ist derzeit in der Bundesrepublik überschaubar. Konzepte interkulturellen Lernens, die einem tendenziell oder partiell kulturalistischen Ansatz im Sinne von “Kennen lernen und Betrachten anderer Kulturen als fremder Kulturen” folgen, haben sich im Zuge der Debatten der 1990er Jahre verbreitet. Manche dieser Ansätze bieten Anregungen für Multiperspektivität, wenn sie dafür einer kritischen Befragung unterzogen werden. Die Rezeption von Debatten und Materialien aus anderen Ländern ist bezüglich Multiperspektivität bislang ganz am Anfang. Für diese Studie wurden weitestgehend Materialien ausgewählt, die über einen interkulturellen Lernansatz erklärtermaßen hinausgehen und/oder Ansatzpunkte dafür liefern.
Spiegel eines Bedarfs nach Multiperspektivität
Die Materialien liegen zum Teil in gedruckter Form vor oder sind online abrufbar. Evaluationen und Begleitstudien zu multiperspektivischen Ansätzen liegen, trotz der hohen Anzahl an Schulevaluationsprojekten, bislang kaum vor. Wo dies ansatzweise der Fall ist, wird im Kommentar darauf hingewiesen. Vielmehr könnten Evaluationen selbst kritisch als Spiegel eines Bedarfs nach Multiperspektivität gelesen werden. Hier kann vorab schon ein großer Bedarf für alle Schulfächer und Schulformen festgestellt werden. Gleichzeitig zeigt sich im politischen Raum die Forderung und die Initiative nach Umsetzung von Multiperspektivität in der Didaktik und in den Schulkonzepten. Es entsteht ein interessantes Spannungsfeld, da gleichzeitig politische Vorgaben selbst auch Verwertungs- und Ökonomieschwerpunkte setzen und damit monoperspektivische Richtungen vorgeben.
Beschäftigung mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden
Erst die Kultusministerkonferenz von 1996 hat eindeutige Aussagen zur Gestaltung aller Unterrichtsfächer unter interkulturellen Aspekten gemacht. Bei diesen Vorgaben wird deutlich, dass das Denken der 1990er Jahre auf dieser Ebene durch einen Kulturbegriff und eine daraus kulturalistisch orientierte Didaktik beeinflusst ist und Multiperspektivität und Diversitydenken hier noch keine Rolle spielen. Vorrangig scheint es eher um ein Nebeneinander stellen und Vergleichen von unterstellten kulturellen Unterschieden und unterstellter Andersheit zu gehen, dies scheint hier mit unterschiedlichen Perspektiven assoziiert zu werden, die immer wieder auf ein unterstelltes, vemeintlich “großes Weltganzes” bezogen werden: Unterricht soll “… im Geschichtsunterricht weltgeschichtliche Querschnitte und Quellen, die Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven; im Erdkundeunterricht Untersuchungen zur Raumwirksamkeit kulturbedingter Strukturen; im Gemeinschafts- oder Sozialkundeunterricht die Analyse unterschiedlicher Lösungsansätze für aktuelle politische oder soziale Konflikte und deren (auch) kultureller Bedingtheit; im Religions- oder Ethikunterricht die Beschäftigung mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Weltreligionen verdeutlichen.“ Ansatzpunkte für die genannten interkulturellen Aspekte sind aber nicht auf den gesellschaftswissenschaftlichen Lernbereich beschränkt; in allen Fächern besteht die Möglichkeit, die Inhalte interkulturell zu akzentuieren:
- In Deutsch durch vergleichende Textarbeit, die den Wechsel der Perspektive unterstützt, die Verbreitung weltweit gültiger Erzählkerne untersucht und Erlebnisse sowie Erfahrungen mit Glück und Gerechtigkeit, Liebe und Leid deutlich werden lässt.
- Im Fremdsprachenunterricht – nicht nur bei früherem Fremdsprachenlernen und durch bilinguale Angebote – wird die Begegnung mit den Sichtweisen anderer Kulturen über sprachliche Ausdrucksformen vermittelt und ermöglicht so auch den Zugang zu einer Außenperspektive auf das vertraute und für selbstverständlich gehaltene Eigene. Für zweisprachige Schülerinnen und Schüler trägt die Muttersprachenkompetenz in erheblichem Maße zur Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung bei. Das Angebot in den Herkunftssprachen orientiert sich methodisch-didaktisch an der Lebenswirklichkeit der hier lebenden Kinder und Jugendlichen und räumt monokulturellen, -nationalen oder -ethnischen Inhalten keinen Platz ein.
- Der musisch-künstlerische Unterricht bietet eine nonverbale Ebene, sich Vertrautem und Fremdem zu nähern, unterschiedliche Erfahrungen, Deutungen und Ausdrucksformen wahrzunehmen, andersartige Einsichten zu gewinnen und die darin enthaltenen Spannungsmomente auszuhalten.
- Im Mathematikunterricht kann die Vielfalt kultureller Wurzeln der eigenen Rechenkultur veranschaulicht, die Zahlensymbolik als Ausdruck bestimmter Weltdeutung behandelt oder bei Beispielaufgaben kulturelle Vielfalt repräsentiert werden.” (KMK-Konferenz 1996).
Vorstellung von multiperspektivischen Unterrichtsvorhaben
Die Auswahl von Unterrichtsprojekten oder Ansätzen zu möglichen Unterrichtsprojekten der vorliegenden Studie, folgt einer dargestellten theoretischen Leitlinie zum Thema Multiperspektivität. Deshalb werden in der Studie nur solche Ansätze dargestellt, die ein breites Spektrum von Perspektiven eröffnen oder das Potential dazu aufweisen. Die Darstellung wird ansatzweise einem Querschnitt von Fächern gerecht. Im zweiten Teil dieses Kapitels werden fächerübergreifende Konzepte vorgestellt. Es werden unterschiedliche Schultypen mit den Konzepten angesprochen. Nicht berücksichtigt wurden sowohl aus Zeitgründen als auch Mangel an Material Konzepte für den direkten fachlichen Unterricht an beruflichen Schulen (zum Beispiel für BäckerInnen oder GärtnerInnen oder AltenpflegerInnen etc.).
Die folgenden Checklisten wurden wortgetreu übernommen aus: Handbuch: Sichtwechsel. Wege zur Interkulturellen Schule, hg. v. Niedersächsischen Kulturministerium, Hannover 2000
Ausblick und Schlussfazit der Studie
Für die Umsetzung von multiperspektivischen Ansätzen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft gilt es, die strukturellen Rahmenbedingungen zu reflektieren und die dadurch faktisch gegebenen Widerstände für die Umsetzung. Dazu gehören Effekte, die nach wie vor u.a. aus der postnationalsozialistischen Gesellschaft resultieren (wie zum Beispiel: Missachtung von Verschiedenheit; Respektlosigkeit gegenüber Menschen) sowie aus den strukturellen Rahmenbedingungen (wie z.B. die schleppende Umsetzung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes; die erst seit wenigen Jahren wieder stattfindenden Debatten über Ungleichheit im Schulsystem).
Die Abwesenheit einer Tradition von Diversity und philosophisch-kommunikativen Reflexionskulturen, wie sie sich im angelsächsischen Raum entwickeln konnten, erschwert das Denken und die Entwicklung von multiperspektivischen Lernkonzepten. Dennoch zeichnen sich Veränderungsprozesse ab, die durch Globalisierung und Europäische Prozesse und die dadurch evozierten Austauschprozesse gestärkt werden. Empfehlenswert wäre für die Entwicklung multiperspektivischer Materialen von Erfahrungen in anderen Ländern zu lernen und Anregungen aufzunehmen. Die Frage, ob multiperspektivisches Denken und Lernen einen Schutz vor gewaltförmigen, didaktorischen Ideologien und ihren Praxen herzustellen vermag, sollte in diesem Zusammenhang diskutiert werden. Ebenso wird den Fragen nach den Methoden nachzugehen sein, denn es besteht auch die Möglichkeit, dass durch die Methoden hervorgebracht wird, was mit den Zielen nicht beabsichtigt wird. Ernst zu nehmen wäre auch die Kritik an Multiperspektivitätskonzepten, die diesen partiell das Lernen in die Tiefe abspricht. Zu bedenken gilt insgesamt, dass multiperspektivisches Lernen eine Herausforderung für viele unhinterfragt übernommene Seh- und Sichtweisen ist. Das bedeutet: ein verständisvoller und sensibler Umgang kann bei einer das Denken sehr radikal herausfordernden Lernform hilfreich sein, so dass die Chance besteht, die produktiven und erweiternden Aspekte dieses Lernen annehmen und schätzen zu können.
Diese in sich widersprüchliche Politik drückt sich in der Praxis dann auch in einem nebeneinander Laufen von sehr weitgehenden “neuen” Ansätzen, wie dem der Multiperspektivität und dem Bestehen von traditionellen Unterrichtsmethoden und Vereinheitlichungspraxen aus. Die Studie umfasst einen kurzen Einblick in diesen politischen Rahmen sowie einen Überblick in einige theoretische Debatten zum Thema Multiperspektivität. Die Analyse der Unterrichtsmaterialien erfolgt nach Fächern sowie nach fächerübergreifenden Konzepten. In der Analyse werden die Zielgruppe, der Inhalt, die Methode und die Ziele der Unterrichtskonzepte vorgestellt. Ein kurzer Kommentar soll auf nachdenkenswerte Aspekte aufmerksam machen. Die aus Theorie und Empirie entwickelten Kriterien können nur vorläufigen Charakter haben und bedürfen im Prinzip einer multiperspektivischen Ausarbeitung, also der Beteiligung vieler verschiedener Sichtweisen, da hier nur die Sichtweise der Autorin und ihrer Rekonstruktionen vorgelegt werden kann.
Datum:
1.07.2008
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