Im Programm «Fliegen lernen. Kinder erforschen Naturwissenschaften» experimentieren Vorschul- und Schulkinder gemeinsam in einer Lernwerkstatt. Wie sie dabei Methoden lernen, logisches Denken üben, ihren Wortschatz erweitern und ihr Ausdrucksvermögen verbessern, ist beeindruckend. Doch fast noch erstaunlicher ist der Lernprozess der Pädagogen.
Er riecht, er kriecht und er sieht wenig appetitlich aus. Heute sind die Kinder der Kita «Am Spektesee» und die Schüler/innen der Siegerland-Grundschule in Berlin Spandau einem besonderem Geschöpf auf der Spur: dem Mehlwurm. Aus gut verschließbaren Schraubgläsern, von ihrer Lieblingsspeise Cornflakes umgeben, werden die Kriechtiere ans Tageslicht befördert. Jetzt sollen die Würmer zeigen, ob sie es lieber nass oder trocken mögen, ob sie besser auf Rauem oder Glattem krabbeln oder sogar klettern können? «Ich lass ihn jetzt baden gehen», freut sich Abby (5 Jahre) und tunkt den ersten Wurm ins nasse Taschentuch. Die achtjährige Sarah vermutet, dass sich die Würmer am liebsten verstecken würden. Sie ist bereits das zweite Jahr in der Lernwerkstatt und eine erfahrene Forscherin. Mit Hilfe einer Papprolle, die an einem Ende zugeklebt ist und an deren anderem Ende sie mit der Taschenlampe leuchtet, testet Sarah, ob es die Mehlwürmer ins Dunkle oder ins Helle zieht. Derweil hat Abby ihren Wurm auf den kleinen Sandhaufen verfrachtet. «Auf jeden Fall essen die Sand. Der saut sich voll mit Sand ein und der isst auch Sand», erklärt Abby entrüstet. Während die «Großen» entweder Ekel oder keine Scheu vor dem Würmern empfinden, schwanken die Kindergartenkinder fasziniert zwischen Ekel, Fürsorge und Interesse.
Gemeinsam sind sie seit einem Jahr mit an Bord von «Fliegen lernen. Kinder erforschen Naturwissenschaften». Das Programm ist eine Gemeinschaftsaktion der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) und Boeing in Kooperation mit der RAA Berlin, der Grundschulwerkstatt der Humboldt Universität zu Berlin und der Lernwerkstatt des Berliner Eigenbetriebes Kindergärten NordOst. «Fliegen lernen» ermöglicht es Vor- und Grundschulkindern gemeinsam Naturwissenschaften zu erforschen. An fünf Standorten in Berlin und Umgebung haben dazu jeweils ein Kindergarten und eine Grundschule gemeinsam eine Lernwerkstatt eingerichtet. In ihr dürfen Kinder Fragen entwickeln, unterschiedliche Lösungswege ausprobieren und auf praktische Weise ihr Wissen erweitern.
Mehr Sinn als Verstand
Für die Kindergartenkinder ist die Lernwerkstatt heute eher ein spielerisches als ein wissenschaftliches Erlebnis. Sie bringen die Würmer «ins Bett», baden und trocknen sie wieder ab. Aber sie haben auch genau zugesehen, was die Grundschulkinder ausprobiert haben und ahmen es nach. «Rein mit dir, sofort», schreit Alicia, die gerade versucht, einen Wurm davon zu überzeugen, die Papprolle zu betreten. «Die interessieren sich für die Fragestellungen überhaupt nicht, trotzdem sind sie mit Feuer und Flamme dabei», beobachtet der Erzieher Stefan Arnold seine Schützlinge. Er hat gelernt, sich nicht darüber zu grämen, dass die Kindergartenkinder eher spielerisch als experimentell an die Dinge herangehen. «Insekten suchen im Wald, Tiere anfassen und beobachten, das sind sinnliche Erlebnisse, die man nicht gering schätzen darf», hat Arnold sich überzeugen lassen. Seiner Kollegin Sabine Schmidt macht es viel Freude zu beobachten, wie Kinder in der Lernwerkstatt miteinander umgehen: «Es ist kein Frage- und Antwortspiel. Wenn man sie lässt, hört man so viel heraus von dem, was sie erlebt und erfahren haben».
Gewissenhafte Flugschreiber
Während die Kindergartenkinder noch mit den Würmern spielen, haben Veronika (9) und Tanja (9) ihre Beobachtungen bereits abgeschlossen und beginnen, die Versuchsanordnungen zu zeichnen und die Ergebnisse aufzuschreiben. «Wir haben herausgefunden, dass die Mehlwürmer ins Wasser gehen und manchmal auch auf Sand, aber niemals auf Blätter», erklären sie der Reporterin. Ihr Mitschüler Kassem (8) braucht noch ein bisschen Anlaufzeit. «Ich will auch etwas dazu schreiben, aber mir fällt nichts ein», erklärt er. Dabei hat er Bemerkenswertes zu berichten: «Ich habe zu den Würmern gesagt: Geht auf die Rutsche. Manche haben auf mich gehört, andere nicht». Und dann fällt ihm ein, dass die Würmer auf dem Sandpapier ausgerutscht sind und er schreibt es auf. Kassem will mal Erfinder werden: «Das ist die beste Arbeit, die es gibt, da kann man Dinge erfinden und dann für Millionen verkaufen». Suat (5) ist bereits fertig und beginnt, aus seiner Zeichnung ein Flugzeug zu basteln. Sein Bruder Samet (8) hat vergessen, was die Würmer gemacht haben. Macht nichts, gemeinsam mit Alys (8) startet er eine zweite Erkundungstour. Die bringt Entscheidendes zu tage. So stellt Alys fest, dass die Würmer nicht klettern können weil sie vom Papier herunter gefallen sind. Während die Schulkinder bereits schreiben, zeichnen die Kindergartenkinder das Erlebte. Die Pädagogen schätzen vor allem den freien Austausch der Kinder über die Experimente. Dabei erweitert sich ihr Wortschatz wie von selbst und im Dokumentieren auch ihr schriftliches Ausdrucksvermögen. Die Horterzieherin der Schule, Beate Gilke, verfolgt die Arbeitsergebnisse der Freundinnen Elif und Sarah, die die dritte Klasse besuchen. Beide haben den Test mit der Papprolle und der Taschenlampe gezeichnet, aber unterschiedlichen Ergebnisse zu Papier gebracht. «Das ist ein unheimlicher Fortschritt», freut sich Gilke. Am Anfang haben die Grundschulkinder immer danach geguckt, was der Nachbar oder die Freundin macht, inzwischen trauen sie ihrer eigenen Beobachtung.
«Wie wird Strohhalm geschrieben?», will Sarah (8) wissen und lässt es sich von einem Erwachsenen buchstabieren. Vergeblich versucht Stefan Arnold dagegen eine Antwort auf die Frage zu bekommen, wie man herausfindet ob Mehlwürmer gucken können. Der Hell-Dunkel-Test reicht den Kindern, dass er unterschiedliche Ergebnisse hervor gebracht hat, stört sie nicht. An solchen Punkten kommen die Pädagogen ins Grübeln. «Wir diskutieren sehr kontrovers, ob wir die Sachen einfach hinstellen und die Kinder sich selbst überlassen oder ob wir ihnen mehr Vorgaben machen müssen», berichtet Angelika Haß, Lehrerin in der Lernwerkstatt. Dabei sind es durchaus nicht nur die Lehrer, die den Lernprozess stärker in die Hand nehmen wollen. «Für uns Erzieher ist es auch einfacher, eine Struktur vorzugeben. Und natürlich sind wir auch so gepolt, dass wir Ergebnisse sehen wollen und es uns schwer fällt, Abweichungen zu tolerieren», erklärt Stefan Arnold selbstkritisch. Er ärgert sich manchmal über seine Neigung Fragen zu stellen. Kindern selbst entdeckendes Lernen zu ermöglichen, heißt für ihn, sich zurückzunehmen.
Eltern wollen Einsen sehen
Für die Lehrerin Angelika Haß war es eine ungewohnte, aber fruchtbare Erfahrung, dass sie das Lernen in der Lernwerkstatt offener gestalten kann. Sie glaubt allerdings, dass die Kinder noch viel Anleitung brauchen. «Viele unserer Kinder haben überhaupt keine Fragen, sie haben nicht einmal Interessen. Während Jungen sich wenigstens für Eisenbahn oder Fußball interessieren, bleiben viele Mädchen stumm», erzählt Haß. Sie hat beobachtet, wie die Kinder bereits mit der Erwartungshaltung in die Schule kommen, dass der Lehrer ihnen etwas beibringt. «Ihr größtes Problem ist, dass sie alles richtig machen wollen», bedauert Haß. Dem Streben nach Perfektion, nach Einsen und Zweien und zufriedenen Eltern steht die Arbeit in der Lernwerkstatt diametral entgegen.
Häufig ist der Druck aus dem Elternhaus groß, bestätigt Beate Gilke: «Da wird richtig gepaukt zu Hause». Für manche Eltern ist es eine Katastrophe, wenn sie die Lerntagebücher sehen, die die Kinder in der Lernwerkstatt erarbeitet haben. Anstatt die kreativen Zeichnungen und die Forschungslust ihrer Kinder zu bewundern, schimpfen sie über fehlerhafte Rechtschreibung. Vielleicht hat man ein bisschen versäumt, die Eltern rechtzeitig zu informieren, was ihre Kinder eigentlich tun in der Lernwerkstatt. Erst als mit dem neuen Stundenplan die Lernwerkstatt freiwillig wurde, haben die Eltern im Rahmen eines Elternabends etwas über die andere Art des Lernens erfahren.
Feste Flugzeiten
Angelika Haß hat einen Traum: Dass die Kinder eines Tages wie selbstverständlich ihre eigenen Fragen stellen. Dass sie selbst einen Projektplan entwickeln. Doch so etwas geht nicht von heute auf morgen. «Wenn man damit in der ersten Klasse anfängt, können sie in der vierten Klasse dieses Ziel erreichen», glaubt Haß. Leider können sie in der Siegerland-Grundschule diese Kontinuität gar nicht aufrecht erhalten. Konnten sie im letzten Schuljahr noch zwei Stunden an zwei Tagen die Lernwerkstatt anbieten, drohte nach den Sommerferien das Aus, weil für die Klasse während der Lernwerkstattzeiten keine zweite Lehrerin vorgesehen war und die Klasse nicht geteilt werden konnte. Nun gibt es die Lernwerkstatt nur noch eine Stunde lang, an zwei Tagen in der Woche, freiwillig von 8.15 Uhr bis 9 Uhr, ohne Lehrerin. Eine Notlösung, meinen alle Beteiligten. «Wir bemühen uns dass die Schule wieder mehr Lehrerstunden zu Verfügung stellt», sagt Haß. Noch besser wäre es, wenn die Lernwerkstatt künftig fest im Stundenplan der Schule verankert und regulärer Bestandteil des Sachunterricht würde. Aber das ist, wenn überhaupt, Zukunftsmusik.
Bis dahin müssen sie damit klar kommen, dass der Lernwerkstattraum von allen Kindern den ganzen Tag über genutzt wird. Zwar ist es durchaus gewollt, dass möglichst jedes Kind jederzeit Zugang zur Lernwerkstatt hat. Doch weil andere Lehrer noch nicht mitziehen, ist das eigenständige Forschen den wenigsten Kindern vertraut. Sie nutzen die Räume bestenfalls als Experimentierfeld, im schlimmsten Fall klauen sie, zerstören oder räumen nicht auf.
Längeres Arbeiten an einem Thema ist aufgrund der begrenzten Raummöglichkeiten schwierig. Die vielen Vorschriften in der Schule erschweren die Arbeit zusätzlich. So haben sie ein selbst gebautes Insektenhotel lieber gleich in der Kita untergebracht.
Streiten, lachen und sich zusammenraufen
Mit dem Programm «Fliegen lernen. Kinder erforschen Naturwissenschaften» lernten Erzieher und Lehrer nicht nur eine andere Form der pädagogischen Arbeit, sondern auch einander erstmals kennen. Aus Fremden wurde ein Team. Das ging nicht ohne Kontroversen. «Man merkt schon, dass wir Erzieher ein anderes Denken haben, Lehrer sind zielgerichteter, haben bei jeder Aktion den Zeitplan im Kopf und wollen alles dokumentiert haben», schmunzelt Arnold. Beate Gilke hat sich lange mit Lerntheorien beschäftigt und ist überzeugt davon, dass Lehren, wie es viele Lehrer an ihrer Schule praktizieren, nicht immer und schon gar nicht für jedes Kind das Richtige ist. Sie hält sich an die Devise: Nicht zu viel quatschen, nicht zu viel anbieten, mehr beobachten. «Wir denken mehr ans Kind, Lehrer mehr an die Sachvermittlung», bringt Stefan Arnold die unterschiedlichen Herangehensweisen auf den Punkt. Wichtig ist für alle, dass sie offen darüber sprechen und gemeinsam ausprobieren, was das Beste für die Kinder ist. Und dass der Spaß nicht zu kurz kommt.
Geld macht nicht glücklich
Streit gibt es auch ums Geld. Während die Erzieher/innen die Projektmittel «sensationell hoch» finden, hätten Lehrer/innen gern noch mehr Geld zur Verfügung, um eine Lernwerkstatt mit vielfältigen Anregungen und Materialien aufzubauen. Unterschiedliche Ansichten gibt es auch über die Art der Anschaffungen. Während sich Beate Gilke über vorstrukturierte Unterrichtsmaterialien maßlos ärgert, ist ein Naturwissenschaftslehrer der Schule begeistert von NaWi-Materialkoffern. «Für die 5. und 6. Klasse mag das gut sein, für unsere Kinder ist es unpraktikabel», meint Gilke dazu. Die Kita-Erzieher sind daran gewöhnt, «mit Nichts» zu arbeiten, haben viel Erfahrung darin, Kindern dabei zu helfen, aus Pappkartons, Schachteln, Plastikdosen, Kleber und Stiften wahre Kunstwerke, aber auch Forschungsmaterialien zu bauen. Warum für viel Geld kaufen, was man viel kreativer selbst herstellen kann?
Wo Pädagogen noch dazu lernen
Die konzentrierte Selbstverständlichkeit, mit der die Kinder heute selbstständig zeichnen und schreiben, was sie erforscht haben, war nicht von Anfang an da. Vor einem Jahr, als die Lernwerkstatt begann, hatten viele keine Lust, ihre Beobachtungen und Erlebnisse zu dokumentieren. Auch die Erzieher waren vom Nutzen der Übung nicht überzeugt. «Inzwischen finde ich es gar nicht so schlecht», räumt Beate Gilke ein, «ich merke, wie sie dabei ihre Gedanken sammeln, sich miteinander austauschen und lernen, strukturiert vorzugehen.»
Für die Pädagogen ist die Lernwerkstatt ein Experimentierfeld, in dem sie ihren eigenen Ansatz überprüfen und verändern. So hat Angelika Haß gelernt, «mich ein bisschen mehr zu öffnen, die Kinder mehr selbst machen zu lassen.» Beate Gilke tut vor allem die intensive Zusammenarbeit mit den Lehrern gut. Als Erzieherin im Hort der Schule fehlt ihr der Kontakt. Die Lernwerkstatt ermöglicht ihr, den Standpunkt der Lehrer zu verstehen. «Das ist ein anderer Horizont, der sich öffnet», erklärt Gilke.
Dabei lernen die Pädagogen auch voneinander. Arnold hat sich von den Lehrerinnen abgeguckt, wie sie große Gruppen gut ansprechen können. Außerdem schätzt er an ihnen, dass sie die Dinge durchdachter angehen. Auch schon vor der Lernwerkstatt haben die Erzieherinnen und Erzieher in der Kita versucht, ihre Kinder naturwissenschaftlich zu bilden, sind dabei aber an räumliche und didaktische Grenzen gestoßen. Arnold ist froh, diesen Bereich nun mit der Lernwerkstatt abdecken zu können. Am Ziel sieht er sie deshalb noch lange nicht: «Wir sind noch am Ausprobieren und entwickeln uns weiter. Das ist auch nie zu Ende». Und dabei sieht er ganz so aus, als wäre ihm das Recht.