Lernzeit statt Frontalunterricht

Täglich 90 Minuten Lernzeit stehen auf dem Stundenplan der Grundschule Comenisstraße in Braunschweig. Einzeln, mit Partnern oder in einer größeren Gruppe lernen die Schüler selbständig und fächerübergreifend.  Die offenen Türen bringen die Kinder der unterschiedlichen Jahrgänge zusammen.

Von Britta Kuntoff

Die Comeniusstraße ist ziemlich eng, sehr grade, kaum grün, wenig befahren und gehört mit Sicherheit zu den unauffälligeren ihrer Art.

Mit dem Schulpreis 2013 ausgezeichnet!

Gut zum Wohnen, aber so richtig viel los ist da nicht. Könnte man denken. Ist aber nicht so. Denn genau in der Mitte der Straße im östlichen Ringgebiet von Braunschweig pocht das Leben. Zumindest für engagierte Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher und garantiert auch für die 387 Jungen und Mädchen, die hier tagtäglich durch neue Lehr- und Lernmethoden ihre Möglichkeiten und Stärken entdecken. Die offene Ganztags-Grundschule „Comeniusstraße“ ist ein Impulsgeber für innovative Unterrichtskonzepte und für viele Kinder längst zu einem zweiten Zuhause geworden. 

Montagmorgen, acht Uhr früh. Für jede der 16 Klassen läutet der Morgenkreis der ersten Stunde die neue Woche ein. Was ist in den kommenden fünf Tagen geplant? Steht ein Ausflug auf dem Programm? Wem liegt etwas auf dem Herzen? „Es ist uns wichtig, unsere Kinder so viel wie möglich mit einzubeziehen“, erklärt die Schulleiterin Brigitte Rössing. Der institutionalisierte Morgenkreis oder der Klassenrat in der letzten Stunde am Freitag sind dafür nur zwei Elemente einer Wochenstruktur, die sich von der vieler anderer Schulen unterscheidet. 

Offene Türen

Auf dem Stundenplan stehen täglich neunzig Minuten Lernzeit. „In dieser Doppelstunde bearbeiten die Kinder auf der Grundlage eines Lernplans fächerübergreifend Inhalte, meist aus den Fächern Deutsch und Mathe“, erzählt Brigitte Rössing von dem Projekt, an dem die Grundschule beim Netzwerk Ganztagsschule arbeitet. Die Lernzeit kann mit einer Einführung durch die Lehrkräfte beginnen. Dann gehen die Kinder an ihre Aufgaben in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit. „Vielleicht trifft sich die Klasse noch zwischendurch“, so die Schulleiterin, „im ersten und zweiten Schuljahr hilft ein kleines Bewegungsspiel bei der Konzentration. Zum Schluss kommen alle zusammen, um zu besprechen, was die Kinder gearbeitet haben, ob sie zufrieden mit sich sind und was sie denken, das nächste Mal besser machen zu können.“ 

Beim Konzept Lernzeit greifen Raum und Zeit ineinander. Je eine erste, zweite, dritte und vierte Klasse hat ihr Klassenzimmer auf einem der vier Flure des stattlichen wie freundlichen Schulgebäudes von 1903. In allen findet die Lernzeit zur selben Zeit statt – die offenen Türen bringen die Kinder der unterschiedlichen Jahrgänge zusammen. An zwei Tagen der Woche findet die Atelierzeit statt, in der die Kinder flurgemeinschaftsweise je nach Interesse ihre Zeit in der Turnhalle, im Musik- oder Werkraum oder mit Theaterunterricht verbringen. 

Lernzeit versus Frontalunterricht

Die Lernzeit ist eine Antwort auf die Frage nach einem einheitlichen Schulkonzept der seit 2007 bestehenden Ganztagsschule, das die Kinder zu Selbständigkeit, Selbstverantwortung und zu selbst gesteuerten Lernen führen möchte. „Unsere Kinder kommen mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen zu uns. Wir müssen bei jedem schauen, was es kann, und wie wir es fordern und fördern können. Frontalunterricht allein kann dem nicht gerecht werden“, meint Brigitte Rössing und fügt hinzu: „Die Lernzeit zwingt die Lehrkräfte dazu, sich zu öffnen und individualisierend zu arbeiten. Denn es funktioniert nicht, alle Kinder ständig das Gleiche machen zu lassen.“

Die Einführung der Lernzeit bedeutet denn auch für einige Lehrer einen großen Schritt, den zu gehen sie nicht sofort bereit waren. Unter anderem deshalb, weil Deutsch- und Mathematiklehrer jetzt nicht mehr allein nur ihr Fach betreuen, sondern auch das jeweils andere. „Das ist sicher eine höhere Belastung“, meint Konrektorin Christine Eicke, „die Mathelehrerin fühlt sich natürlich auch für den Deutschunterricht verantwortlich und wird mit den entsprechenden Fragen der Kinder konfrontiert.“

Viel Überzeugungsarbeit auf dem Weg zu einer guten Schule. „Heute gibt es im Kollegium kaum noch Widerstände gegen unser Konzept der Lernzeit“, meint Brigitte Rössing, „und die Eltern sehen, dass der Unterricht selbst im Vertretungsfall gut gelingt, weil die Kinder einbezogen sind und wissen, was zu tun ist. Individualisierter Unterricht verlangt von den Lehrern eine intensive Vorbereitung, dafür aber ist die Durchführung sehr viel einfacher als etwa die des Frontalunterrichts.“

90 Prozent sind in Angeboten

Gut vorbereitet und fürsorglich durchgeführt – das gilt auch für das Nachmittagsprogramm. Derzeit können die Kinder aus 80 AGs wählen, an offenen Angeboten wie etwa Skateboard fahren, Modellieren und der Schmuckwerkstatt teilnehmen oder aber einfach nur im Schulhaus sein. Alles ist freiwillig, fast alle sind dabei: In diesem Jahr haben sich neunzig Prozent der Schüler für mindestens eine der AGs gemeldet. „Die haben das Gefühl, sie verpassen was, wenn sie hier um ein Uhr nach Hause abtransportiert werden“, erzählt Christine Eicke lachend. 

Die breite Palette an Möglichkeiten am Nachmittag ist ganz wesentlich das Ergebnis der Kooperation der Schule mit dem Kinderhaus des Kulturzentrums Brunsviga, die seit 18 Jahren besteht. „Wir hängen das Programm Ganztag nicht einfach an den Vormittag an. Das Leben und Lernen ist miteinander verzahnt“, erklärt Ute Wasserbauer, die das Kinderhaus leitet. Jeder Raum der Schule wird für den Nachmittag genutzt, ob für die Nähstube oder die Portraitmalerei. Viele Projekte aus der zweiten Hälfte des Schultages, wie etwa der Chor finden ihre Zuhörer am Vormittag. 

Der Übergang vom offiziellen Unterricht zum Nachmittag ist fließend. Jeder Klasse sind feste Erzieherinnen und Erzieher zugewiesen, die kurz vor Unterrichtsschluss zu den Kindern kommen und sich mit den Lehrkräften absprechen. Hat ein Kind Bauchweh? Gab es Streit? Worauf gilt es heute zu achten? Die Erzieher gehen mit den Kindern zum Mittagessen und gestalten die Zeit bis zum Beginn der AGs. „Alles, was wir hier machen, soll für die Kinder einladend sein“, bestätigt Ute Wasserbauer den Eindruck, mit dem die Schule jeden ihrer Besucher empfängt.

Der elfjährige Brian-Steven jedenfalls geht gern zu seiner Schule, egal zu welcher Uhrzeit: „Mir machen vor allem Musik und  Mathe Spaß, weil ich mir die Aufgaben dazu aussuche. Und dass ich hier Bogenschießen und Trommeln kann, ist echt cool.“

 

16.10.2011
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