Herr Prof. Dr. Ramseger, Sie betonen das Konzept des entdeckenden Lernens. Wieso passt das Konzept der Ganztagsschule damit so gut zusammen?
Als wir 1979 an der Wartburgschule in Münster die erste offene Ganztagsgrundschule des Landes Nordrhein-Westfalen gegründet haben, war es das Erste, alle Lehrmittelräume zu öffnen, die Lehrmittel aus den Sammlungen heraus zu holen und mitten in die Klassenzimmer zu stellen, einschließlich der Physikgeräte, einschließlich der Chemikalien, die vom Chemieunterricht der Hauptschule drin standen, alles offen hin zu stellen und den Kindern greifbar vor Augen zu stellen. Da hing das Werkzeug, da stand ein Globus, da standen die Atlanten, da standen Bücher – keine Schulbücher, sondern Sachbücher, Erwachsenenbücher! – das heißt Dinge, die den Geist anregen.
Ich stelle mir eine gute Ganztagsschule so vor, dass sie viele offene Werkstätten und Labore hat und die Schülerinnen und Schüler sich anregen lassen können: Was gibt es in der Biologie zu entdecken, was gibt es in der Physik, was gibt es in den Sprachen, was gibt es in den Künsten, in der Mathematik? Und dass sie hingehen können wie an ein Frühstücksbuffet und sagen: Ich möchte diese Woche Seidenmalerei ausprobieren, ich möchte im nächsten Halbjahr mal Biochemie versuchen, ich möchte übernächsten Monat mal an einem Tanzkurs teilnehmen oder auch: Ich will meine Defizite in Englisch in einem Intensivkurs überwinden. Und dass ein solches Angebot von Künsten und Wissenschaften für die Kinder bereit steht, dazu eine sehr gute Bibliothek und eine sehr gute Mediothek, ein Angebot an angenehmen Räumlichkeiten, Dinge, die den Geist wecken, Dinge, die mich dazu bringen, Fragen an die Welt zu stellen. Und Lehrer, die den Schülern zur Seite stehen und sagen: „Okay, du hast eine biologische Frage an die Welt, ich bin Biologielehrer, guck mal dahin, da findest Du Antworten! Und schau, wen wir noch in die Gruppe holen können, damit wir möglichst viel zusammen lernen können!“
Schule als eine große Angebotskultur, die ständig neue Ideen für den Geist bringt und mich dauernd wieder zwingt, was Neues zu sehen und zu staunen, aber auch immer die Möglichkeit bereit stellt, diesem Staunen in einem systematischen Lerngang nachzugehen.
Die Schule Salem operiert ja seit 100 Jahren mit dem Spruch von Kurt Hahn „Werde, der Du bist!“ Den Spruch finde ich gut, weil eine gute Ganztagsschule die Chance hätte, die Kinder jeden Tag auch zu fordern und zu sagen: „Was ist heute Dein Projekt?“ Und wenn sie das täte, dann würde sie die Kinder in die Verantwortung für ihre eigenes Lernen nehmen und würde gleichzeitig den Kindern auch den Stolz geben, ein eigenes Projekt zu verfolgen. Und dann gibt es vielleicht weniger dieses Zurücklehnen und Aussteigen, wenn ich merke: Ich arbeite ja für mich! Dieser Gedanke ist nicht immer allen Kindern bewusst. Aber wenn die Pädagoginnen und Pädagogen sie täglich fragen: „Was ist dein Projekt heute?“ oder „Was ist dein Projekt für den nächsten Monat?“, dann haben die Schüler eine Chance zu sagen: „Ich habe das oder das vor.“ Und dann brauche ich Lernbegleiter, dann brauche ich auch Herausforderungen, aber ich merke. „Es ist mein Ding!“ Und es ist wichtig, dass die Kinder das spüren! Und wenn Schule das nicht wenigstens einmal in der Woche vermittelt, dann ist sie hoffnungslos. Ganztagsschulen hätten mehr Möglichkeiten, so etwas zu vermitteln, als Halbtagsschulen mit ihren eng gedrängten Zeitplänen.