Die Ganztagsschule Gießen-West ist Vorreiter in der Entwicklung von Ganztagsschule in Hessen. Die Schule strebt eine qualitativ hochwertige und zukunftsweisende Bildung und Erziehung. Dabei setzt sie auf enge Bindungen und Beziehungen – von Schülern, Lehrkräften und allen anderen pädagogischen Mitarbeitern.
Von Britta Kuntoff
Kristina Bartak ist alles andere als langsam. Aber für ihren Weg quer durch das Schulhaus braucht die Rektorin dennoch erstaunlich viel Zeit. Das Gebäude der Grundschule Gießen-West ist eben groß. Viel Platz für die 330 Schülerinnen und Schüler. Der eigentliche Grund aber, weshalb Kristina Bartak selbst für kurze Gänge stets ein paar zusätzliche Minuten einplanen muss, ist, dass sie ständig aufgehalten wird. Egal, wo sie auftaucht, immer gibt es irgendwo ein Kind, das auf sie zuläuft, ihr dringend etwas erzählen muss oder sie einfach nur umarmt und drückt.
Die Grundschule Gießen-West ist in Sachen ganztägiger Bildung ganz weit vorne. Kein Wunder, 1971 als erste Ganztagsschule in Mittelhessen gegründet, hat sie über 40 Jahre Erfahrung damit. Rhythmisierung, Schule als Lern- und Lebensort oder individuelle Förderung – das sind nur einige der Aspekte, an denen hier gearbeitet wird. Seit Jahrzehnten.
Gemischter Ganztag
Die Jungen und Mädchen der Klassenstufen eins bis vier werden vierzügig unterrichtet, eine Klasse pro Jahrgang besucht die Schule nur vormittags. Alle anderen Schüler werden im gebundenen Ganztagsangebot unterrichtet. Um 7.30 Uhr öffnet die Schule, bis um 16 Uhr können die Kinder bleiben. Die Jungen und Mädchen im ersten und zweiten Schuljahr müssen erst um 10 Uhr zum Unterricht erscheinen, können aber gern früher kommen und ihre Zeit mit Tischfußball oder etwa mit Würfelspielen verbringen. „Die Ganztagsklassen ermöglichen uns eine konsequente Rhythmisierung und einen geregelten Tagesablauf“, sagt Kristina Bartak, „das ist enorm wichtig, denn Rituale geben Kindern Stabilität.“
So wie der Morgenkreis mit Liedern und Spielen, mit dem der Schultag beginnt. Es folgen zwanzig Minuten Spielpause und dann ein Unterrichtsblock von neunzig Minuten. Nach einer weiteren Pause bleiben noch 45 Minuten, um das Gelernte nachzuarbeiten. Nach dem Mittagessen um halb eins können die Kinder drinnen und draußen spielen, von 13.30 bis 15 Uhr folgt Unterricht. Wer noch eine Stunde länger bleiben will, kann das Spätangebot nutzen und kickern, Stelzen laufen, in der Bibliothek lesen oder zwischen den Büchern einfach kurz einschlafen.
Ganztagsschule als Lebensraum
„Wenn man Ganztagsschule ernst nimmt als Lebensraum und als Haus des Lernens, dann müssen Lernerfahrung, Ausruhen, Freizeit, Kreativität und intellektuelle Herausforderung tatsächlich über den ganzen Tag verteilt und möglich sein“, ist sich die Schulleiterin sicher. Dann spielt es auch keine Rolle, ob die Arbeit am Wochenplan nachmittags stattfindet und der Vormittag einer ist, an dem die Schüler auf dem weitläufigen Schulhof mit den Liegerädern aus dem Fuhrpark fahren. Oder wie die Bärenklasse an diesem Tag mit den Lehrerinnen aus dem Schulleitungsteam Anke Judt und Andrea Häuser das Schullied singen.
Kristina Bartaks Vorstellungen eines guten ganztägigen Schullebens gehen weit hinaus über die Idee eines Halbtagsbetriebes, an den ein Nachmittagsangebot angehängt wird. „Wir wollen nicht zwei Teile, die passend gemacht werden, sondern ein Ganzes, einen runden Schulalltag“, fordert sie. Jede Lehrkraft an der Grundschule Gießen-West ist für den ganzen Tag eingeplant. „Das Konzept der Bindung und Beziehung spielt bei uns eine große Rolle. Die Kinder sollen ihre Lehrkräfte und alle, die mit ihnen arbeiten, so oft wie möglich sehen, und zwar an allen Zeiten des Tages.“
Mittagessen
Auch beim Mittagessen. Heute gibt es Cannelloni. 200 Kindern und ein Dutzend Erwachsenen essen, alle zusammen, alle zur gleichen Zeit. Tellerklappern, freundliche Gesichter und Lachen. Ein bisschen wie in einer großen Familie. „Das gemeinsame Essen bringt meine Schüler und mich noch näher zusammen“, sagt Nina Heidt-Sommer, die Klassenlehrerin der Fischklasse.
Zwei Tische weiter sitzt eine der Seniorinnen, die eine Klassenpatenschaft übernommen hat. „Alle unsere Mitarbeiter wie Sozialpädagogen oder die Forschungsbiologin kommen regelmäßig und sind fest an den Schulbetrieb angebunden“, erzählt Kristina Bartak, „es geht uns bei allem um Kontinuität.“ Das zeigt sich zum Beispiel an der Grundschullehrerin und dem Förderschullehrer, die beide seit sechzehn Jahren ein Team bilden und in Doppelbesetzung die Klassen, in denen Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf integriert sind, vom Anfang bis zum Ende ihrer Grundschulzeit unterrichten – gelebte Inklusion.
Heterogene Schülerschaft
Beständigkeit, aus gutem Grund: „Unsere Schülerschaft ist sehr heterogen, sowohl was Nationalitäten als auch was soziale Schichten angeht“, meint die Schulleiterin, „einige Kinder leben an der Armutsgrenze oder in anderen schwierigen Verhältnissen. Bei uns finden auch die, die zuhause keine feste Verbindlichkeit haben, sichere Zuverlässigkeit.“
Ein Ort, an dem Kinder einen ganzen Tag verbringen, muss möglichst ihren Bedürfnissen nach Raum und Platz zum Spielen, Wohnen und Leben entsprechen. In der Grundschule ersetzen die Flure so genannte Begegnungsfelder, in denen Gruppenarbeit oder eine Theateraufführung möglich ist. Jeweils zwei Klassenräume haben Schiebetüren und sind außerdem über ein Zimmer verbunden, das unter anderem für gezielte Förderung genutzt wird. Glaswände in allen Räumen: Sich sehen können und transparent bleiben.
Im Zentrum der Schule liegt der Innenhof. Nina Heidt-Sommer und ihre Kollegin Michaela Kammler arbeiten innerhalb des Netzwerkes Ganztagsschule daran, ihn in ein „grünes Klassenzimmer“ und in eine Begegnungsstätte für Schüler und Lehrerkräfte, für Eltern, für Lerngruppen oder einfach nur zum Feiern umzuwandeln.
Es ist Advent. Im Gymnastikraum stapeln sich die Geschenkkartons für die Kinder eines rumänischen Dorfes. In ein paar Tagen wird die Verbindungstür zum Essensraum geöffnet, und ein großer Saal entsteht für den Weihnachtsbasar mit Plätzchen, eingelegter roter Beete oder gefüllten Weinblättern. „Dann kommen alle“, erklärt Kristina Bartak, „die Oma, der Onkel oder der Vater mit dem Baby im Kinderwagen.“ Draußen klopft Virginia ans Fenster und gestikuliert der Rektorin freudestrahlend ein „Hallo“ vom Pausenhof.
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