„Inklusion heißt Lernen ohne Gleichschritt“

DKJS/D. Ibovnik
DKJS/D. Ibovnik

Inklusion ist weit mehr als das gemeinsame Lernen von behinderten und nichtbehinderten Schülern. Der Hamburger Bildungswissenschaftler Prof. Thomas Trautmann beschreibt Inklusion als die Vision, allen Kindern gerecht zu werden. Eine Vision, die umsetzbar ist. An Schulen, die sich trauen, Unterricht und die Rolle von Pädagogen zu verändern.

Inklusion ist in aller Munde. Woher stammt der Begriff?
Thomas Trautmann: Wenn ich nicht irre, ist der Begriff in den 70er Jahren im angloamerikanischen Sprachraum zum ersten Mal aufgekommen. Dann hat ihn die UNO übernommen und seit zehn bis zwölf Jahren sprechen wir auch in Deutschland von Inklusion. Er ist entwickelt worden als Weiterdenken von Integration. Man hat gemerkt, dass Integration – also das Hereinnehmen von Andersartigen in Gruppen – zwar eine Verbesserung für das Individuum wie des Systems bringt, dass dies aber nicht genügt. Es muss stattdessen grundsätzlich neu gedacht werden hin zu einem Lernen ohne die Querbalken der Beschränkung wie der Spruch „Das lernst du erst später“. Inklusion ist aus meiner Sicht sowohl eine Vision, sie ist aber auch die Beschreibung eines Weges.

Welche Vision haben Sie dabei genau vor Augen?
Inklusion heißt, allen Kindern gerecht zu werden und die Sortierung von Heranwachsenden einzuschränken und am besten ganz zu verhindern. Kinder mit Beeinträchtigungen, mit Behinderungen und besonderen Begabungen lernen in ihrer Vielfältigkeit gemeinsam an einer Schule. Beim gemeinsamen Lernen geht nicht nur um Wissen, Können, Leistung oder soziales Lernen, sondern um eine produktive Melange aus allem. Allen Kindern gerecht zu werden, heißt aber auch, Schulen als lernende Organisationen zu begreifen, die zum Beispiel mit der Fragen zu kämpfen haben: Werden die leistungsfähigeren Kinder nicht in ihrer Entwicklung gehemmt?

Werden sie Ihrer Meinung nach gehemmt?
Nein werden sie nicht. Studien belegen ganz im Gegenteil, dass sie eigentlich durch immer Gleiches unterfordert werden. Gleichzeitig können Kinder mit Beeinträchtigungen besser an solch einer Schule lernen als an einer Sonderschule. Auch da zeigen Studien, dass sie in kleinen Gruppen an Sonderschulen nicht so gefördert werden, wie es an einer gemeinsamen Schule für alle möglich sein kann.

Es ist also viel zu verkürzt beim Thema Inklusion nur darüber zu sprechen, ob und wie lernschwache oder behinderte Kinder gemeinsam mit anderen unterrichtet werden?
Das ist eine vollständige Verengung des Begriffs. Inklusion ist eine Haltungsfrage und zwar in vollkommen anderen Dimensionen. Inklusion fasst die Heterogenität von Menschen, also ihre Vielfalt, grundsätzlich positiv auf. Jeder Lerner, also jedes Kind, jeder Jugendlicher ist grundsätzlich erst mal ein gleichwertiges Mitglied einer wie auch immer zu unterrichtenden Gruppe. Es gibt keine Aufspaltung mehr in Behinderung, Gefährdung oder Benachteiligung auf der einen Seite und durchschnittlicher Begabung, Hochbegabung, Höchstbegabung oder Inselbegabung auf der anderen. Das sind ja alles Etikettierungen, die zu Sortierung führen. Wenn man den Begriff wirklich weit fasst, fällt diese Politik der Auslese weg. Im Endeffekt fällt mit diesem neuen Denken auch Diskriminierung weg. Das ist natürlich eine Vision und eine unglaubliche Herausforderung. Aber in der Ganztagsschule – als einer kleinen Spiegelung der Gesellschaft – könnte es umgesetzt werden.

Das klingt alles wirklich sehr visionär. Wie kann es praktisch funktionieren?
Ein Blick in die Bundesländer zeigt, dass es ganz unterschiedlicher Gesichter inklusiver Bildung gibt. Die gemeinsame Verantwortung für Bildung ist auf alle Fälle ganz wichtig, also dass Lehrkräfte, Schüler, Eltern, das Gemeinwesen und der soziale Nahraum bei der Gestaltung von Schule miteinbezogen werden. Hinzukommt wie bereits erwähnt, dass Heterogenität positiv gesehen und bei der Gestaltung von Bildungsplänen einbezogen wird.

Aber wie können Schulen auf diese Heterogenität eingehen?
Durch Mechanismen wie Kompetenzraster, learning stories oder individuelle Entwicklungsgespräche, wie sie an einigen Schulen bereits umgesetzt werden. Ich würde mir außerdem eine lernbegleitende Diagnostik an allen Schulen wünschen, die Entwicklungsprozesse abbildet und mit der Lehrkräfte und alle anderen Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen arbeiten können. Und nicht zuletzt müssten Schulen voneinander lernen. Damit meine ich nicht das Herausstellen von Leuchtturmschulen, sondern eine Vernetzung von lernenden Schulen, die gemeinsam an ihrer Entwicklung arbeiten und sich zu verändern.

Inklusive Bildung funktioniert also nur über Veränderung der gesamten Schule…
Ja, ich glaube wir müssen Unterricht und Schule vollständig neu denken, sowohl in zeitlicher, inhaltlicher als auch sozialer Dimension. Schule muss zur Lern- und Lebensstätte werden. Lebensstätte wird dabei dreimal groß geschrieben!

Welche Rolle spielen dabei die Lehrkräfte?
Um mit einem abgewandelten Schopenhauer-Zitat zu antworten: Veränderung ohne Lehrperson ist nicht alles, aber ist nichts ohne die Lehrperson. Mit den Lehrern steht und fällt die Umsetzung von Inklusion zu 90 Prozent. Wir brauchen keine vielwissenden Lehrer mehr, die auf der Kanzel stehen und von dort oben aus Stoff übermitteln.

Welche Lehrkräfte brauchen wir stattdessen?
Solche, die sich auf ihre ureigenen Tugenden besinnen. Sie sind autarke Persönlichkeiten mit unglaublich viel Verantwortung für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendliche, die sich nicht auf feste Pläne oder gar Arbeitsblättervorgaben berufen sollten. Der Unkultur der Arbeitsblätter prophezeie ich eine ganz schwache Zukunft. Lehrkräfte müssen individuell arbeiten, denn sie haben eine heterogene Gruppe vor sich und Inklusion heißt Lernen ohne Gleichschritt. Sie müssen sich auf Gruppenbildung und gruppendynamische Strukturen besinnen, auf Kleingruppen- und Partnerarbeit, Chefsystem, Stations- und Projektarbeit. Also auf all das, was in der Praxis von vielen Ganztagsschulen schon funktioniert. Dafür brauchen Lehrer Hilfe von ihrer Schulleitung, von Sozialpädagogen und aus dem sozialen Umfeld. Für die Veränderung hin zu einer inklusiven Schule braucht es eine völlige Bewusstseinsänderung. Das ist keine Sache, die über Nacht passiert, nach dem Motto „Ab morgen machen wir mal Inklusion“.
 
Dr. habil. Thomas Trautmann ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: inklusive Pädagogik und Diagnostik, reformorientierter Unterricht und Begabungsforschung.