Gymnasium mit Rückzug

Ein Fitnessstudio, ein Selbstlernzentrum und ein Raum der Stille – viele Rückzugsräume sind in den letzten Jahren am Martin-Butzer-Gymnasium Dierdorf entstanden. Doch den Schülern fehlte die Zeit, sie zu nutzen. Deshalb verändert die Schule nun ihre Pausenzeiten.

Von Katharina Zabrzynski

Der Fitnessraum ist fast leer, Samir ist der Einzige, der an diesem Vormittag hier trainiert. Mit rhythmischen Bewegungen hebt und senkt der 17-jährige Jugendliche eine Gewichtsstange über dem Brustkorb. „Ich hab jetzt eine Freistunde, die Kunden müssten aber auch gleich kommen“, sagt er. Der große, athletische Jugendliche trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Trainer“. In der Schulpause beginnt sich der Raum tatsächlich zu füllen. „Kunden“ mit dicken Ordnern unter dem Arm und Sporttaschen über der Schulter besetzen die Sportgeräte. Die Jugendlichen feuern sich gegenseitig an, sprechen über Klausuren oder die erreichte Punktzahl im Sportunterricht. Aus den Boxen ertönt Radiomusik. Eigene Musik mitzubringen und abzuspielen ist dagegen verboten. Dann würden Gema-Gebühren anfallen, denn schließlich handelt es sich bei dem Gymi-Gym um eine eigene Firma – eine Schülerfirma eben.

Der Rückzugsraum auf dem Gelände des Martin-Butzer-Gymnasiums in Dierdorf entstand dank einer kreativen Entscheidung des Direktors. Im Schuljahr 2005/ 2006 führte die Schule den offenen Ganztagsunterricht ein und wegen der zusätzlichen Sport-Aktivitäten wurde eine zweite Sporthalle gebaut. Doch damit stand das Gymnasium vor einem Problem: Den Richtlinien zufolge hatte es nun eine halbe Halleneinheit zu viel. Der Elternbeirat wollte dort gerne einen Fitnessraum für die Schülerinnen und Schüler einrichten, doch was tun mit den Vorschriften? Schulleiter Klaus Winkler hatte eine Idee: Die halbe Turnhalleneinheit wurde aus dem Schulbestand ausgegliedert und die Jugendlichen sollten das Studio einfach selbst verwalten.

Das Projekt fand schnell Sponsoren

Ein ehemaliger Schüler und Fitnessclub-Betreiber kümmerte sich um kostengünstige Geräte, übernahm im Schuljahr 2006/07 die erste Trainerausbildung und vermittelte den Schülerinnen und Schülern betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse. Eine Bank und ein Krankenhaus vor Ort unterstützten die Existenzgründung mit Spenden. Heute finanziert sich das Studio selbst: Für Schülerinnen und Schüler beträgt der Monatsbeitrag acht Euro, Lehrerinnen und Lehrer zahlen zwölf. Nur die Trainer zahlen nichts. Die Beiträge der rund 100 Mitglieder fließen auf ein eigenes Konto und werden vor allem für Reparaturen und Neuanschaffungen verwendet.
 
Während die Ersten wieder zum Unterricht eilen, kommen die beiden Trainerinnen Stephanie und Nathalie gerade ins Gymi-Gym. In zwei Stunden haben sie wieder Unterricht. Sie sind die beiden Trainerinnen in dem 12-köpfigen Team. „Die meisten von uns sind in der Oberstufe. Wir haben viele Freistunden, die können wir hier verbringen“, erklären sie. Die Arbeit im Studio ist gut organisiert. Dem Tagesplan kann man entnehmen, welche Trainerin oder welcher Trainer gerade Schicht hat. Darüber hinaus hat das Gymi-Gym zwei Vorstände, einen Kassenwart, einen Pflanzenwart, eine Werbegruppe und eine Gruppe für besondere Aufgaben. „Manchmal sind es ganz simple Dinge, die erledigt werden müssen. Letzte Woche haben wir einen Staubsauer gebraucht, darum musste sich die Gruppe für besondere Aufgaben kümmern“, erzählt Stefanie. Die zwei Mädchen sind in der Werbegruppe, heute müssen sie die neuen Aktions-Plakate besprechen, das Design steht noch nicht fest und die Ausführung muss geregelt werden. Auch Stephanie und Nathalie wurden mit einer Aktion ins Gymi-Gym gelockt. Nach einem zweiwöchigen Schnupperkurs sind sie Mitglied geworden. „Und irgendwann hat uns eine Trainerin gefragt, ob wir nicht Lust hätten, ihre Nachfolgerinnen zu werden“, sagt Nathalie.

Ein Mitschüler hat sich inzwischen an das Cabel-Cross-Gerät gestellt. Schwungvoll zieht er an den Kabelzügen, sodass die angeketteten Gewichte in die Höhe schnellen. Ein Trainer beobachtet seine Körperhaltung, „Zieh!“, „Atme!“, „Zieh!“, „Den schaffst du noch!“, ruft er. Stephanie schaut zu den Jungs rüber und schmunzelt. „Bei uns Frauen geht es mehr um Ausdauer. Wir fahren Cross-Fahrrad, trainieren am Rudergerät und machen Bauch-Beine-Po-Übungen“, sagt sie. „Ich hatte früher Rückenschmerzen,. Seit ich hier bin, sind sie weg“, fügt Nathalie hinzu.

Ganz ohne Unterstützung geht es nicht

Der Sport- und Chemielehrer Wolff-Achim Hassel und zwei weitere Kollegen übernehmen die Trainerprüfung und schauen nach dem Rechten. „Ab und zu müssen wir die Schüler anschubsen, schließlich müssen sie vieles erst lernen. Aber eigentlich sind wir überrascht, wie gut hier alles funktioniert“, sagt er. Ihr Engagement können sich die Team-Mitglieder bei ihm bescheinigen lassen. „Das kommt bei lokalen Firmen gut an. Sie wissen, die Schüler haben schon in einer Firma gearbeitet und Verantwortung übernommen“.

Schüler brauchen Rückzugsräume, die ihnen Erholung und Lerngelegenheiten bieten. Am Martin-Butzer-Gymnasium hat man dies erkannt und bemüht sich seit Jahren um entsprechende Einrichtungen. Neben der Unterstützung des Trägervereins kommt der Privatschule die vorhandene Infrastruktur zugute. Auf dem Schulgelände befand sich einst ein Internat. Heute sind in den Gebäuden unter anderem eine Musikschule, eine Bibliothek, ein Café und ein Selbstlernzentrum untergebracht. In den Räumen des Zentrums stehen mehrere Arbeitstische, eine Sofaecke und es gibt Laptops zum Ausleihen. Seit kurzem gibt es an dem Gymnasium auch einen Raum der Stille. Helle Möbel, weiße Vorhänge, eine brennende Kerze in der Mitte des Raumes – hier sollen die Schüler zur Ruhe kommen.

Rückzug braucht aber auch Zeit

… und an diesem Punkt steht die Schule vor einem Problem: Wegen der Busverbindungen kann der Unterricht in den Halbtagsklassen nicht vor 8.15 Uhr beginnen und muss spätestens um 13.25 Uhr enden. Bis jetzt haben die Schüler und Schülerinnen zwei längere Pausen: fünfzehn Minuten nach der zweiten Unterrichtsstunde und zehn Minuten nach der vierten Unterrichtsstunde. „Da die Schüler in dieser Zeit auch die Räume wechseln müssen, kann man da von keiner Erholungspause sprechen“, sagt Schuleiter Klaus Winkler.

Mit dem Ziel, die Pausenkultur so zu verändern, dass sie den Schülerinnen und Schülern bessere Lernbedingungen und den Lehrerinnen und Lehrern eine wirkliche Erholung bietet, nimmt das Gymnasium seit September 2010 am „Netzwerk Ganztagsschule“ der DKJS teil. „Es war uns vor allem wichtig, länderübergreifend mit Schulen in Kontakt zu treten“, begründet Hassel die Entscheidung der Schule für das Netzwerk. Hassel leitet den Ganztagsschulbereich an dem Gymnasium und nimmt an den sechs 1,5-tägigen Treffen der Schulen innerhalb von zwei Jahren teil. Die zeitliche Invesition lohne sich, sagt er. „Wir haben uns schon mehrere Anregungen geholt. In der kommenden Klassenstufe 5 wollen wir zum Beispiel die Arbeitszeit so verändern, dass die Schülerinnen und Schüler sich nicht mehr von einer Unterrichtsstunde auf die nächste vorbereiten müssen, sondern mit Wochenplänen arbeiten. Außerdem wollen wir den Eltern in Zukunft einen besseren Überblick über unsere Arbeit geben“, sagt er.

Auch die Pausenkultur an dem Gymnasium soll nun verändert werden. Das Lehrerkollegium hat inzwischen mehrere Varianten durchgesprochen und sich auf eine 25-minütige Pause nach der dritten Unterrichtsstunde geeinigt. „Alles unter dieser Zeit kann nicht effektiv genutzt werden“, so Winkler. Die übrigen Pausen sollen dann auf vier Minuten verkürzt werden. „Hier war uns der Austausch mit der Grund-und Werkrealschule in Eigeltingen wichtig. Die Schule hat diese Entwicklungsphase schon hinter sich. Wir haben von den Lehrkräften beim Netzwerktreffen viel Zuspruch bekommen und uns Ideen für die Pausengestaltung geholt“, sagt Hassel.

Ab dem nächsten Schuljahr beginnt die Evaluationsphase. Bis dahin sollen die Schülerinnen und Schüler in der großen Pause neben den Rückzugsräumen, auch Spielkisten in den Klassenzimmern und mehrere neue Sportanlagen auf dem Schulhof zur Verfügung gestellt bekommen.
Dass die Schülerinnen und Schüler die neue Pause annehmen werden, steht für Schulleiter Winkler außer Frage: „Was die anfängliche Eingewöhnung nur noch stören könnte, wäre schlechtes Wetter“. Da das neue Schuljahr in Rheinland-Pfalz bereits im  August beginnt, dürfte das Diersdorfer Gymnasium Glück haben.

Datum: 17. 08. 2011
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