„Wir holen die Hausaufgaben zurück in die Schule“

 

 

Das „Gymnasium am Neandertal“ in Erkrath

Wie diese „Rückrufaktion“ aussieht, erläutert Frau Gorgels, Erprobungsstufenkoordinatorin und Fachlehrerin der am Projekt beteiligten Klasse des 5. Jahrgangs den „Drei-Stufen-Plan“: Das erste „kurzfristige Projektvorhaben“ stellt fächerverbindende, kompetenzorientierte Aufgabenstellungen in den Mittelpunkt, die die verschiedenen Fachlehrkräfte gemeinsam aus den thematischen Schnittmengen der einzelnen Curricula entwickelt haben.

In der zweiten „mittelfristigen Modell- bzw. Modulentwicklung“ geht es um „Aufgabenstellungen für den Vertretungsunterricht – mobile Lernwerkstatt“, die es möglich machen, Vertretungsstunden so zu gestalten, dass Kontinuität im Fachunterricht gesichert ist, auch wenn die jeweilige Fachlehrkraft nicht anwesend ist.

Die dritte Stufe der langfristigen Modellentwicklung zielt auf eine „Facharbeit“ für alle Schüler/innen des 5. Jahrgangs, deren Thema sie sich frei wählen können und mit der ihr Kompetenzentwicklungsstand am Ende des Schuljahres eingeschätzt wird. Sie werden im Rahmen eines schulinternen Wettbewerbs,  einer „Börse“, präsentiert.

„Für Hausaufgaben nach traditionellem Verständnis gelten im Ganztag andere Rahmenbedingungen“, erinnert Schulleiter Hans Gruttmann.

Es dürfen keine Hausaufgaben von einem zum anderen Tag gestellt werden, ihr Gesamtumfang darf ein bis anderthalb Stunden Arbeitszeit am Tag nicht überschreiten. „Hier nutzen wir Gestaltungsspielräume, die uns das Schulgesetz NRW bietet: Die Hälfte der Arbeitszeit wird mit einem ungefähren Zeitumfang von je einer Viertelstunde in die Doppelstunden integriert, die in den Stundenplänen des Jahrgangs 5 vorherrschen. Die Schüler/innen können zusätzlich zu diesen „Lernzeiten“ entscheiden, ob sie noch nicht abgeschlossene Arbeiten zu Hause zum Abschluss bringen oder in den in den Stundenplan integrierten zusätzlichen Arbeitsstunden, deren Besuch – noch – freiwillig ist. Die Arbeitsstunden werden von Teams begleitet, die  aus Lehrer/-innen, Mitarbeiter/-innen des Kooperationspartners SKFM (Sozialdienst katholischer Frauen und Männer) und Schülercoaches bestehen. Mit der hochkarätigen Lernhilfe ist angestrebt, den wachsenden kostspieligen Nachhilfeapparat, der sich im Laufe der Zeit im Umfeld der Schule etabliert hat, zu reduzieren.

Die meisten Eltern im schulischen Umfeld waren zunächst skeptisch.

Wenn man sich in der Schule umsieht, könnte man auf die Idee kommen, dass die geografische Lage, die sich schon im Namen wiederfindet, den Blick für (r )evolutionäre Entwicklungen weitet. Wo andere Schulen mit Mühe eine Zweidrittel- oder Dreiviertelmehrheit für die Umwandlung der Halbtagsschule in eine Ganztagsschule erreichen, haben im Jahr 2008 hier 52 von 55 Kolleg/-innen dafür gestimmt. Lag es an der starken Konkurrenz in der Region, an der Werbung des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, das mit mehr Personal und mehr Gestaltungsfreiräumen lockte? Hans Gruttmann, damals frisch im Amt des Schulleiters, hatte die Idee in die Schule getragen, als er von der Ganztagsinitiative des Landes NRW hörte und den Entscheidungsprozess auf eine breite Basis stellte. Er hat Meinungsbilder der Lehrkräfte, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler eingeholt und mit allen Beteiligten intensiv diskutiert, bevor in den Gremien abgestimmt wurde. Er erinnert sich: „Die deutliche Befürwortung  des Ganztags lag vor allem an einem Kollegium, das sich schon längst auf den Weg einer innovativen Schulentwicklung begeben hatte. Die meisten Eltern im schulischen Umfeld waren zunächst skeptisch.“

 „Ganztag live“ und Partizipation

Ein besonderes Angebot für Grundschüler/-innen und ihre Eltern ist der oben genannte  „Ganztag live“. Hier öffnet die Schule ihre Türen und gibt die Möglichkeit, den Ganztagsbetrieb live mitzuerleben. Während die Eltern der Viertklässler, die sich mit ihren Kindern für den im Aufbau befindlichen gebundenen Ganztag interessieren, sich an einem von älteren Schüler/innen angebotenen  Kuchenbuffet laben, können ihre Kinder den Raum  – eine Mensa ist in Planung –  besichtigen, in dem sie vielleicht im nächsten Schuljahr ihr Mittagessen einnehmen, und haben auch Gelegenheit, am Nachmittagsunterricht teilzunehmen oder bei der Bläser-Gruppe zu Gast zu sein, oder – hier waren die Mädchen unter sich – an der Einführung in die AG „Cheerleading“ teilnehmen, die an diesem Tag von zwei Schülerinnen ganz selbstständig geleitet wurde. Weitere von älteren Schüler/innen regelmäßig weitgehend selbst organisierte „Events“ sind die Handball-AG, die Freitagnachmittags stattfindet, die „Design-AG“ und die jährliche Ruderwanderfahrt sowie die Arbeitsgemeinschaften der Schüler Ruder- Gemeinschaft.

Ein gelungenes Beispiel, wie die Umstellung auf den Ganztag alle am Schulleben beteiligten Gruppen einbindet, ist der Arbeitskreis Ganztag am GymNeander, in dem Schulleitung, Lehrkräfte, Eltern, Kooperationspartner und Schülerinnen und Schüler miteinander beraten und wichtige Impulse für das Schulleben geben.

Entschleunigung des Tages

 

 

Angesichts der Fülle und Lebendigkeit des Geschehens mutet die Behauptung, dass das Stundenraster zur Entschleunigung des Tages beiträgt, erst einmal wie Ironie an. Bei genauerem Hinsehen fallen „Indizien“ ins Auge: Am Vormittag wechseln sich täglich bzw. in der Reihenfolge zwei Doppelstunden von jeweils 95 Minuten mit 20-minütigen Hofpausen ab. In jede Doppelstunde ist „Lernzeit“ integriert, also Phasen des eigenverantwortlichen Arbeitens – allein oder in der Gruppe. Nach der zweiten Hofpause folgt eine einzelne Fachstunde von 45 Minuten. Die Mittagspause dauert eine Dreiviertelstunde und gibt Gelegenheit zum Essen und zur freien Gestaltung mit vielen Bewegungsangeboten. An zwei Wochentagen folgen dann Blockstunden. Am Mittwochnachmittag steht dem Lernbereich „Kunst, Musik und Naturwissenschaften“ eine Doppelstunde zur Verfügung.

Der Schulhof lädt mit Tischtennisplatten, einer Kletterwand  und angeleiteten Fangspielen zur körperlichen Entspannung ein. Ein „Selbstlernplatz“ ist nicht nur mit Computer-Arbeitsplätzen ausgestattet sondern auch mit gemütlichen Sofas, die zum Dösen oder  Schmökern einladen.

Kooperation im Schulumfeld

Bei allem zukunftsorientierten Planungselan ist es doch ein langer und schwieriger Prozess, Eltern von den Vorteilen einer Ganztagsschule zu überzeugen. In dieser ländlichen Idylle am Rande der Großstadt Düsseldorf übernehmen noch viele Eltern viel Verantwortung für die Bildungswege ihrer Kinder. Dazu gehört auch die Wahrnehmung des umfänglichen außerschulischen Bildungsangebots:  Theater, Jugendkunstschule, städtische Musikschule, Stadtbibliothek, Museen … Da steht gerade ein Gymnasium unter großem Erfolgsdruck. Kann die Qualität seiner Angebote mit denen der außerschulischen Anbieter mithalten?

Ja, wenn man nicht in Konkurrenz verharrt, sondern sich in eine Kooperation begibt, von der  die  kooperierenden Partner wechselseitig profitieren. So machte beim Grundschultag, den das „GymNeander“, wie es von Eingeweihten liebevoll genannt wird, in Zusammenarbeit mit der Stadtbücherei Erkrath für hospitierende Grundschulklassen veranstaltete, ein von Schüler/innen auf die Bühne gebrachtes „Schattentheater“ Furore. Für Kulturveranstaltungen, an denen Schüler/innen des GymNeander mitwirken, steht die Stadthalle Erkrath als „Aula“ zur Verfügung.

Räume gestalten  

 

 

Das Schulgebäude wurde vor mehr als 15 Jahren zum letzten Mal renoviert. Allerdings möchte man beim Anblick der von Eltern, Schüler/innen und Lehrer/innen selbst gestrichenen und mit attraktiven Spielgeräten, wie z.B. Kicker und Billardtisch, ausgestatteten Entspannungsräume für den Ganztagsbereich das Sprichwort „Not macht erfinderisch“ um ein „und schön“ erweitern. Dennoch stellt sich die Frage, ob sich die Rolle des „Raumes als drittem Pädagogen“ – so das Thema des letzten Ganztagsschulkongresses im November 2009 in Berlin – bei den in der Kommune Verantwortlichen noch nicht herumgesprochen hat?

Was und wie von über 750 Schülern und 66 Lehrer/innen und anderem pädagogischen Personal in den Räumen gelebt und gelernt wird, kann die Tristesse manch eines Raumes vergessen machen. Dem Besucher der Website der Schule zeigt sich schon beim Anblick der bunten Bilder von besonderen Ereignissen und Projekten, wie die Schule Möglichkeiten nutzt, Gebäude und Ausstattung ansprechend zu gestalten.

Lernbereiche

Das Logo der Schule erinnert den Betrachter nicht nur an die Lage der Schule in der Nähe des Neandertals, es verweist mit seiner Ähnlichkeit zum Wurzelzeichen auch auf den mathematisch-naturwissenschaftlichen Schwerpunkt, der sich über das reguläre Stundenkontingent hinaus in Veranstaltungen wie der „Naturwissenschaftlichen Woche“, die in Zusammenarbeit mit Erkrather Betrieben und der Universität Düsseldorf organisiert wird, und der Teilnahme an mathematischen und naturwissenschaftlichen Wettbewerben zeigt. Das „GymNeander“ wurde als Siegerin bei den landesweiten Lernstandserhebungen in Mathematik ausgezeichnet.

 

 

 

Daneben kommen die Sprachen nicht zu kurz. Der Englischunterricht in Klasse 5 ist um eine Wochenstunde verstärkt, Französisch oder Latein können ab Klasse 6 als zweite Fremdsprache gewählt werden, Französisch oder Spanisch stehen im Wahlpflichtbereich der achten Jahrgangsstufe zur Wahl und ab der 10. Jahrgangsstufe wird von Externen Spanisch- und Italienischunterricht angeboten. Die Teilnahme an Bilingualen Modulen im Kurs „Wirtschaft“ ermöglicht den Erwerb des Zertifikats „English for business“ der Londoner Industrie- und Handelskammer, ab Klasse 8 können die Zertifikate „Delf/Dalf“, die ein Studium an französischen Universitäten ermöglichen, erworben werden und für Spanisch das Sprachzertifikat „Dele“, das ein Studium an Spanisch sprechenden Universitäten ermöglicht.

Das Fremdsprachenlernen wird durch regelmäßigen Schüleraustausch mit Schulen in Frankreich, England und Spanien und Fremdsprachenassistenten aus Frankreich und England unterstützt. Für das kommende Schuljahr ist ein multilaterales COMENIUS-Schulpartnerschaftsprojekt geplant.

Neue Lernkultur

In einer am „Labor Lernkultur“ beteiligten fünften Klasse wird erlebbar, was es heißt, wenn sich der Aktivitätsschwerpunkt „von der Lehrperson zu den Lernenden“ hin verlagert und die Aufgabenstellung eine fächerübergreifende ist: Die Schüler/innen stellen ihre Lernplakate zum Thema „Geschichte der Mathematik“ vor. Der Vortrag zum Plakat wird ergänzt durch selbsterarbeitete Aufgaben, die die Referent/innen ihren Mitschüler/innen stellen, manchmal sogar durch ein „handout“, das jeder Einzelne zum Nacharbeiten ausgehändigt bekommt. Im Anschluss gibt die Lerngruppe „Feedback“, nach allen Regeln der Kunst des Feedbackgebens: erst loben, was gut war, dann freundlich Kritik üben, selbstverständlich verpackt in konstruktive Verbesserungsvorschläge.

Wenn dann mal die Zeit zu kurz ist und das Feedback nicht mehr zeitnah gegeben werden kann, vergewissert sich der Schüler, den der Aufschub trifft: „Und wann, Frau Gorgels, bekomme ich mein Feedback?“ Die Antwort auf diese Frage ist allenfalls der zweite oder dritte Satz, den die Mathematiklehrerin in dieser ansonsten ausschließlich von den Schüler/innen gestalteten „Unterrichtsstunde“ spricht. Selbst die Blicke der jungen Lehrer/innen vorn an der Tafel wenden sich ausschließlich der Klasse zu; Würden die Schüler/innen merken, wenn die Lehrerin die Klasse verließe, würde sich am Ablauf irgendetwas ändern? So sieht es wohl aus, wenn Lehrer/innen und Schüler/innen neue Rollen in einer neuen Lernkultur übernehmen!

Dass diese Schule allenthalben an einem pädagogischen „Paradigmenwechsel“ arbeitet – wie es neudeutsch heißt, wenn überkommene und „überholte“ Einstellungen und Haltungen sich ändern –, wird dem Leser des Leitbildes und Schulprogramms an einem scheinbaren Rechtschreibfehler im Kapitel „Methodische Schwerpunkte“ vorgeführt: Da fehlen beim Wort Begabtenförderung – so die Erwartung des Lesers – die Pünktchen auf dem „ö“: „Begabtenforderung“! Realisiert wird sie im „Forderunterricht“ in Klasse 5 in den Fächern Englisch und Mathematik, im parallelen Erlernen der zweiten und dritten Fremdsprache ab Klasse 6, dem vorgezogenen Latinum und der Möglichkeit, an universitären Vorlesungen und Übungen teilzunehmen, mit dem Erwerb von Scheinen, die für das Studium zählen.

Den Wandel managen

Wie gestaltet ein  Kollegium den Aufbau einer Lernkultur, in der die „Lehr“personen weniger lehren als vielmehr für die „intelligente“ Organisation von vielfältigen Lerngelegenheiten im Ganztag verantwortlich sind? Das GymNeander plant für die wesentlichen Fragestellungen – Fördern und Fordern, Entwicklung des Ganztags, Hausaufgaben im Rahmen der neuen Lernkultur und Soziales Lernen – Expertengruppen im Kollegium einzurichten, die vordenken und Vorschläge unterbreiten. Der vom „Labor Lernkultur“ unterstützte Konzept-, Material- und Erfahrungsaustausch mit anderen Schulen, der über wechselseitige Hospitationen  realisiert wird, trägt viel zur Entwicklung guter Lösungen bei, die im gegenseitigen  Geben und Nehmen von Best-Practice-Beispielen entstehen. Das GymNeander steht in regem Austausch mit den anderen Schulen im Projekt, vor allem mit seiner Tandem-Schule, dem Hochwald-Gymnasium in Wadern und dem Geschwister-Scholl-Gymnasium in Pulheim, das nicht am Projekt teilnimmt. Im Mittelpunkt steht dabei die gemeinsame Erarbeitung eines Methoden-Repertoires für das eigenverantwortliche Lernen und Arbeiten der Schüler einschließlich sinnvoller Diagnoseverfahren und geeigneter Formen der Dokumentation und Präsentation von Lernprozessen und deren Ergebnissen, wie z.B. Arbeit mit Portfolios.   

 

SAG NRW
Gymnasium am Neandertal
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Datum: 6.05.2010
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