Aneignung von Kompetenzen ganz im Sinne der neuen Bildungsziele
Aneignung von Kompetenzen ganz im Sinne der neuen Bildungsziele
Projektdaten
Klassenstufen:
7 und 9
Anzahl der Schüler/innen:
52
Anzahl der Lehrer/innen:
2
Fachbereiche:
Kunst, Deutsch
Wochenstunden:
2
Das Projekt
Eine neue Art zu unterrichten präsentiert die Essener Autorenschule. Dokumentiert hat sie dies in ihrem ersten Buch, das sie im Jahre 2004 veröffentlicht hat. Es heißt „Von Quatschnachrichten, Wollmäusen und Rentnerchips“ und ist im Geest-Verlag (Vechta-Langförden) erschienen. Nicht mehr die bloße Wissensvermittlung steht für die Essener Autorenschule im Mittelpunkt, sondern die Aneignung von Kompetenzen ganz im Sinne der neuen Bildungsziele. Das zeigt ihr erstes Buch, das von einer 7. und einer 9. Klasse der Erich Kästner-Gesamtschule in Essen gemeinsam mit dem bekannten Lyriker und Jugendbuchautor Ralf Thenior geschrieben wurde. Alfred Büngen, der Leiter des niedersächsischen Geest–Verlages, hat die Schülerinnen und Schüler unterstützt. Er hat sie in den Herstellungsprozess ihres Buches eingeführt, und zwar von der Auswahl des Papiers bis zur Druckkostenkalkulation und zum Marketing. Natürlich haben die Jungautoren ihr Buch auch selbst gedruckt. Der Verkaufserlös soll die Grundlage für das nächste Autorenschulprojekt bilden. Ein hoher Anspruch für die Jugendlichen also und ein großer Ansporn zugleich. In ihren Texten, die die Siebt- und Neuntklässler in der Autorenschule geschrieben haben, zeigen die Verfasser auf, was Kinder und Jugendliche erleben, denken und fühlen, die heute in einem sozialen Brennpunkt aufwachsen. Und: Sie entwickeln eine besondere Kompetenz. Denn indem sie ihre Geschichten erzählen, werden sie selber zu richtigen Autoren. Sie spiegeln auf fiktiver Ebene ihre inneren und äußeren Wirklichkeiten und benennen sie. Sie fangen an, sie sprachlich zu gestalten und sich sprachlich zu behaupten, indem sie ihrem Alter gemäß persönliche Akzente setzen. Sie nehmen, indem sie erzählen, Schritt für Schritt ihr Leben, ihr Schicksal in die eigene Hand. Die Jugendlichen lernen also nicht mehr für ein späteres Leben, für ein Leben nach der Schule. Sie begreifen die Schule vielmehr als ihren Lebens- und Gestaltungsraum, um dadurch eine eigene Zukunft zu gewinnen. Sie ist für sie kein Sandkastenspiel mehr, sondern Teil des richtigen Lebens. Gerade für Kinder und Jugendliche, die einen Migrationshintergrund haben oder in einem sozialen Brennpunkt leben, eine Erfahrung, die sie ein großes Stück in ihrer psychosozialen Entwicklung voranbringt. Lernen „am Leben“! Konkrete Erfahrungen sammeln! Die eigene Sprache finden! Das ist der Weg, der über PISA hinausführt. Die Essener Autorenschule ist also ein Projekt, das „Schule machen“ sollte! Und so enthält das Buch neben ausgewählten Texten der Jugendlichen auch Erfahrungsberichte und Informationen zur Konzeption der Essener Autorenschule.
Der Auslöser
Seit einigen Jahren gibt es an der Erich Kästner-Gesamtschule in Essen unter dem Signum EssenerKulturGespräch eine intensive Kulturarbeit mit dem Ziel, Jugendlichen mehr Möglichkeiten der Teilhabe am kulturellen Leben zu eröffnen. Auf der Suche nach Wegen, wie dieser Anspruch umgesetzt werden kann, sind die Initiatoren auf das Schulschreiberprojekt gestoßen, das Ralf Thenior und Gerd Herholz vom Literaturbüro Ruhrgebiet entwickelt haben und das sie begeisterte. Sie haben es aufgegriffen und auf die Möglichkeiten und Grenzen der Erich Kästner-Gesamtschule zugeschnitten. Außerdem haben sie es um die Zusammenarbeit mit dem Geest-Verlag erweitert. Das ist das Grundgerüst, das es immer wieder neu zu füllen gilt, je nachdem, welcher Autor und welche Klassen oder Kurse sich an dem Projekt beteiligen. Dabei korrespondieren immer wieder Fragen nach der literarischen Qualität mit denen merkantiler Notwendigkeiten.
Der Weg
Am 3. November 2003 wurde die erste Essener Autorenschule im Foyer der Erich Kästner-Gesamtschule eröffnet. „Der Umgang mit Sprache muss Spaß machen. So kann man auch große Leistungen erzielen.“ Das betonte Ralf Thenior gegenüber den Schülerinnen und Schülern. Er verfügt als erster Schulschreiber Deutschlands über vielfältige Erfahrungen im Umgang mit Jugendlichen und betreute das Projekt in 24 Unterrichtsstunden. Ein Autor „zum Anfassen“, der offen über seine Arbeit Auskunft gab. Dann prasselte eine Schimpfkanonade auf die Beteiligten nieder: „Dreckiges eingebildetes Federvieh!“, „Kleine, liebesverrückte Marihuana-Nehmerin!“, „Unerträgliches, verrücktes Weib!“, so war es etwa von Natascha J. aus der 7 E zu hören. Das war nicht böse gemeint, sondern nur eine Lockerungsübung mit den Buchstaben des Alphabets. Sicherlich eine sehr eigene Methode, den Wortschatz zu erweitern und flexibler mit Sprache umzugehen. Aber ein erfolgreicher Einstieg, wenn man bedenkt, mit welchem Feuereifer sich die Jugendlichen den ernsthafteren Aufgaben stellten, die ihnen Ralf Thenior im Anschluss daran aufgab. Es entstand eine intensive gemeinsame Arbeit, wobei sich immer wieder Phasen des Schreibens mit denen des kritischen Gesprächs über das Geschriebene abwechselten. Erstaunlich, mit wie viel Taktgefühl und Einfühlungsvermögen Jugendliche auftreten können, wenn sie von einer Sache oder Menschen überzeugt sind! Selbstverständlich durften die Schülerinnen und Schüler, die einen Migrationshintergrund hatten, auch ihre jeweilige Kultur mit einbringen. Das erweiterte das literarische Spektrum und bereicherte das Gespräch. Eine Chance, die viele begeistert nutzten! Denn wo konnte man denn schon einmal ganz gezielt die eigene Kultur prdouktiv in den Deutschuntericht einbringen? Klar, dass vor diesem Hintergrund die Projektmappe, die die Schülerinnen und Schüler mit ihren persönlichen Texten zu erstellen hatten, auch als Klassenarbeit gewertet wurde. Am 14.1.2004 eröffnete der Leiter des niedersächsischen Geest-Verlages, Alfred Büngen, den zweiten Teil des Projekts. Eigens aus Vechta angereist, führte er die Jugendlichen in den Herstellungs- und Vermarktungsprozess von Büchern ein. Didaktisch geschickt erklärte er ihnen anhand von kleinen Rollenspielen, wie ein literarisches Werk seinen Weg vom Verleger zum Käufer findet. Dann folgte die Kostenkalkulation. Die Bilanz war ernüchternd. Hatten diejenigen, die die Verlegerrollen übernommen hatten, den Buchhändlern zuvor großzügige Preisnachlässe zugestanden, um mit ihnen ins Geschäft zu kommen, so mussten sie jetzt feststellen: Angesichts der hohen Druckkosten wären sie in der Realität alle pleite gewesen. Die angewandte Mathematik brachte es an den Tag. Der Schreckensschrei von Alfred Büngen auch, wenn sich ein Schüler um zehn Cent verrechnet hatte (bei einer Auflage von 30 000 Exemplaren ). Nun rauchten die Köpfe. Was kostet was: Blätter, Master 110, Farbe, Buchbinden, Fotosatz, Druck, Kaschieren. Richtig: Die Abnutzung der Druckmaschine fehlte noch, Fahrtkosten, möglicher Ausschuss und so weiter und so fort. Am Ende stand die Frage, was jeder Jugendliche selbst dazu beitragen kann, damit „sein“ Buch ein Verkaufserfolg wird. Sehr schnell war klar, wie viel persönlichen Einsatz es kostet. Und: Es kommt auf die Präsentation an. Ich muss von dem, was ich will, überzeugt sein, um überzeugen zu können. Ich muss mir die passende Werbestrategie überlegen. Gerade für die Neuner war das ein wichtiger Schritt, müssen sie doch demnächst selbst in eigener Sache tätig werden und sich um einen Ausbildungsplatz bewerben. Schließlich haben die Schülerinnen und Schüler das Buch auch noch selbst gedruckt. Gemeinsam mit ihren Lehrenden fuhren einige von ihnen Ende Mai nach Vechta, um die Arbeit im Verlag persönlich kennen zu lernen und „Hand anzulegen“, und zwar vom Layout über den konkreten Druck bis hin zur Anmeldung des Buchs und zum Marketing. Selbst das haben sie prima bewältigt. Abgerundet wurde das Projekt am 3.6.2004 mit einer Premierenlesung in der Mensa der Erich Kästner-Gesamtschule. Der Kommentar der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“: „Volles Haus mit vollem Programm.“ Hervorgehoben wurde von ihr vor allem die multikulturelle Dimension des Projekts. Kommentare der Schülerinnen und Schüler, die sich an dem ersten Projekt beteiligt haben: Natascha J., 13:„ Ich fand das Buchprojekt gut, denn wir sind die erste Klasse an der Schule, die ein Buch geschrieben hat. Auch die Zusammenarbeit mit Herrn Thenior war sehr gut. Es hat viel Spaß gemacht.“ Fabian G., 13: „Die Arbeit an dem Buch war super. Und erst die Zusammenarbeit mit Herrn Thenior! Ich hoffe, dass wir noch einmal so etwas machen werden.“ Wenn das keine Perspektiven für den Unterricht eröffnet … !
Probleme und Lösungen
Schwierig war es schulintern, für beide Klassen die Unterrichtsstunden mit Ralf Thenior zu organisieren. Der Stundenplan spielte nicht mit, und so mussten Unterrichtsstunden anderer Fächer sechs Wochen lang verlegt werden. An einem so großen Schulsystem wie einer Gesamtschule mit über 1200 Schüler/innen eine schwierige Sache, zumal die betroffenen Kolleginnen und Kollegen auf den Unterricht in ihren Fächern aus Lehrplangründen nicht verzichten durften. Überwunden werden konnten diese Schwierigkeiten, weil alle Betroffenen (auch die Schulleitung ) über ihren Schatten sprangen und nach unkonventionellen Lösungen suchten. Diese kollegiale Bereitschaft, aufeinander zuzugehen und ein solches Projekt mitzutragen, war ein Baustein, der in erheblichem Maße zum Gelingen dieses Projekts beigetragen hat.
Blitzlicht
Neben vielen anderen tollen Erfahrungen war eine Begebenheit beim Druck in Vechta besonders eindrücklich. Es war abends nach 20 Uhr. Die Jugendlichen hatten einen langen, arbeitsreichen Tag hinter sich gebracht, und so forderten wir als Lehrende sie auf, ihre Arbeit für diesen Tag zu beenden, um diese am nächsten Tag ausgeruht und mit frischen Kräften fortzusetzen. Wir ernteten einen Sturm der Entrüstung. Sie seien in ihren Gruppen noch lange nicht fertig. Sie seien noch nicht so weit, wie sie sich das vorgestellt hätten. Das käme überhaupt nicht in Frage. Sie dächten nicht daran, jetzt schon aufzuhören. Ein Aufschrei, wie man ihn von Jugendlichen normalerweise nur selten hört, wenn es ums Arbeiten geht. Es gab schließlich einen Kompromiss, der von allen akzeptiert wurde. Für uns war es unglaublich zu sehen, wie sehr sich die Jugendlichen klassenübergreifend in die Arbeit stürzten, jeder nach seinen Fähigkeiten und dort, wo er gebraucht wurde. Und das, obwohl das Projekt kurz vor seinem Abschluss stand. Keine Spur von Müdigkeit oder Erschöpfung. Einfach gut.
Schule
Schulname
Erich Kästner-Gesamtschule
Schulart
Gesamtschule
Schulangebote
gebunden und ungebunden
Schulanschrift
Erich Kästner-Gesamtschule Pinxtenweg 6–8 45276 Essen
E-Mail
arturnickel@web.de
Anzahl der Schüler/innen
1200
Anzahl der Lehrer/innen
92
Ansatz der Schule
Vielfalt ist an Gesamtschulen ausdrücklich gewollt. Die Erich Kästner-Gesamtschule nimmt die Kinder so auf und sich ihrer so an, wie sie in unserer bunten Gesellschaft vorkommen. Denn dies ist ihrer Ansicht nach der beste Weg, um einen wichtigen Auftrag unserer Verfassung auch wirklich einzulösen, nämlich jungen Menschen Chancengleichheit bei Bildung und Zukunftsgestaltung einzuräumen. Konkret für die Erich Kästner-Gesamtschule bedeutet dies: Wir sind eine Schule für alle Kinder. Wie in der Grundschule werden an unserer Gesamtschule Kinder aus allen sozialen Schichten und mit unterschiedlicher Herkunft, lernstärkere und lernschwächere Kinder aufgenommen und gemeinsam unterrichtet. An unserer Gesamtschule gestalten also die Lehrkräfte ihren Unterricht so, dass alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Begabungen, Stärken und Schwächen zu ihrem Recht kommen können. Alle Kinder, die in die 5. Klasse der Gesamtschule übergehen, können, ohne noch einmal die Schule wechseln zu müssen, alle Schulabschlüsse (Hauptschulabschluss, Fachoberschulreife, Fachhochschulreife, Abitur) erwerben! Gemeinsames Lernen ohne die Angst zu versagen und aussortiert zu werden führt dazu, dass die jungen Menschen in der Regel gerne zur Schule gehen und besser lernen. Dies ist für die Lehrenden an der Erich Kästner-Gesamtschule Herausforderung und Anspruch zugleich
Zeitstruktur
vormittags und nachmittags
Netzwerke der Schule
Schule ohne Rassismus; Lernwelt Essen
Programme der Schule
Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule (GÖS)
Modellversuche der Schule
Modellprojekt „Kunst macht Schule, Schule macht Kunst“ von Lernwelt Essen
Wettbewerbe der Schule
Kulturstiftung der Länder
Sozialraum der Schule
randstädtisch gelegener sozialer Brennpunkt; Ballungsgebiet mit hohem Migrationshintergrund; entsprechend groß sind die sozialen Probleme (hohe Arbeitslosigkeit, hohe Scheidungsraten, Alkoholismus, Gewalt usw.); bis zu 40 Prozent der Schuleltern verfügen über ein geringes Einkommen, nur etwa 10 Prozent sind Akademiker
Zusammensetzung
Kinder und Jugendliche aus 24 Nationen, etwa 40 Prozent aller Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund; der Förderbedarf ist auf allen Gebieten sehr groß
Besonderheiten
EKG, EssenerKulturGespräch: Unter diesem Namen finden an der EKG seit dem Jahre 2000 regelmäßig Lesungen, Werkstattgespräche, szenische Darstellungen, Ausstellungen, Diskussionsveranstaltungen und andere (fächerübergreifende) Projekte statt. Schriftsteller, Künstler und andere Persönlichkeiten des kulturpolitischen Lebens besuchen die Schule und bieten so lebendigen Austausch über kulturell und politisch aktuelle Fragen. Die Projekte erwachsen dabei aus dem Unterricht und führen wieder in ihn zurück. Sie sind Teil des unterrichtlichen Geschehens und nicht bloße Anhängsel, die sich leicht konsumieren lassen. Auf diese Weise sollen den Jugendlichen Räume geboten werden, in denen sie kulturelle Erfahrungen sammeln und lernen können, sich kritisch konstruktiv mit ihrer Gesellschaft, ihrer Kultur und dem Umfeld, in dem sie wohnen, auseinander zu setzen. Der Name selbst verdeutlicht bereits, um was es uns bei dem EssenerKulturGespräch geht. Zum einen verweist er auf das Anliegen unserer Schule, als Gesamtschule allen Schülerinnen und Schülern die Chance zu geben, ihre Begabungen zu entdecken und zu entwickeln und – ungeachtet ihrer sozialen Herkunft – ihre Leistungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Zum anderen enthält er den Anspruch Erich Kästners, Kinder und Jugendliche zu verantwortlichen, selbstbewussten Menschen zu erziehen, die in unserer Gesellschaft für Demokratie, freie Selbstbestimmung und ein friedliches Zusammenleben eintreten. Und schließlich zeigt er an, dass diese Reihe dem kulturellen Leben der Stadt Essen Impulse geben und damit auch über den Schulrahmen hinaus wirken möchte; lebenslanges Lernen – auch für Lehrer und Lehrerinnen
Referenzen
Preisträger im Wettbewerb der Kulturstiftung der Länder „Kinder zum Olymp“ 2004/2005