Dabei wird übersehen, dass alle bisher diagnostizierten Probleme nach den bisherigen Studien in erster Linie in der Schul- und Unterrichtsstruktur und nicht bei den im System handelnden Personen liegen. Nur nach einer gründlichen Ausgangsanalyse können wir die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Schon aus der bisherigen Forschung ist bekannt: Kognitive Lernprozesse sind zwar durch eine „Verschärfung“ des intellektuellen Trainings der Schülerinnen und Schülern beeinflussbar, eine durchgreifende Verbesserung ist aber nur möglich, wenn die gesellschaftliche, soziale und organisatorische Einbettung von schulischen Lernprozessen und ihre psychologische und physiologische Fundierung beachtet werden. In der Reformpädagogik der 1920er Jahre wurde diese Erkenntnis in der Formel zusammengefasst, dass intellektuelles und soziales Lernen eine Einheit bilden müssen.
Diese Erkenntnis ist heute besonders wichtig, weil schon aus der gesellschaftlichen und physischen Umwelt von Schülerinnen und Schülern viele Störimpulse kommen, die einem ungehinderten fachlichen Lernen entgegenstehen. Werden diese Störimpulse in der Schule nicht aufgenommen und abgefangen, birgt die schulische Lernorganisation ihrerseits sogar noch weitere Störpotentiale, dann ist keine durchgreifende Verbesserung der Leistungserfolge der Schülerinnen und Schüler möglich.
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des schulischen Lernens haben sich in den letzten fünf Jahrzehnten deutlich verändert. Die soziologische Forschung spricht von einer „Individualisierung“ der sozialen Strukturen in modernen westlichen Gesellschaften. Damit ist gemeint, dass solche Faktoren wie soziale Herkunft, Geschlecht, Religion und Ethnie nicht mehr so stark wie früher über einen Lebenslauf entscheiden, sondern stattdessen die von der einzelnen Person beeinflussbaren Faktoren der Lebensgestaltung. Dem individuellen Bildungsgrad kommt hierbei eine ungeheuer große Bedeutung zu. Nach gesellschaftlichem Verständnis haben Kinder und Jugendliche heute die individuelle Verantwortung für Erfolg oder Misserfolg ihrer schulischen Laufbahn ganz persönlich zu tragen. Ihr persönliches Leistungsverhalten entscheidet über ihre Position in Schule und Beruf, also über die Hierarchie von Belohnungen und Statuspositionen in der ganzen Gesellschaft. Jeder einzelne hat es nach dieser „Leistungsphilosophie“ unserer Gesellschaft in seiner eigenen Hand, was aus ihm wird. Versagen gilt als ein individuell zuschreibbares Verhalten – ebenso wie Erfolg.
In soziologischer Perspektive bedeutet der Eintritt eines Kindes in das System der formalen Erziehung den ersten Schritt über die engen primären Bindungen der Herkunftsfamilie hinaus. Die Schule ist die erste Sozialisationsinstanz, die eine Statuszuweisung und -differenzierung auf nicht verwandtschaftlicher Basis institutionalisiert. Es zählt die individuelle Leistung, die durch eine formalisierte Beurteilung mit Zensuren und Zeugnissen und permanentem Loben und Tadeln verbunden ist. Auf diese Weise lernen die Kinder, wie man in der Gesellschaft einen sozialen Status erwirbt und ihn verlieren und / oder verteidigen kann (Hurrelmann 2002).
Schulisches Leistungsverhalten war schon immer durch angeborene persönliche Vorgaben (Intelligenz, Temperament, Motivation) und das damit eng korrespondierende soziale Umfeld in der Familie mitbestimmt. Die hohen gesellschaftlichen Erwartungen schon an Kinder in der Grundschule, die Schullaufbahn möglichst erfolgreich zu gestalten, können unterschwellig zu einer psychischen, psychosomatischen und körperlichen Anspannung und Belastung führen. Viele Eltern und Erziehungsberechtigte sind heute der Auffassung, schon mit dem Eintritt in die Grundschule beginne die Berufslaufbahn ihres Kindes, werde die entscheidende Weiche für den späteren gesellschaftlichen Erfolg gestellt. Eine „Schonzeit“ für Kinder gibt es heute nicht mehr. Entsprechend nervös und unruhig reagieren sie schon auf die kleinsten Störungen in der Leistungskarriere und ordern bezahlten Nachhilfeunterricht, wenn die ersten schlechten Beurteilungen ihrer Kinder ausgesprochen werden (Hurrelmann; Bründel 2003).
Die Entwicklung wird durch die „Bildungsexpansion“ verschärft. Seit den 1950er- Jahren beobachten wir einen ständigen Anstieg der Anteile von Schülerinnen und Schülern eines Jahrganges, die in anspruchsvolle weiterführende Schulformen übergehen. Damit ist formal das Anspruchsniveau an Bildungsgänge und Qualifikationszertifikate angestiegen. Der Anteil der Realschüler und Gymnasiasten an der gesamten Schülerschaft in Deutschland hat sich von 1960 bis heute verfünffacht.
1960 erwarben etwa sechs Prozent eines Jahrganges das Abitur, heute sind es deutlich über dreißig Prozent. Ähnliches gilt für den mittleren Abschluss. Parallel zu dieser Expansion von anspruchsvollen Bildungsgängen und ihren Abschlüssen ist der Arbeitsmarkt geschrumpft. Er ist heute durch harte Verdrängungswettbewerbe und einen hohen Sockel von Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Die objektive Chancenstruktur für Jugendliche ist damit so beschaffen, dass nur ein Teil der jungen Generation Möglichkeiten für den Einstieg in anspruchsvolle Berufslaufbahnen hat, während ein anderer Teil am Arbeitsmarkt abgewiesen wird und das auch dann, wenn im Vergleich zu früheren Generationen ein anspruchsvoller Bildungsgang durchlaufen und ein hochwertiges Schulabschlusszeugnis erworben wurde.
Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass die Elternhäuser heute so nervös auf Rückschläge in der Schullaufbahn und Rückstufungen in der Leistungskarriere ihrer Kinder reagieren. Zu Recht wittern Väter und Mütter hier eine Gefährdung ihres erreichten sozialen Status. Wenn ihre Kinder trotz formal höherer Schulabschlüsse und besserer Schulleistungen (zum Beispiel ausgedrückt durch ein viel günstigeres Zensurenniveau) keine aussichtsreichen beruflichen Laufbahnen einschlagen können, entsteht naturgemäß Statusangst.
Diese Unruhe und Nervosität überträgt sich auf immer mehr Schülerinnen und Schüler, und zwar schon im Grundschulalter. Es bleibt den Kindern und Jugendlichen gar nichts anderes übrig, als sich auf die schulische Leistungstätigkeit wie auf eine industrielle, quasi den Gesetzen von Lohnarbeit folgende Arbeit einzurichten. Sie absolvieren diese „schulische Lernarbeit“ mehr oder weniger zwanghaft und mechanisch. Der „Lohn“ ist das Zeugnis mit dem Tauschwert für (vermeintlich) erfüllendere Erlebnisse im späteren Leben, dem „Erwachsenenleben“. Wird aber ein Abschlusszeugnis mit hohem Tauschwert im Beschäftigungssystem nicht erreicht, dann sind Frustrationen für die Selbstdefinition und in der Folge Belastungen für Selbstwertgefühl und Gesundheit vorgezeichnet. Die Schulzeit kann unter diesen Umständen als eine „verlorene Lebenszeit“ definiert werden, da sie den instrumentellen Wert des Zugangs zum Beschäftigungssystem nicht einlöst.
Neben den kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des kognitiven Lernens sind seine psychischen und physiologischen Fundierungen zu beachten. Ohne subjektive Leistungsmotivation und ohne die körperlich gegebene Bereitschaft, in der Schule zu lernen, lässt sich auf Dauer kein Schulerfolg erzielen. Gesundheitliche Störungen blockieren die schulische Arbeitsfähigkeit.
In den Gesundheitswissenschaften gehen wir heute von einem Gleichgewichtsmodell der Bestimmung des Gesundheitszustandes eines Menschen aus. Gesundheit ist danach die gelungene Balance zwischen den inneren Anforderungen von Körper und Psyche, die aufeinander abgestimmt werden müssen, und den äußeren Anforderungen der sozialen und physischen Umwelt, die ebenfalls miteinander harmonisiert werden müssen. Gelingt das komplexe Wechselspiel zwischen den inneren und den äußeren Anforderungen, dann kann – immer nur vorübergehend und stets prekär – das Stadium einer relativ hohen Gesundheit erreicht werden. Kommt es zu einem Übermaß von inneren und äußeren Anforderungen, denen die subjektiven Bewältigungsfähigkeiten im physiologischen, psychologischen und sozialen Bereich nicht entsprechen, dann rutscht die Balance zwischen Schutzfaktoren und Risikofaktoren ab, es kommt zu Veränderungen in Richtung einer relativen Krankheit (Hurrelmann 2000).
Der von der Weltgesundheitsorganisation Europa initiierte „Jugendgesundheitssurvey“, der in 35 europäischen Ländern aufeinander abgestimmt durchgeführt wird, zeigt ein ungeschminktes Bild vom gegenwärtigen Zustand der Gesundheits- Krankheits-Balance bei Schülerinnen und Schülern. Die Studie „Health Behaviour in School Children“ (HBSC), die wir an der Universität Bielefeld für Deutschland koordinieren, weist auf die neuralgischen Punkte in der gesundheitlichen Befindlichkeit von Schülerinnen und Schülern hin:
Danach haben wir es heute in allen westlichen Ländern mit wenigen Infektionskrankheiten und im Vergleich zu älteren Generationen auch wenigen chronischen Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen zu tun. Viel stärker ist die Belastung durch Gesundheitsstörungen, die sich aus einer unausgeglichenen Balance zwischen inneren und äußeren Anforderungen, aus einer Disbalance zwischen den Systemen Körper, Psyche, soziale Umwelt und physische Umwelt, ergeben. Insbesondere ist das Ernährungsverhalten, das Bewegungsverhalten und das Stressmanagement von Angehörigen der jungen Generation in einem unbefriedigenden Zustand, so dass es in der Folge zu psychosomatischen, soziosomatischen und ökosomatischen Störungen der Gesundheit kommt. Ziehen wir alle Ergebnisse unserer Studien zusammen (zuletzt publiziert bei Hurrelmann; Klocke; Melzer; Ravens-Sieberer 2003), müssen wir bei 20 % der Schülerinnen und Schüler mit sehr starken Beeinträchtigungen der Gesundheit rechnen, die sich hemmend oder hindernd auf die schulische Leistungsfähigkeit auswirken.
Bildhaft kann man auch von einem hohen „Entwicklungsdruck“ der Kinder und Jugendlichen sprechen. Die Anforderungen, das eigene Leben in Familie, Schule und Freizeit zu meistern, erscheinen ihnen sehr hoch, zugleich wird von ihnen eine höchst individuelle Gestaltung ihres eigenen Lebens erwartet. Eine Fülle von Entwicklungsaufgaben drängt sich in einer kurzen Zeit; die Pubertät verlagert sich gleichzeitig immer weiter im Lebenslauf nach vorne. Dieser hohe Entwicklungsdruck wird von einem Drittel der Jugendlichen durch problematische Formen der Auseinandersetzung mit den Anforderungen aufgefangen.
In den Gesundheitswissenschaften gehen wir heute von einem Gleichgewichtsmodell der Bestimmung des Gesundheitszustandes eines Menschen aus. Gesundheit ist danach die gelungene Balance zwischen den inneren Anforderungen von Körper und Psyche, die aufeinander abgestimmt werden müssen, und den äußeren Anforderungen der sozialen und physischen Umwelt, die ebenfalls miteinander harmonisiert werden müssen. Gelingt das komplexe Wechselspiel zwischen den inneren und den äußeren Anforderungen, dann kann – immer nur vorübergehend und stets prekär – das Stadium einer relativ hohen Gesundheit erreicht werden. Kommt es zu einem Übermaß von inneren und äußeren Anforderungen, denen die subjektiven Bewältigungsfähigkeiten im physiologischen, psychologischen und sozialen Bereich nicht entsprechen, dann rutscht die Balance zwischen Schutzfaktoren und Risikofaktoren ab, es kommt zu Veränderungen in Richtung einer relativen Krankheit (Hurrelmann 2000).
Autoren: Klaus Hurrelmann, Wolfgang Settertobulte
Datum: 24.10.2009
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