Diagnostik in der Ganztagsschule

(c) DKJS / D. Ibovnik
DKJS/D. Ibovnik

Die neue Ganztagsschule tritt an mit dem Anspruch und der Selbstverpflichtung auf die individuelle Förderung jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers. Sie geht weiter von heterogenen Lerngruppen aus: Gemeinsamkeit in Vielfalt. Dass Unterrichtsangebote und Lernarrangements infolgedessen differenziert gestaltet werden, dass zusätzliche Angebote verschiedenen Fähigkeiten und Neigungen folgen müssen und nach Möglichkeit inhaltlich und zeitlich mit dem Unterricht verwoben sein sollen, liegt auf der Hand. Damit setzt sich ein ganzheitlicher Lernbegriff in Deutschlands Bildungslandschaft durch.

Welche Konsequenzen hat dieser Anspruch auf das pädagogische diagnostische Handeln?

Wenn sich die Ganztagsschule als Schule für alle Schülerinnen und Schüler (Heterogenität!) versteht, kann es bei der Diagnostik nicht mehr um Platzierungsfragen gehen. Diagnostisches Handeln dient also nicht mehr der Frage: „Ist dieses Kind/dieser Heranwachsende hier richtig?“, sondern verfolgt das Ziel zu ermitteln, was die Schule tun kann und muss, damit diese/r Schüler/in hier und jetzt erfolgreich lernen kann. Nicht mehr die jeweilige Institution, sondern das lernende Subjekt steht im Mittelpunkt der diagnostischen Fragestellung.

Demzufolge richtet sich das diagnostische Interesse auf den individuellen (Lern-)Entwicklungsstand und die daraus abzuleitenden (Lern-)Entwicklungsmöglichkeiten („Zone der nächsten Entwicklung“, Wygotski, L. S. (1964): Denken und Sprechen, Berlin.). Wenn die Diagnostik also nicht Platzierungsfragen beantworten soll, hat auch ihre feststellende und festschreibende Funktion ausgedient, sie wandelt sich von einem punktuellen Feststellungsverfahren zu einem prozessorientierten Hilfsmittel, wirft eher Fragen auf, als dass sie sie beantwortet:

Welche Lerninhalte passen zu dem derzeitigen individuellen Entwicklungsstand?
Auf welchem Konkretisierung/Abstraktionsniveau befindet sich das Wissen und Können?
Wie tief ist es verankert?
Können Transferleistungen erwartet werden?
Welche methodischen Zugänge bieten sich an?

Spätestens an dieser Stelle muss der viel versprechend klingende Begriff „Diagnostik“ selbst in Frage gestellt werden. Er ist der Medizin entlehnt und hat in deren Systematik eine klare Stellung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bediente sich die Schulpädagogik gern medizinischer Kategorien, um sich wissenschaftlich aufzuwerten. Man begann, Standards für die Bildungsfähigkeit festzulegen und die Grenzbereiche medizinischen Krankheitsbildern zuzuordnen. Als Stichwörter sind in diesem Zusammenhang zu nennen: Einführung der allgemeinen Schulpflicht, Entdeckung der individuellen Intelligenz als maßgeblicher Faktor von Arbeitskraft in der industriellen Produktion.

So wurde gleichsam mit der modernen Pädagogik die Sonder-, Status- und Selektionspädagogik erfunden. Die Heilpädagogen forderten unmissverständlich ihre Anerkennung als Mediziner ein, indem sie sich mit weißem Kittel und Stethoskop ausstatteten. Wenn man sich aber auf der Grundlage des heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu Recht wieder auf die Komplexität menschlicher Entwicklungs- und Lernvorgänge und deren Ganzheitlichkeit besinnt, erscheint der Begriff der Diagnostik vermessen (s. u.). Zu pädagogischer Erkenntnis zählt nämlich im Wesentlichen das Verstehen dieser Zusammenhänge, die von genetischen, biologischen, sozialen, situativen und psychologischen Faktoren bestimmt werden.

Diagnostik ist keine Defizitsuche

Die Integrationspädagogik, bis heute oftmals missverstanden in ihrer grundlegenden schulpädagogischen Bedeutung und fehlinterpretiert als eine Nische der Sonderpädagogik, prägte vor etwa 20 Jahren den Begriff der „Förderdiagnostik“. Ziel war, mit der Diagnostik nicht mehr auf Defizitsuche zu gehen, sondern Ansätze zu individueller Förderung zu finden. Wenngleich auch heute eher von „pädagogischer Analyse“ bzw. von „Pädagnostik“ denn von Diagnostik gesprochen werden sollte, werden hiermit doch eindeutige Maßstäbe gesetzt.
Der Integrationspädagogik verdanken wir auch die Erkenntnis, dass individuelles Lernen niemals abgeschlossen ist und individuelle Lernmöglichkeiten daher nicht vorhersagbar sind. Zwar lassen sich mit einiger Wahrscheinlichkeit absolute Obergrenzen bestimmen – wer beispielsweise nobelpreisverdächtig wird oder nicht -, wie viel hingegen der Einzelne lernen kann, ist nicht bestimmbar. Diese Grauzone sensibel auszuloten ist aber das Evidente und der eigentliche Gegenstand der Schulpädagogik.

Welche Verfahrensweisen eignen sich zur pädagogischen Analyse der Lernausgangslage, des Lernentwicklungsstandes und der „Zone der nächsten Entwicklung“?

In einem ersten Schritt gilt es, die fördernden oder hinderlichen Rahmenbedingungen, unter denen Lernen stattfindet, zu beleuchten und die Ressourcen zu entdecken. Hierzu bedient sich die Pädagogik der Kind-Umfeld-Analyse. Neben der Erhebung einzelner Fragestellungen erfordert eine gründliche Arbeit, dass die Pädagogen die Orte aufsuchen, an denen der Alltag der (künftigen) Schülerinnen und Schüler stattfindet; das sind im Allgemeinen die Familie, der Kindergarten, der Hort … kurz: die Lebenswelt.
Zu den wichtigsten Methoden des alltäglichen pädagogischen Handeln zählt die Teilnehmende Beobachtung. Um sie allerdings wissenschaftlichen Standards gemäß durchzuführen bzw. zumindest anzunähern, bedarf es neben intensiven Trainings eines zweiten Beobachters. Hier ist  nach schulorganisatorischen Möglichkeiten zu suchen, die wenigstens zeitweilig als ein Zwei-Lehrer-System umgesetzt werden können (z. B. Doppelsteckung statt separater Förderstunden, Teilungsstunden etc.).

Fehler sind eine unerschöpfliche Quelle pädagogischer Erkenntnis!

Kinder zeigen gerne, was sie schon können! Lässt man sie auswählen, was sie zeigen möchten, erhält man sehr umfassende Einblicke in ihre Vorlieben, in Gebiete, auf denen sie sich sicher fühlen. Bietet man ihnen dann eine Aufgabe mit ein wenig höherem Schwierigkeitsgrad an, fühlen sie sich ermutigt, die Herausforderung anzunehmen und klar zu äußern, ob sie sich in der Lage sehen, die Aufgabe zu lösen, oder ob sie sich überfordert fühlen.
Fehler sind eine unerschöpfliche Quelle pädagogischer Erkenntnis! Sie etwa rot zu unterstreichen zeugt von psychologischer Unkenntnis: Das Hervorheben verankert sie geradezu in den Köpfen der Schüler/innen. Sie einfach nur anzustreichen verschenkt die Möglichkeit, angemessene Lern- und Übungsangebote zu unterbreiten.
Wird beispielsweise die Aufgabe 5×9 mit 54 beantwortet, kann es sich um einen zufälligen oder systematischen Zahlendreher handeln, es kann ein einmaliger Fehltreffer in der Einmaleins-Reihe sein, die generelle Unsicherheit im Kleinen Einmaleins, das unzureichende Beherrschen der Neunerreihe, das falsche Abschreiben vom Banknachbarn, eine Rechts-Links-Schwäche … Hier gilt es auf systematische Spurensuche zu gehen.
Wer „schtul“ schreibt, kann zumindest lautgetreu schreiben, aber die Regel nicht sicher anwenden, ebenso wenig das Dehnungs-H und die Groß-/Kleinschreibung. Gleichwohl kann dieses Ergebnis in der 1. Klasse ein beachtliches sein.

Und immer wieder Tests: Wiewohl man heute weiß, dass Intelligenztests nur eine Momenttaufnahme darstellen und kaum prognostischen Aussagewert hinsichtlich des Schulerfolgs haben, können sie Aufschluss geben über das Wissen und Können. Allerdings sollte das Setting abgewandelt werden von einer Laborsituation zu einer Alltagssituation und es sollten auch nur jeweilig bedeutsam erscheinende Bestandteile Verwendung finden.
Prinzip jeglicher Pädagnostik muss es sein, Kinder dort abzuholen, wo sie stehen. Und das hat Gültigkeit nicht nur für die leistungsschwächeren. Gerade interessierte, aufgeweckte, wissbegierige Schüler und Schülerinnen werden durch gleichschrittiges Voranschreiten eines undifferenzierten Unterrichts häufig gebremst, sie erleiden Motivationsverlust, büßen das Vertrauen in sich selbst und die Schule ein und gehören nicht selten schließlich zu den Verlierern, weil nicht bemerkt wurde, wann sie den Anschluss verloren haben. Die Ganztagsschule eröffnet Chancen, Entwicklung und Lernen miteinander zu verknüpfen und Angebote so vielfältig zu gestalten, dass Lerngelegenheiten für alle entstehen.

 

Von: Dr. Sabine Knauer

Datum: 7.01.2007
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