Bewertungskultur – Lernen bewerten

(c) DKJS/ D. Ibovnik
DKJS/D. Ibovnik

Eine kompetenzbasierte Unterrichtsentwicklung gelingt nur, wenn sie auf geeigneten Verfahren zur Bewertung von Lernfortschritten basiert – und das nicht nur auf der Ebene des sachlichen Wissens, sondern auf der Ebene des Wissenserwerbs. Wird dies nicht berücksichtigt, kann es passieren, dass auch eine reformierte Lernkultur nicht alltagstauglich ist.

Material und Ressourcen zu alternativen Bewertungsstrategien

 
Umgang mit Schülerleistungen
Die Inhalte der Bewertungsformen Prozess-, Produkt- und Präsentationsbewertung sind sehr komplex. Zur alltagstauglichen Anwendung in der Grundschule muss diese Komplexität reduziert werden.
 

Förderliche Leistungsbewertung Psychologen und Erziehungswissenschaftler kritisieren, dass in Prüfungen meist nur das Kurzzeitgedächtnis nach Merkwissen abgefragt wird, statt Fortschritte bei der nachhaltigen Entwicklung von kognitiven und sozialen Fähigkeiten zu diagnostizieren. Es wird nicht geprüft, was wichtig ist, sondern was leicht zu prüfen ist. 

Individuelle Lernstrategien

Wird im Schulalltag an Ganztagsschulen ausschließlich frontal vermittelt, wird das für Schülerinnen und Schüler schnell anstrengend und frustrierend. Der ganztägige Schulalltag, vor allem wenn er gebunden verläuft, braucht eine abwechslungsreiche Lern- und Lehrkultur. Daher beschäftigen sich Lehrerinnen und Lehrer immer intensiver mit der Entwicklung von Konzepten handlungsorientierter Lernkultur. So befördert die  Ganztagsschule beinahe „wie von selbst“ eine kompetenzorientierte Unterrichtsentwicklung.

Lernen durch Handeln – so werden Kompetenzen geschult. Spätestens seit PISA wissen wir, dass damit zukunftsfeste Bildung vermittelt wird. Wenn Schülerinnen und Schüler Gelegenheit haben, das Gelernte anzuwenden, können sie individuelle Strategien des Lernens entfalten. Damit werden sie befähigt, ein Leben lang zu lernen. Somit ist nicht mehr die Sachkompetenz oberstes Ziel, sondern die Fähigkeit, sich Wissen anzueignen. Die Fortschritte sind an vielen Schulen bemerkenswert. Ganztagsschule bewirkt Unterrichtsreformen und stellt dabei auch die Fachnote als Instrument der Leistungsmessung in Frage.

Fachschaften mobilisieren

Wenn es verstärkt um den Wissenserwerb statt um die  Wiedergabe von Wissen geht, wird die Fachnote in die Schranken gewiesen. Vielerorts wird nun versucht, im Rahmen der etablierten „Notenwelt“ Kompromisse zu schließen. Es werden schulinterne Maßstäbe entwickelt, um Fachkenntnisse vor dem Hintergrund einer fachbezogenen Methodenkompetenz zu bewerten. Dafür müssen Fachschaften mobilisiert und vor allem ermutigt werden. Sind Instrumente gefunden, kann es passieren, dass diese sich auflösen und stattdessen auf der Ebene der Jahrgangsteams verhandelt wird. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Lernstrategien nicht Fachgrenzen zugeordnet werden können, sondern meist überfachlich wirken. Fachkollegen sollten also einen gemeinsamen Nenner, ein geteiltes Verständnis zu fächerübergreifenden Lernmethoden entwickeln – auf dieser Basis können dann fachliche Kompetenzen bewertet werden. Die Lehrerin oder der Lehrer fragt dann nämlich die Schüler: „Wie bist du zu diesen richtigen Erkenntnissen gekommen?“ Wenn es dafür Antworten gibt, dann lässt sich einschätzen, wie produktiv der Wissenserwerb war. Darüber hinaus wird auch die Nachhaltigkeit des Wissens einschätzbar. Je handlungsintensiver der Forschungs- und Lernprozess verlaufen ist, desto tiefer ist das erworbene Wissen gespeichert.

Wie verhandeln wir unter Kollegen?

Zunächst gilt es, ein Verständnis für handlungsorientierte Lernkultur zu entwickeln. Das gelingt, indem eine darauf bezogene Unterrichtskonzeption erarbeitet wird. Anhand eigener Erfahrungen der Lehrkräfte werden dann Strategien zur Lernbewertung „erfühlt“. Die erfahrungsbasierte Vorgehensweise sollte dann jedoch „Chefsache“ sein, auf die Ebene der Fachschaft getragen und von den restlichen Kollegen beobachtet werden. Ohne diese Einbindung können nur Einzellösungen gefunden werden, die nicht mit tradierten Bewertungsstrategien konform sind.

Selbstständige Schüler entwickeln eigene Strategien, um Wissen zu erarbeiten. Während der eine Bücher und das Internet zu Rate zieht, braucht der andere Möglichkeiten, den Dingen mit Experimenten auf die Spur zu kommen. Unterschiedliche Lernwege führen somit zu gleichen Sachkenntnissen. Diese Tatsache sollte der oder die Lernende selbst feststellen – durch Instrumente zur Selbstbeobachtung, aber eben auch durch die Beobachtungen der lernbegleitenden Lehrer.

Wie sieht das in der Praxis aus?

In Klasse 6 werden den Schülerinnen und Schülern im Physikunterricht Tabletts mit Gegenständen angeboten, die das Forschen ermöglichen. Dabei handelt es sich um Experimente, die Phänomene der Alltagswelt erfahrbar machen. Die Jugendlichen, die sich in festen Teams jede Woche auf diese Weise durch die Physikzeit bewegen, halten in jeder dritten Woche ihre Ergebnisse, aber vor allem ihre Vorgehensweise fest. Da sie keine vorgegebenen Forschungspläne haben, sind sie herausgefordert, selbst die Experimente zu erfinden. Auf sehr unterschiedliche Weise entstehen dann „Lernwege“, die zeigen, dass nicht alle auf die gleiche Weise vorgehen.

In einem Team nimmt man sich zunächst den Laptop und schaut nach, ob es nicht bereits Erfahrungen gibt. Andere nehmen sich dafür keine Zeit, sondern legen gleich los. In anderen Teams wird versucht, beide Ansätze zu kombinieren, indem der eine die Bücher durchsucht und der andere schon mal experimentiert. Am Ende eines Physikblocks gilt: Erkläre es deinen Mitschülern. Da immer zwei Teams dieselbe Lernumgebung vorfinden, erkennen die Mitschüler gut, dass es verschiedene Forschungsstrategien gibt. Die Lehrerin erkennt, wie wichtig es ist, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Wege und Strategien reflektieren. Denn das Wissen um die fachlichen Zusammenhänge, also die Sachkompetenz, lässt sich auf den vernetzten Notebooks schnell finden. Der eigene Weg zur Erklärung und zum Verständnis der Phänomene wird dann zur Lernlektion.

Nachdem die verantwortliche Lehrerin das festgehalten hatte, entschied sie sich, die Schülerinnen und Schüler dazu anzuhalten, den Forschungsweg akribisch zu notieren. Nur mit diesem „Zeugnis“ wird das Fachergebnis bewertet.

In der 7. Klasse wird es im Physikunterricht ruhiger. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in diesem Schuljahr auf einer kognitiveren Ebene und vertiefen bewusst die Phänomene, die in jedem Physikblock erlebt wurden. Auch hier gilt es zu lernen, dass unterschiedliche Strategien des Recherchierens und Ausarbeitens zu Ergebnissen führen, die in gleicher Weise gültig sind. Die Schüler steigen jetzt ein zweites Mal in die Welt der Mechanik und Wärmelehre ein, aber diesmal mit Erfahrungswissen, auf das sie aufbauen können.

Diese kurze Beschreibung ist die erlebte Praxis an einer Ganztagsschule.

 

Datum: 30.05.2012

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