Impulse aus Bildungspraxis und Wissenschaft
In einer moderierten Gesprächsrunde gaben drei Expert:innen aus der kommunalen Bildungspraxis und der Wissenschaft wertvolle Impulse und schilderten ihre Perspektive auf die derzeitigen Entwicklungen.
Prof. Dr. Falk Radisch, Professor am Institut für Schulpädagogik und Bildungsforschung an der Universität Rostock, betonte, dass es aktuell zwar etliche Diskussionsrunden gebe, sich jedoch viele der aktuellen Diskussionen um formale, juristische und organisatorische Fragen bezüglich des Rechtsanspruchs drehten. Dabei seien Bildungsmangel und soziale Ungerechtigkeit die eigentlichen Probleme. Der Rechtsanspruch sei diesbezüglich „ein wichtiges Instrument“, jedoch nicht wirklich auf diese Problematiken fokussiert.
Bildung sei das zentrale Gut unserer Gesellschaft – und daher wäre eine öffentliche Bildungsdebatte aus Sicht von Prof. Falk Radisch wichtig. Doch eine solche Debatte könne nicht zentralistisch und allgemein geführt werden. Es brauche auf verschiedenen Ebenen Austauschformate und Möglichkeiten, voneinander und miteinander zu lernen. Diese Austauschmöglichkeiten habe es in der Vergangenheit bereits gegeben, aber ein Großteil davon sei weggebrochen.
Schulen und andere Formen des Ganztags brauchten einen Rahmen und Standards, aber es gehe nicht um Vereinheitlichung, sondern Qualität müsse letztendlich vor Ort gelingen. Mit Blick auf die Umsetzung des Rechtsanspruchs bezeichnete Prof. Falk Radisch das Personalproblem als die größte Herausforderung.
Evelin Klein, Projektteamleitung „Gesamtkonzept Ganztag“ im Stadtschulamt Frankfurt am Main, stellte die umfassenden Aktivitäten der Stadt Frankfurt am Main in der (Weiter-)Entwicklung der Ganztagsgrundschule vor. Bereits im Jahr 2017 wurde das „Gesamtkonzept Ganztag“ mit dem Auftrag, ein einheitliches Förderprogramm mit dem Fachfeld zu entwickeln, durch einen Magistratsbeschluss auf den Weg gebracht. Unter dem Motto „Ganztag gemeinsam gestalten“ startete das Stadtschulamt Frankfurt 2019 mit dem Fachfeld einen Beteiligungsprozess zur Entwicklung eines Gesamtkonzeptes für ganztägig arbeitende Grundschulen. Etwa 180 Fach- und Leitungskräfte aus der Frankfurter Bildungslandschaft erarbeiteten schließlich einen Konzeptentwurf, der auf 47 Maßnahmen in den Entwicklungsbereichen Pädagogik, Organisation und Architektur aufbaut. Dieser bildet die Grundlage für die zweijährige Pilotphase, die im Frühjahr 2021 begonnen hat und noch bis Mitte 2023 läuft. Neun Pilotstandorte in Frankfurt nehmen daran teil, jeweils bestehend aus Schule, Träger und Quartier. Ziel des Piloten sei es, die Konzeptmaßnahmen auf ihre Praxistauglichkeit und Robustheit zu überprüfen – gerade auch mit Blick auf den kommenden Rechtsanspruch.
Evelin Klein stellte eine Reihe von Erkenntnissen aus dem Pilotprojekt vor. Sie betonte, dass innere Schulentwicklung Zeit brauche und nur in kleinen Schritten vorankomme, während der Ruf nach einer klaren Rahmengebung häufig groß sei. Ein wichtiges Entwicklungsthema sei die Elternarbeit, da Verständnis und Akzeptanz für neue Lernsettings und einen veränderten Schulalltag häufig noch fehlten. Daher sei die Beteiligung von Eltern bei der Weiterentwicklung von pädagogischen Konzepten ein Muss. Insgesamt gehe es im Ganztag nicht mehr nur um Kooperation, sondern um die Bildung von Verantwortungsgemeinschaften, die alle Akteur:innen und Gruppen einer Schule umfassen, durch Dialoge und im gemeinsamen Handeln. Evelin Klein konstatierte, dass sich die beteiligungsorientierte Praxis in Frankfurt insgesamt bewährt habe und ein klarer Kompass für Planungen geworden sei.
Weitere Informationen zum Projekt finden Sie hier auf den Seiten der Stadt Frankfurt am Main.
Moritz Füller, verantwortlich für das Bildungsmanagement im Kreis Segeberg in Schleswig-Holstein und unter anderem für den Ganztag, die Fachkräfteentwicklung im pädagogischen Bereich sowie für Schulsozialarbeit, Digitalisierung in der Bildung und Übergänge zuständig, wies darauf hin, wie wichtig es sei, dass die Kommunen das Thema proaktiv angehen, den Ganztag in ihren Haushalts- und Personalplanungen berücksichtigen – und Austauschmöglichkeiten sowie Qualifizierungs- und Beratungsangebote schaffen. Wichtig sei zudem eine vertrauensvolle, landesseitig dauerhaft personell und finanziell abgesicherte Zusammenarbeit mit Unterstützungssystemen wie z.B. den Serviceagenturen Ganztag.
In seinem Impuls stellte er drei beispielhafte Maßnahmen vor, die der Kreis auf dem Feld der Ganztagsentwicklung umsetzt. So wurde gemeinsam mit den hauptamtlichen Volkshochschulen im Kreisgebiet das Qualifizierungsangebot „ZUKUNFTWEITERBILDUNG“ für pädagogisch Tätige im Bildungsbereich geschaffen. Damit sollten kurze Wege und regionale Angebote für eine möglichst breite Zielgruppe pädagogischer Fachkräfte geschaffen werden – denn es sei wichtig, dass Angebote nicht nur in der Landeshauptstadt, sondern auch vor Ort im Kreisgebiet stattfänden.
In einem weiteren Vorhaben, dem „Netzwerk Ganztag“, fördert der Kreis Segeberg seit 2020 aktiv die Vernetzung von Grundschulen, die noch gar keinen Ganztag anbieten sowie Grundschulen, die sich noch in ihrem Entwicklungsprozess auf dem Weg zur Ganztagsschule befinden. Es sei beabsichtigt, die Arbeit des Netzwerks im Jahr 2023 auszuweiten und mehrmals im Jahr fachliche Impulse sowie Netzwerkveranstaltungen anzubieten.
Zudem hat Moritz Füller gemeinsam mit seiner Kollegin Christin Hönemann aus dem Kreis Herzogtum Lauenburg und der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Schleswig-Holstein einen Qualifizierungskurs für Leitungskräfte zum Thema „Ganztag leiten“ entwickelt und erfolgreich aufgebaut. Der Kurs entwickelt eine Qualifizierungsperspektive für Fachkräfte im Bereich der Ganztagskoordination und ist seit Herbst 2022 als reguläres kostenpflichtiges Qualifizierungsangebot mit zwei Zertifikatskursen in der JugendAkademie im Kreis Segeberg für ganz Schleswig-Holstein gestartet.