Schulentwicklung – nahe dran

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DKJS/D. Ibovnik

Ilse Kamski (IFS Dortmund)

von Dr. Cornelia Alban

Die Werkstatt „Entwicklung und Organisation von Ganztagsschulen“ wird vom Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Universität Dortmund unter Leitung von Professor Dr. Heinz Günter Holtappels und den Mitarbeitenden Ilse Kamski und Thomas Schnetzer als Programmelement von „Ideen für mehr! Ganztägig lernen.“ seit Februar 2005 durchgeführt. Auf Grundlage der Rahmenkonzeption der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung werden vorhandenes Wissen und Erfahrungsbestände nutzbar gemacht und für die Praxis aufbereitet. Die Werkstatt 1 fungiert als Bindeglied zwischen Wissenschaft und Praxis.

Arbeitsschwerpunkte

  • Entwicklung von Qualitätsstandards und Indikatorensystemen,
  • Erstellung von Publikationen zur praxisnahen Entwicklung und Organisation von Ganztagsschulen,
  • Organisation von Fachtagungen für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus Praxis, Wissenschaft und Politik,
  • vierteljährlich angebotene Fortbildungsreihe (Beratungssalons) mit individuell gewählten Schwerpunktthemen der Workshopteilnehmenden,
  • Forschungsübersicht über die Ganztagsschulforschung,
  • Konzeption, Initiierung und Begleitung von Netzwerken und Fortbildungsreihen für Schulen,
  • Beiträge auf Fachtagungen und
  • Ansprechpartner für Serviceagenturen.

Austausch im Salon

Es ist ein stürmischer Dezembertag, an dem der 9. Beratungssalon das zweijährige Bestehen dieses Fortbildungsformates begeht. „Salon, ein schöner Name für die Veranstaltung.“ Da lacht Ilse Kamski, pädagogische Mitarbeiterin am IFS, die an diesem Tag dem nüchternen Besprechungsraum im Uni-Campus mit Kerzen, Gebäck und weihnachtlichem Dekor ein bisschen Salon-Ambiente verleiht. „Das meinen wir auch, wir haben uns damals von der Tradition der Literatursalons des 19. Jahrhunderts inspirieren lassen. Doch es kommt nicht selten vor, dass mit dem Namen Friseursalons oder andere Arten von Salons verwechselt werden.“ Die professionelle Atmosphäre verscheucht schnell weitere Assoziationen.

Die gebürtige Österreicherin und ihr Kollege, Thomas Schnetzer, arbeiten seit drei Jahren in dem Projekt, und es wird nicht ihr letztes gemeinsames Jahr sein. Sie beide sind für den theoriegeleiteten Input, für die Visualisierung der Gesprächsergebnisse und Moderation der Salons zuständig. Der Salon will keine starren Fortbildungsangebote machen, sondern flexibel auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden eingehen. Er öffnet seine Türen für Interessierte aus den Netzwerken aller regionalen Serviceagenturen. Kein Thema, das in den Arbeitsbereich der Werkstatt passt, ist tabu: vom komplexen Organisationsproblem bis hin zu einfachen Basisinformationen.

Es ist eine kleine Runde, die sich nach den Widrigkeiten des morgendlichen Ruhrgebietsverkehrs einfindet: vier IfS-ler, drei Vertreter der Schulpraxis, zwei teilnehmende Beobachter. Nach oben hin ist die Anzahl der Salongäste in der Regel auf 20 begrenzt, um die Qualität eines Beratungstages zu gewährleisten.

Das Besondere des Formates ist, dass jeder Teilnehmer ein Thema zur Besprechung wählen kann, das er spätestens fünf Tage vor dem Treffen einreichen sollte. „Wir wählen aus den Vorschlägen aus, gewichten nach Bedeutung und beschränken uns auf zwei. Doch auch das ist nicht immer leicht, zwei Themen hinreichend an einem Tag zu bewältigen. Im letzten Beratungssalon hatten wir die Schwerpunkte Rhythmisierung und Kooperation“, erklärt Ilse Kamski den Ablauf. Das Beratungsprotokoll, das auf der Internetseite des Institutes veröffentlicht wird, fasst die Ergebnisse zusammen und ist für alle einsehbar. „Das Wichtigste für uns ist jedoch der Expertenaustausch.“ Und nun wird es wirklich spannend. Was ist das Thema des heutigen Tages? Das Schulleitbild. Als ob das etwas Selbstverständliches wäre, schauen die Schulentwicklungsexperten aufmunternd in die Runde.

Vom Leidbild zum Leitbild

Nein, so selbstverständlich ist das nicht, zumindest nicht für die Vertreter der Praxis. Für Nils Kleemann, Schulleiter der Montessori-Grundschule mit abgeschlossener Orientierungsstufe in Greifswald, einer Schule in freier Trägerschaft seit 1998, war es zwar nicht schwer, ein Leitbild für die gebundene Ganztagsschule zu finden. Aber er hatte eine gute Ausgangssituation: „Wir konnten das selbst entwickeln, haben uns Freiräume erkämpft. Wir mussten keinen fragen.“ Für die Krippenkinder bis zu den Schülerinnen und Schülern der Orientierungsstufe lautet das Credo der Schule, „Hilfe aus einer Hand zu geben“. Heute beschäftigt ihn, wie es für seine Schüler nach der sechsten Klasse weitergeht, sicher auch ein Punkt, der leitbildfähig ist.

Ein Blick auf seinen Kollegen, Ulf Burmeister bestätigt, wie viel Brisanz das Thema birgt. Der Leiter des Humboldt-Gymnasiums in Greifswald hat sich bewusst für die offene Ganztagsschule entschieden, um den Eltern Optionen für die Betreuung ihrer Kinder offenzuhalten. Die Ausrichtung der Schule auf Naturwissenschaften, mit Förderklassen in Mathematik, machte für ihn bisher das Schulprofil aus. Durch die bildungspolitischen Strukturveränderungen in Mecklenburg-Vorpommern geriet die Schule unversehens von zwei Seiten unter Druck, war und ist gezwungen zur Veränderung. Die Einführung des „längeren gemeinsamen Lernens“, der Orientierungsstufe, in den regionalen Schulen bedeutete für das Gymnasium den Wegfall der fünften und sechsten Klassen. Diese Entwicklung konnte zwar durch die Bildung von sogenannten Hochbegabtenklassen aufgefangen werden, die aus dem gesamten Umland rekrutiert wurden, bergen aber auch Zündstoff für die Kontinuität der Schulentwicklung. Vor allem, wenn die Schülerinnen und Schüler dieser Klassen nach der sechsten Klasse wieder an die näher gelegenen Gymnasien ihrer Heimatorte abwandern.

Vom oberen Ende knabbert mit der Verkürzung von 13 auf 12 Schuljahre ein weiterer Strukturprozess an dem Plattenbau. Die Verdichtung des Unterrichtsstoffs, sechs Leistungsfächer mit vier Wochenstunden, 35 Wochenstunden bewerteten Unterricht in der Oberstufe lassen Fragen aufkommen: Können wir überhaupt noch Projekte machen? Wie können die Schüler das schaffen? Sind durch die Veränderungen nur noch additive Angebote möglich? Wie kann man angesichts der Maßgaben von außen ein Leitbild entwickeln, verändern oder aufrechterhalten?

Kooperation Triangel – Vielfalt als Chance

Eine Lösung für die drängendsten Probleme haben die Greifswalder gefunden. Im Februar 2007 haben sich die Montessori-Schule, das Humboldt-Gymnasium und die regionale Schule Ernst Moritz Arndt zu einem Netzwerk zusammengefunden, um ein reformpädagogisches Angebot vom Kinderhaus bis zu den Schulabschlüssen „Berufsreife“, „Mittlere Reife“ und „allgemeine Hochschulreife“ zu schaffen. Schon in der Orientierungsstufe werden an allen drei Schulen schulübergreifende Projekte angeboten. Seit dem Schuljahr 2007/2008 hat der Aufbau von Klassen mit reformpädagogischen Profil am Humboldt-Gymnasium und an der regionalen Schule begonnen.

Für Nils Kleemann ist damit zumindest eine Leitbildfrage, die der Zukunft seiner Schüler, gelöst. Drei Jahre hat er an dieser Konzeption gearbeitet, im und mit dem Humboldt-Gymnasium, Angebote unterbreitet, gefragt, Lehrer überzeugt mitzumachen. Seit vier Monaten gibt es nun eine reformpädagogische Klasse am Humboldt-Gymnasium mit 23 Montessori-Schülern und drei „Quereinsteigern“. Was bedeutet das wiederum für seinen gymnasialen Kooperationspartner? Haben Sie da nicht bald drei verschiedene Schulrichtungen unter einem Dach? Für „Hochbegabte“, „Reformpädagogen“ und „Normale“. Wo ist das Verbindende? Wieder wirft das Engagement der Salonlöwinnen und –löwen fragende Purzelbäume in die Luft. Zur Abkühlung der mittlerweile hitzigen Diskussion schlägt Thomas Schnetzer einen theoretischen Input zur Leitbildfrage vor.

Von kühnen Träumen zur Realität oder umgekehrt?

Thomas Schnetzer (IFS Dortmund)

Wer nun ernsthaft geglaubt hätte, mit dem Perspektivwechsel würde ein wenig Nonchalance im Salon eintreten, irrt gewaltig. Warum ein Leitbild? Wofür steht Ihre Schule? Was wollen Sie erreichen? Was ist ein Leitbild im Gegensatz zum Schulprogramm und Schulprofil? Wie schafft man ein Leitbild? Welche Funktion hat ein Leitbild? Fragen über Fragen, die komprimierte Antworten mit vorzugsweise ion- oder ung-Wortendungen finden: von der verdichteten Vision, über konkrete Utopie, hin zu Wertevorstellungen, Orientierung, Integration, Anpassung, Legitimation, Identifikation, Kooperation aller Beteiligten, Bestandsaufnahme, Maßnahmen und Evaluation. Eine volle Portion geistiger Kalorien, die den mittlerweile auch physisch hungrigen Teilnehmern geboten wird.

Anscheinend ist ein Leitbild keine so einfache Sache – und es verpflichtet. Heinz Günther Holtappels hält ein Leitbild für nichts wert, wenn es nicht heruntergearbeitet werden kann. Vehement verficht er den Standpunkt, dass man sich nicht treiben lassen, sondern Visionen entwickeln sollte, die jedoch auch umsetzbar sein müssen. Die Henne-Ei-Frage, was kommt zuerst, beantwortet er eindeutig: „Wenn man ein Unternehmen gründet, hat man ja auch zuvor ein Ziel.“ Da erntet er heftigen Widerspruch von Sabine Wegener von der Serviceagentur Nordrhein-Westfalen: „Ich wehre mich gegen die Theorie, dass man mit dem Leitbild beginnt. Bei uns ist es sporadischer, wir probieren aus, wir sind mit der Organisation gestartet. Manchmal sind die organisatorischen Anforderungen so hoch, dass man sich nicht immer mit dem Leitbild befassen kann.“

Mit dieser Meinung sitzt sie nicht allein im Salon. Die engagierte Serviceagenturlerin wird sich der Leitbildfrage erneut stellen müssen, denn im Februar 2008 wird sie Schulleiterin einer offenen Ganztagsschule mit einem „13-plus-Angebot“. Will heißen, zehn Lehrerwochenstunden für den Ganztag nach 13.00 Uhr. Macht bei einer Beteiligung von 15 Schülern pro Gruppe satte 7.500 Euro. „Das ist ein schöner Betrag“, staunt ihr Kollege aus Greifswald. „Ich kann nur Stunden vergeben und nur an die, die die richtigen Fächer haben, beschreibt er einmal mehr „die Knüppel, die ihm zwischen die Beine geworfen werden“.

Vorsicht, Leitbild nicht vergessen

Peter Bleckmann (Programmleiter „Lebenswelt Schule“) und Sabine Wegner (Regionale Serviceagentur NRW) – beide links

Doch die Schulentwickler bleiben beinhart in Sachen Leitbild. Nicht zu Unrecht, wie sich herausstellt. Gerade der Problemdruck sei es, der Veränderung bewirke und Schulentwicklung ohne Leitbild voranzutreiben, „das geht nicht“. Heinz Günter Holtappels spricht deutlich aus, was er für richtig hält: „Zuerst kommt das Leitbild – so können Fehler und Irrwege vermieden werden, die Praxis sieht jedoch aus Zeitmangel und Druck von vielen Seiten verständlicherweise oft anders aus.“ Das unmittelbar Einleuchtende dieser Form des Austausches ist die klare Positionierung. Hier werden keine akademischen Binsenweisheiten versprüht, sondern kollegiale Zusammenarbeit und Beratung geübt. „Ohne Leitbild schafft man Strukturen, die man nicht mehr los wird. Ein Leitbild kann man nicht an einem Tag entwickeln, aber den Anfang machen“, fügt der Professor für Erziehungswissenschaften lächelnd hinzu.

Den Anfang macht Sabine Wegener, mit Blick auf die Moderationskarten an der Pinnwand, entwirft sie für das Humboldt-Gymnasium ein Drei-Säulen-Haus mit einem gemeinsamen Dach, sucht nach Verbindungen zwischen den drei Säulen: Hochbegabte, reformpädagogischer Zweig und regionale Schule, gräbt im Fundament nach festem Halt. „Das Dach, das ist klar, das ist der Output, das sind die Schüler, und das Fundament müsste die Säulen tragen, denn ansonsten gibt es Schieflagen“, grübelt sie. Und denkt schon weiter: „Auch ich muss aufpassen in meiner neuen Schule. Was ist, wenn sich bei mir eine 13-plus- und eine 13-minus-Säule bilden? Was passiert mit den Schülerinnen und Schüler, die im Ganztagsangebot fehlen. Was kann da das Leitbild sein?“ „Vielleicht vom Ziel aus zu denken, zum Beispiel dem Ziel, für alle einen Ausbildungsplatz zu finden“, regt Isabelle Hilgers, die aufmerksame Protokollantin des heutigen Salons, an.  Hier wird ein weiteres Plus des Beratungssalons offensichtlich: das Denken in systemischen Zusammenhängen und dieses zu visualisieren. Während der intensiven Diskussion hat Ilse Kamski eine Mind Map erstellt und damit assoziativ die Entstehung eines Säulenhauses unterstützt.

Vom Plattenbaubeton zum Pantheon

Das Bild vom Säulenhaus gefällt: allen. Statt sich vom Beton des Plattenbaus die Rhythmisierung des Schulalltags aufzwingen zu lassen – die verquere Konstruktion des Humboldt-Gymnasiums: Durchgangsräume, keine Flure und aufwendiges Treppensteigen machen mühsame pädagogische Umwege notwendig – , lässt das Säulenhaus Luft herein und heraus zum Aufatmen und Visionen entwickeln. Das Gesicht von Ulf Burmeister hellt sich zunehmend auf. „Wir werden das Leitbild vom Dach aus entwickeln, von den Schülern, die wir entlassen.“

Glücklich dem Diktat des Betons entronnen, mahnt nun der Uhrzeiger, Zeit zum Abschiednehmen. Zeit für Ilse Kamski ihre Lieblingsfrage zu stellen, vor der sich alle anderen gekonnt drücken: Wer macht was mit wem bis wann und wer kontrolliert das? Man kann die Kollegen verstehen, warum ihr diese Frage überlassen bleibt. In ihrer zugewandten Art nimmt sie der Frage die gewohnte Schärfe und es bleibt nur ein wenig wohldosierter Druck. Binnen Minuten sind Aufgaben verteilt, Absprachen getroffen. Mitte Januar werden die Greifswalder Kollegen die erste Beschlusskontrolle zum Thema Leitbild durchführen. „Wir telefonieren ja sowieso oft miteinander“, berichtet Nils Kleemann, die quirlige reformpädagogische Säule des Trios. „Ein großes Dankeschön an alle hier, wir haben von der kleinen Runde profitiert, in der wir so viel Raum hatten für die Beratung unserer Probleme“, verabschiedet er sich. Die beiden Greifswalder ziehen eilig von dannen: zu ihrem Pantheon.

 

Fotos: DKJS
Datum: 21.12.2007
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