Die Albert-Schweitzer-Schule in Hannover macht ihr Ganztagsangebot an vier Tagen in der Woche verbindlich. Das neue Konzept kommt nicht nur bei Lehrkräften und Eltern gut an: Auch den Sozialpädagoginnen, Erziehern und allen anderen außerschulischen Mitarbeitern gibt das neue Rhythmisierungsmodell viel mehr Spielraum bei der Gestaltung des Schulalltags.
Von Beate Köhne
Aller Anfang mag schwer sein. Auf dem Weg, den die Albert-Schweitzer-Schule eingeschlagen hat, lagen allerdings nicht nur die sprichwörtlichen Steine, sondern sogar einige Felsb
rocken. Viel Kraft war erforderlich, um jene geradlinig wirkende Piste auszubauen, die heute Gäste beeindruckt. Gerade gestern, erzählt Schulleiterin Beatrix Albrecht, seien sie hier in Hannover zum Netzwerktreffen zusammen gekommen. „Die Kollegen waren begeistert – und teilweise ganz erschlagen von dem, was wir hier bereits auf die Beine gestellt haben.“
Es hätte geheißen: Das wollen wir auch! Aber wir haben kein Geld, keine Lehrerstellen, kein gar nichts. „Dass es auch bei uns ein langer Prozess war, wird oft übersehen“, sagt Beatrix Albrecht.
Vor neun Jahren bereits hat sich die Albert-Schweitzer-Schule entschieden, eine offene Ganztagsschule zu werden – ein Entschluss, der letztlich aus der Not geboren wurde. Die Grundschule liegt in einem sozialen Brennpunkt in Linden-Nord, die sozialen Verhältnisse sind schwierig. „Wir waren die Türkenschule mit der Gewaltproblematik“, bringt es Beatrix Albrecht auf den Punkt. Von Jahr zu Jahr hätten sich weniger deutsche Kinder angemeldet.
„Man konnte an allen Stellen sehen, dass das bisherige Konzept nicht ausreichend war“, sagt sie, „daher stand das Thema Ganztag für uns ganz oben auf der Liste.“ Doch man schrieb das Jahr 2004, noch fehlten in Hannover die Vorbilder. Die Eltern seien dem Ganztagskonzept gegenüber sehr misstrauisch gewesen, erinnert sich Beatrix Albrecht. Auch die außerschulischen Einrichtungen hätten zunächst ablehnend reagiert, weil sie befürchteten Kinder zu verlieren. Schließlich sei ihre Schule auf die Stadt zugegangen. Ihr Vorschlag: Hort und Jugendhilfe sollten zu ihnen ins Haus kommen. Zwei Jahre dauerte es, bis dies als Modellprojekt genehmigt wurde. Wieder habe es zunächst gegolten, Ängste von Mitarbeitern und Probleme auf ministerieller Seite zu überwinden. Weil es in Niedersachsen zuvor Ähnliches nicht gegeben habe, wurde das Modell schließlich sogar vier Jahre lang wissenschaftlich begleitet.
Was stark vorangebracht hat
Die Evaluation bestätigt, was Schülerschaft, Lehrkräfte, pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Eltern empfinden: Der Ganztagsbetrieb hat die Albert-Schweitzer-Schule stark vorangebracht. Die Anmeldungen steigen, noch nie haben so viele deutsche Eltern ihre Kinder an der Schule angemeldet, was der Mischung gut tut. „Es ist ein absoluter Umbruch, der da gerade passiert“, sagt die Schulleiterin. Noch sei aber nicht die Zeit gekommen, um sich auszuruhen. Vielmehr sei das Erreichte Motivation und Voraussetzung für den nächsten entscheidenden Schritt: Eine komplett umgestellte Rhythmisierung im dann teilgebundenen Ganztagsangebot.
Nach den Schulferien werden alle Schülerinnen und Schüler an vier Tagen bis 15 Uhr in der Schule bleiben, am Freitag ist die Teilnahme an den AGs freigestellt. Eine so genannte Kontingenzstundentafel, in der die Wochenstruktur nur als grobes Raster vorgegeben ist, ersetzt den Stundenplan. Einzelne Elemente wie zum Beispiel die Projekttage, der ‚Superlerntag’ oder spezielle Fördersequenzen werden bereits jetzt angeboten, die meisten aber sind neu. Egal ob Thementag, ‚Zeit für…’ oder Angebote zur kulturellen Bildung – die Jahrgangsteams erhalten vollkommen freie Hand bei der Unterrichtsgestaltung und -rhythmisierung.
Große Zeitblöcke
„Dieser radikale Schritt ist für uns Neuland“, sagt die Schulleiterin, „die großen Zeitblöcke ermöglichen eine ganz andere Freiheit.“ Natürlich seien damit auch Ängste verbunden. Was, wenn viele Ideen in der Praxis an ihrer Schule nicht funktionieren? Wenn die teilgebundene Ganztagsschule für ihre Kinder nicht geeignet ist? „Wir müssen herausfinden, wie viel Offenheit unsere Kinder vertragen, gerade weil vielen von ihnen zuhause die Strukturen fehlen“, erklärt Beatrix Albrecht. Doch das Kollegium stehe geschlossen hinter den Neuerungen, und deshalb würden sich auch eventuelle Probleme bewältigen lassen. Alle fänden den Schritt spannend und inspirierend, sagt Beatrix Albrecht, niemand stöhne – trotz all der Mehrarbeit. Jene Handvoll Kolleginnen und Kollegen, die schon mit dem offenen Ganztagskonzept Probleme nicht zurechtkamen, hätten die Schule bereits vor Jahren verlassen.
„An der Schule herrscht ein entsprechender Geist, eine Offenheit“, sagt denn auch der Schulsozialarbeiter Ralf Hoffmann, „die Lehrer sind sehr engagiert, auch in der Elternarbeit, und durch die Teamarbeit sind wir mittlerweile gut vernetzt.“ Seine Kollegin Nanette Wohlert, die Ganztagskoordinatorin, mit der er sich gerade zur kleinen Teambesprechung getroffen hat, nickt.
„An anderen Schulen haben es Sozialpädagogen manchmal sehr schwer“, sagt sie, „das ist hier nicht so.“ Auch bei Sozialpädagoginnen, Erziehern und allen anderen außerschulischen Mitarbeitenden komme das neue Konzept gut an. „Durch die Rhythmisierung und den neuen Stundenplan wird Lernen ganzheitlicher“, findet Nanette Wohlert, „Begreifen und Selbsterfahrung werden im Vordergrund stehen, das wird den Kindern gerechter und eröffnet allen mehr Möglichkeiten.“
Unterschiedliche Lernzugänge
Ralf Hoffmann ist mittlerweile schon zur Sporthalle vorgegangen. Um 13 Uhr beginnt seine AG Psychomotorik, ein besonderes Förderangebot für alle Kinder, die in dem Bereich einen Nachholbedarf haben. Nach und nach trudeln elf Kinder umgezogen in der großen Halle ein. Mit dem geplanten Parcours kann aber noch lange nicht begonnen werden. Da will der eine nicht zur Besprechung in den Kreis kommen, mag aber auch nicht ruhig auf der Bank sitzen bleiben. Der nächste kneift seinen Nachbarn und ein anderer hört einfach nicht auf zu reden. Besonders ein kräftiger Junge im weißen Fußball-Shirt will permanent alle Aufmerksamkeit auf sich lenken und beschwert sich lautstark, dass ihm niemand dabei hilft, die dicke, blaue Matte zu bewegen. Die meisten Kinder weichen dem impulsiven Schüler lieber aus.
Auch die so genannte ‚Zehnergruppe’ ist eine jahrgangsübergreifende AG für all jene, die größere Gruppen sprengen würden. Hier kann sehr individuell auf einzelne Bedürfnisse eingegangen werden. „Der Ganztag erreicht schon die Richtigen“, sagt der Diplompädagoge Matthias Pohl, bevor er heute mit einer Schülergruppe zum Mittagessen geht. Momentan seien es eher die schwierigen Kinder, die bis zum Nachmittag in der Schule blieben: „Auch deswegen ist es besser, wenn in Zukunft alle bis 15 Uhr in der Schule zusammen sind.“
Netzwerk
Viele der Ideen stammen aus der Arbeit im Netzwerk Ganztagsschule. „Durch das Netzwerk haben sich uns Türen geöffnet, von deren Existenz wir gar nichts wussten und die wir daher auch gar nicht gesucht hätten“, sagt Schulleiterin Beatrix Albrecht. In Bremen etwa hätte sie ein besonderes Konzept zur Schulsozialarbeit beeindruckt, welche in ihrer Netzwerkarbeit eigentlich gar nicht im Fokus gestanden habe. Aus Hamburg-Winterhude hätten sie die Dokumentation der eigenen Lernergebnisse im Logbuch mitgenommen, und neue Materialien kennen gelernt, die das offene Arbeiten fördern. Auch dass manche organisatorische Dinge direkt übernommen werden konnten sei eine große Hilfe.
„Man braucht Vorbilder“, findet Beatrix Albrecht, „das gibt einem Vertrauen.“ Dabei habe sich auch der schulübergreifende Austausch im Netzwerk bewährt, dem die Albert-Schweitzer-Schule zunächst skeptisch gegenüber gestanden habe. Doch auch von Gymnasien hätten sie wichtige Anregungen erhalten. „Außerdem war es für uns auch wichtig, dass immer mal wieder jemand von außen auf das schaut, was wir gerade machen“, sagt die Schulleiterin. Von den Hospitationen würden Gäste wie Gastgeber profitieren.
Ab nächstem Frühjahr wird Beatrix Albrecht ihre Kollegen in einem neuen Gebäude empfangen können. Gestern hat sie bereits die Räume zeigen können, die ihnen die Stadt Hannover angeboten hat. In der ehemaligen Haupt- und Realschule wird es endlich Platz genug geben, um Lerninseln und Lernwerkstätten einzurichten, eine große Küche und einen großen Kreativbereich. Nicht nur jeder Jahrgang, sondern sogar die Eltern bekommen einen eigenen Raum.
Gerade weil so vieles neu entsteht, ist es der Schulleiterin wichtig, viele Rückmeldungen einzuholen. So sind die Eltern auch bei der konzeptionellen Neugestaltung des Geländes eng eingebunden. Was da gerade an ihrer Schule passiere? Beatrix Albrecht vermutet, dass die Eltern nicht immer alles verstünden. „Aber das Grundvertrauen ist da und sie wissen, dass wir uns bemühen“, sagt die Schulleiterin. Dann denkt sie an den letzten Gesamtelternabend und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Dort hätten sie das neue Konzept vorgestellt – und erhielten dafür lang anhaltenden Applaus. „So etwas habe ich in meiner gesamten Schullaufbahn noch nicht erlebt“
Datum:
09.09.2011
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