Werte und Kompetenzen für eine zukunftsfähige Schule

Wolfgang Edelstein

 

Eine demokratische Schule ist kein Luxus

Demokratie lernen ist keine Nebenaufgabe, die gleichsam außerhalb des Ernstfalls, als „sozialer Klimbim“ auf einem Nebenschauplatz der Kuschelpädagogik für den schönen Schein anfällt. Demokratie in der Schule ist der Ernstfall, und sie muss ins Zentrum der Aufgabe gestellt werden, die Schule überhaupt zu erfüllen hat. Schüler sollen für das Leben lernen, und es ist die Aufgabe der Schule, sie dabei zu unterstützen. Dieser Aufgabe dienen Unterricht und Erziehung gleichermaßen. In diesen Kontext müssen wir die demokratische Schule stellen; dies ist der Zusammenhang, in dem Demokratie lernen und leben seinen Sinn entfaltet. Es geht dabei um die Funktion, die Schule im Leben der Schüler hat, die sie auf ihre Zukunft vorbereiten soll. Dieser Funktion müssen wir ein Stückweit nachspüren, um die zentrale Stellung des Demokratiegebots in der Schule zu begreifen, das zugleich das BLK-Programm legitimiert. Demokratie lernen erfüllt dabei gleichzeitig drei Funktionen:

(a) Demokratie lernen, um in Zukunft bewusst demokratisch handeln zu können;
(b) Demokratie leben, d.h. an einer demokratischen Community teilhaben, um einen demokratischen Habitus zu erwerben;
(c) Demokratie als Lebensform mitgestalten, um eine transferfähige Erfahrung für die Gestaltung einer demokratischen Gesellschaftsform zu erwerben.

Diese drei Formen des Lernens:

  • bewusste Aneignung von Wissen,
  • lebendige Erfahrung,
  • partizipatorische Mitgestaltung,

sollen sowohl den Sinn als auch die Funktionsweise sowie schließlich die Gestaltungsspielräume demokratischer Regeln, demokratischer Tugenden und demokratischer Kooperationen erschließen. Eine herausragende Rolle spielen dabei soziale Kompetenzen als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingungen demokratischer Lebensformen auf der Ebene individueller Dispositionen, Bereitschaften, Fertigkeiten und Überzeugungen. Ohne soziale Kompetenzen keine Kooperation, keine Verantwortungsübernahme, keine Partizipation, ohne dieser Qualifikationen der Individuen keine Demokratie. Daher handelt dieser Text vor allem von den individuellen Voraussetzungen und Bausteinen, aus denen demokratiepädagogisch aktive Schulen demokratische Gemeinschaften errichten. Diese sollen Schüler für das Leben erwerben, und es ist die Aufgabe der Schule, sie dabei zu fördern. Diesem Ziel sollen Unterricht und Erziehung in der Schule gleichermaßen dienen.

Perspektive auf Werte und Normen

Um Schüler auf ein Leben in zehn oder zwanzig Jahren (oder auch auf eine Zukunft im Abstand einer Generation) vorbereiten zu können, ist Information darüber erforderlich, welche Anforderungen das „Leben“ an sie stellen wird. Welchen Herausforderungen werden sie konfrontiert sein? Um darauf eine annähernd glaubwürdige Antwort geben zu können, benötigen wir wissenschaftlich gestützte Szenarien über die zukünftige Gestalt der Gesellschaft, die Struktur des Wirtschaftslebens, die Perspektiven der beruflichen Arbeit. Doch ebenso benötigen wir eine Perspektive auf die Werte und Normen, die das Leben der nächsten Generation anleiten sollen.

Grundnormen für die Entwicklung

Maßgebliche Szenarien über die Entwicklung der Gesellschaft in mittleren Zeiträumen haben z.B. die Delphi-Studien des BMBF in den späten neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, demographische Voraussagen der Bevölkerungsentwicklung, Analysen der wirtschaftlichen Entwicklung der OECD sowie Analysen der Umweltentwicklung der Vereinten Nationen entworfen. Die Vereinten Nationen haben zudem mit der Menschenrechtskonvention und der Konvention über Kinderrechte völkerrechtlich verpflichtende Grundregeln für die normative Orientierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens gelegt, die durch die Gremien der EU, der OECD und des Europarats anerkannt und weiter differenziert wurden. Insbesondere die OECD hat ihre bildungspolitischen Zielsetzungen in den Rahmen der Menschenrechte, der Demokratie und der Nachhaltigkeit als Grundnormen für die Entwicklung gestellt. Den weltweit verbindlichen Normen hat die OECD als Leitwert noch die soziale Integration (den Wert der Inklusion) hinzugefügt. Das bedeutet, dass alle Vorstellungen, die wir über die Bildung von morgen entwickeln, in den Kontext der Menschen- und Kinderrechte, der Förderung der Demokratie, der sozialen Integration und der Nachhaltigkeit gestellt werden müssen. Dabei gehen wir in der Tradition des aufgeklärten Republikanismus davon aus, dass Demokratie Menschenrechte und soziale Inklusion normativ zwingend einschließt.

Notwendige Bildungsziele

Das Leben zukünftiger, jedoch bereits auch der heutigen Schülergenerationen wird durch tiefgreifende Änderungen gegenüber den tradierten gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturmustern bestimmt werden, an denen die Schule sich bisher orientieren konnte. Eine in hohem Maße globalisierte Wirtschaft wird den Produktionsstandort Deutschland unter starken Qualitäts- und Konkurrenzdruck setzen. Die Struktur der Arbeit wird sich aller Voraussicht nach quantitativ wie qualitativ tiefgreifend ändern. Eine vor allem technologisch bestimmte Güterproduktion, eine hochentwickelte Kommunikations- und Informationstechnologie und ein expandierender Dienstleistungssektor, nicht zuletzt im Gesundheitswesen und Pflegebereich, wird die Strukturen des wirtschaftlichen Lebens verändern. Gering qualifizierte Arbeit wird voraussichtlich stark abnehmen, Bildungs- und Qualifikationsvoraussetzungen für Erfolg am Arbeitsmarkt werden dagegen massiv zunehmen. Technologische Systeme werden das gesellschaftliche Leben bis in den letzten Winkel durchdringen, es aber auch individualisieren. Diese Entwicklungen werden den Menschen ein hohes Maß an Flexibilität und zugleich aber ein hohes Maß innerer Stabilität abverlangen. Die Wohlfahrt eines jeden wird mehr als bisher von individuellen Anstrengungen und weniger von kollektiven (öffentlichen) Sicherungen abhängen. Die Qualität des gesellschaftlichen Lebens wird viel stärker als heute von der Fähigkeit und Bereitschaft der Bürger abhängen, zivilgesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen. Es liegt auf der Hand, dass Individuen, um solche Anforderungen zu meistern, ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit besitzen, die Bereitschaft und die Fähigkeit haben müssen, Verantwortung zu übernehmen, schließlich über entwickelte soziale Fähigkeiten verfügen müssen. Der zunehmenden Individualisierung in allen gesellschaftlichen Funktionsbereichen korrespondiert ein nachhaltig gestiegener Qualifikationsanspruch an die Individuen – ein Anspruch, dem sich die Schulen werden öffnen müssen. Strategien zur Erhaltung und Förderung der sozialen Integration einschließlich der Fähigkeit zur Konfliktbearbeitung fordern besondere Aufmerksamkeit – nicht zuletzt angesichts einer drohenden Abkoppelung umfänglicher Gruppen von Modernisierungsverlierern von der gesellschaftlichen Entwicklung. Auch für die Sicherung sozialer Integration und des sozialen Zusammenhalts sind die Individuen in einem heute noch kaum geforderten Ausmaß auf soziale Kompetenzen angewiesen: auf die Fähigkeit, die Perspektive anderer zu übernehmen, Konflikte fair zu lösen, zu kooperieren, gemeinsam mit anderen Verantwortung zu übernehmen. Der Fähigkeit zum Konfliktmanagement kommt eine besonders zukunftsträchtige Bedeutsamkeit deswegen zu, weil interpersonale Konflikte mit wachsender Ungleichheit zunehmen dürften. Die skizzierten Entwicklungen werden, wenn die Individuen sich die soeben genannten Bereitschaften, Fähigkeiten, Kompetenzen und Tugenden nicht aneignen, die Demokratie akut gefährden. Anzeichen solcher Gefährdung können wir bereits erkennen. Auf diese Anzeichen sollte das BLK-Programm „Demokratie lernen und leben“ eine konstruktive Antwort geben. Diese beruft sich auf die Einsicht, dass es einer eingelebten Praxis demokratischer Lebensformen bedarf, um bei jungen Menschen den Habitus einer demokratischen Lebensführung zu kultivieren. Denn die Gelegenheit, die Praxis solchen Handelns zu erwerben, entgegenkommende Verhältnisse für die soziale Integration muss die Schule zur Verfügung stellen – die einzige Institution, die alle Kinder aufnimmt und ihnen eine Praxis gemeinsamer Normen und Werthaltungen anbieten kann. Die Programmschulen sollten Schritte auf diesem Weg gehen, die andere von ihnen lernen können.

Schulen als Lebenswelten

Es liegt auf der Hand, dass die veränderten Qualifikationsprofile, die sich aus solchen Szenarien praktisch übereinstimmend ableiten lassen, die korrespondierenden Bildungs- und Erziehungseinrichtungen vor die Aufgabe stellen, ihre Schüler mit den für das Leben und das Überleben in der heraufziehenden Gesellschaft erforderlichen Qualifikationen auszustatten. Dabei besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Qualifikationen, die zur erfolgreichen Bewältigung zukünftiger Formen der Arbeit, des gesellschaftlichen Lebens, des für das Individuum erforderlichen Weltverständnisses, der politischen Kommunikation und des kulturellen Austauschs notwendig sind, auf Erfahrungen und Lernprozesse angewiesen sind, welche die Curricula und die gängigen Formen des Lernens in der Schule nur ungenügend transportieren. Es ist eine Aufgabe von Schulen, die mit dem Programm „Demokratie lernen und leben“ arbeiten wollen, den Schülern im Blick auf zukunftsfeste Kompetenzen für ein Leben in der Demokratie solche Erfahrungen zu vermitteln und solche Lernprozesse zu ermöglichen. Zu diesem Zweck müssen die Schulen selbst sich zu Lebenswelten entwickeln, die eine partizipative, kooperative und von Fairness bestimmte Praxis exemplarisch verwirklichen – oder doch nach Möglichkeit zu verwirklichen suchen!

Soziale Kompetenzen = Schlüsselkompetenzen

Die oben kurz skizzierten (und ähnliche) Zukunftsszenarien haben die OECD veranlasst, im Rahmen eines bedeutenden internationalen Kooperationsprogramms einen transnationalen Konsens über Schlüsselkompetenzen herzustellen, die zur erfolgreichen Bewältigung der Aufgaben befähigen, die ein Leben unter gegenwärtigen, vor allem aber unter den vorhersehbaren zukünftigen Bedingungen den Individuen auferlegt (vgl. Rychen & Salganik 2001, 2003).
Kompetenzen werden als die Befähigung definiert, eine kontext- bzw. situationsgebundene Anforderung erfolgreich zu bewältigen und die dafür erforderlichen kognitiven, emotionalen, und motivationalen Ressourcen, Fertigkeiten, Einstellungen und Werthaltungen zu mobilisieren. Kompetenzen kann man deshalb am besten als anwendungsbezogene Handlungsfähigkeiten begreifen, als Handlungsbereitschaft in einer Anforderungssituation (Weinert 2001). Anders als bei den meisten herkömmlichen Lernaufgaben geht es dabei weniger um das Abspeichern kognitiver Inhalte im Gedächtnis, sondern um den Aufbau eines Potentials zur Beantwortung kontextuell situierter Aufgaben bzw. zur Lösung situierter Probleme unter Rekurs auf Erfahrung, zu der Handlungsfertigkeiten, Einstellungen und Haltungen, Bereitschaft und Motivation ebenso gehören wie Kenntnisse und Wissen. Kompetenzen sind also zunächst stets erfahrungs- und kontextgebunden. Wenn sie kontextübergreifend zur Bewältigung von Aufgaben eingesetzt werden können, die in unterschiedlichen Situationen eine Rolle spielen, handelt es sich um so genannte Schlüsselkompetenzen, die folglich für den (schulischen) Kompetenzerwerb besonders relevant sind. Es leuchtet unmittelbar ein, dass soziale Kompetenzen Schlüsselkompetenzen sind, die in unzähligen Situationen des sozialen und politischen Lebens zum Verständnis der Situation und zur Lösung von Problemen gefordert sind.

Kernkompetenzen

Die OECD hat aufgrund von Expertisen und Forschungsprojekten in ihren Mitgliedsländern drei Kernkompetenzen definiert, die folglich in allen Bildungssystemen Geltung beanspruchen sollten:

(a) selbstständig handeln können;
(b) Werkzeuge (tools) konstruktiv und reflexiv nutzen können;
(c) in heterogenen Gruppen erfolgreich miteinander umgehen bzw. gemeinsam handeln können (Rychen 2005).

Jede dieser grundlegenden Kompetenzen lässt sich in eine Anzahl Schlüsselkompetenzen zerlegen, die für Leben und Lernen in der Schule in hohem Maße relevant sind, so wie dies auch für die vier oben bereits genannten Leitwerte gilt: Orientierung des pädagogischen Handelns an Menschenrechten und Kinderrechten, an Demokratie und Mitbestimmung, an Normen der sozialen Integration und Kohäsion, an der Norm der Nachhaltigkeit. In der Substanz implizieren zwei von den drei Basiskompetenzen und mindestens drei von den vier Leitwerten die zentrale Bedeutung sozialer Kompetenzen für den Bildungsprozess. Und umgekehrt: Es sind Kompetenzen des sozialen Handelns und Fähigkeiten des sozialen Verstehens, die zur Konstitution einer demokratischen Lebensform, zu einer menschenrechtlich geprägten Praxis, zur Bewahrung und Bewährung der sozialen Integration führen. Wenn man sie als zukunftsfeste Kompetenzen der Individuen und zugleich als Gestaltungsprinzipien der sozialen Welt mit Hilfe dieser Kompetenzen ernst nehmen will, müssen sie den Bildungs- und Erziehungsprozess als Ganzes strukturieren und die schulische Praxis nachhaltig durchdringen. Das können sie freilich nur, wenn sie konkretisiert, d.h. auf die konkrete Praxis in der Schule heruntergebrochen werden. Dann erst können wir ihre Funktion als Bausteine einer demokratischen Lebensform der Schule erkennen. Dies soll im Folgenden an einigen Beispielen gezeigt werden:

Leitwerte der Demokratie

Menschenrechte und Kinderrechte in der Schule implizieren vor allem Respekt und Anerkennung jeder Person jederzeit und überall sowie das Recht auf individuelle Förderung, und das heißt: Anerkennung individueller Lernbedingungen und Lernbedürfnisse. Die Anerkennung individueller Unterschiede in heterogenen Gruppen ist, wie von PISA erneut demonstriert, keineswegs Teil des Ethos des gegliederten Schulsystems, sie bedarf einer bislang systemfremden Kultivierung. Und weil ihre psychologischen Voraussetzungen und pädagogischen Implikationen auch nicht Teil der Lehrerbildung, der Vorbereitung auf die Ausübung der Profession und des Professionswissens ist, bedarf es für eine menschenrechtlich fundierte Durchdringung der ganzen Schule und des gesamten pädagogischen Handelns noch einer ganz erheblichen Anstrengung zur Änderung der schulischen Verhältnisse. Der Leitwert der Demokratie fordert Teilhabe und Mitbestimmung aller Akteure in der Schule: Lehrer, Eltern, Schüler – und die Mitbestimmung von Akteuren der Zivilgesellschaft. Demokratie in der Schule impliziert Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme für alle von der Schule betroffenen Akteure, und das bedeutet, über das Repertoire von Handlungsmöglichkeiten nachzudenken, das die Schule ihren Mitgliedern, aber auch den Akteuren ihres Umfelds zur Verfügung stellen kann – im Unterricht wie im Leben der Institution. Die Praxis solcher Mitwirkung setzt auf die praktische Anwendung sozialer Kompetenzen im Zusammenwirken aller Betroffenen und übt sie zugleich: Perspektivenwechsel, soziales Verstehen, gesichertes Gehör für unterschiedliche Standpunkte, Fairness im Verhandeln von Interessen, gleiche Rechte, Teamwork, Kooperation.
Der Leitwert der sozialen Integration fordert vor allem Sensibilität im Umgang mit unterprivilegierten Gruppen, nicht zuletzt mit Kindern fremdkultureller Herkunft. Dabei geht es auch und sogar vordringlich um die Kompensation von Armut und kultureller Deprivation. Es geht um Anerkennung und Inklusion. Geduld, Toleranz und Solidarität erfordert die Praxis eines erzieherischen Umgangs, der die Schule als Gemeinschaft, als community in den Dienst der sozialen Integration stellt, und damit im Kleinen übt, was im Großen erforderlich ist, um den Bestand einer integrierten Gesellschaft zu sichern und diese als Demokratie zu gestalten.
Soziale Kompetenzen sind der Stoff, aus dem verantwortungspädagogische Nachhaltigkeit gemacht ist: Jede Schule steht vor der Aufgabe, in Unterricht und Schulleben zur Sicherung des Prinzips der Nachhaltigkeit beizutragen. Achtung der materiellen wie der immateriellen Gemeinschaftsgüter im schulischen Alltag ist eine Aufgabe, die den im Unterricht gewonnenen Sachverstand über Naturprozesse ebenso herausfordert wie die Einsicht in Prinzipien eines fairen sozialen Zusammenlebens und die Anerkennung von Gerechtigkeitsnormen. Insofern durchwirkt der Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit jeden ernsthaften Versuch, Menschenrechte, Demokratie und soziale Integration zu verwirklichen. Um sie verwirklichen zu können, werden eben jene Schlüsselkompetenzen in Anspruch genommen, welche die OECD in den Mittelpunkt ihrer bildungspolitischen Anstrengungen gestellt hat, allen voran die sozialen. Diesen Kompetenzen wenden wir jetzt unsere Aufmerksamkeit zu.

Die Kernkompetenzen: In ihrer Konkretisierung als kontextübergreifende Schlüsselkompetenzen durchdringen die Kernkompetenzen Leben und Lernen in der Schule. Wir werden sie jetzt nacheinander in der gebotenen Kürze abhandeln:

1. Leitkompetenz: Erfolgreich selbstständig handeln können

Erfolgreich selbstständig handeln können setzt Gelegenheitsstrukturen für selbstständiges Handeln in Schule und Unterricht voraus; dazu gehören: die Übertragung von Verantwortung, Gelegenheit zu eigenständiger Planung von Aufgaben und Projekten; Erprobung von Führungsaufgaben, Initiativrechte und Anerkennung für selbstständig erbrachte Leistungen, auch die Duldung von (begründetem) Widerspruch und das Gehen eigener Wege. Die Förderung der Selbstwirksamkeit, d.h. eine optimistisch getönte Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit, die unerlässlich ist für eine positive Motivation zu schulischer Leistung, hängt ab von der positiven Bewertung individueller Initiative und der Anerkennung für individuelle Anstrengungsbereitschaft und nicht nur für eine tatsächlich erbrachte Leistung. Aus übergeordneter Perspektive heißt selbstständig handeln können auch gegen Widerstände, gegen Mehrheiten, gegen Autoritäten handeln – aus Gewissensgründen, aus einer Orientierung an Prinzipien. An dieser Stelle treffen die Bereitschaft, selbstwirksam autonom zu handeln, soziales Verstehen und moralisches Urteil zusammen, um verantwortliches Handeln zu motivieren. Eine Schule, die Verantwortung kultivieren will, wird die Gründe für das Handeln auf ihre Stichhaltigkeit prüfen und stichhaltige Gründe anerkennen, auch wenn dies einmal nicht im Interesse der Institution oder einer Mehrheit zu liegen scheint. Nur so wird mit der moralischen Sensibilität die Überzeugung eigener Wirksamkeit gefördert, die einer Person signalisiert, dass sie dem Gewissen gemäß auch handeln kann, ohne sich zu verleugnen.
Selbstständig und selbstwirksam handeln können ist folglich eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Teilhabe an der Zivilgesellschaft in Zukunft. Die unausweichliche Transformation und zumindest teilweise Individualisierung staatlicher Sicherungs- und Fürsorgeinstitutionen kann sozial erträglich nur gestaltet werden, wenn das zivilgesellschaftliche Engagement den Individuen zugleich ein selbstwirksam gestaltetes individuelles und ein gemeinschaftliches Leben ermöglicht. Eine demokratische Gesellschaftsform setzt Teilhabe und Mitwirkung der Bürger am gesellschaftlichen Leben, an der Lösung gesellschaftlicher Aufgaben im Kleinen (der eigenen Lebenswelt) wie im Großen (der politischen Gemeinschaft) voraus. Doch bürgerschaftliches Engagement muss gelernt werden, und Selbstwirksamkeit und Verantwortung sind die Bausteine, aus denen individuelles Engagement gefügt wird. Die Schule muss dies kultivieren, und diese Vorbereitung auf ein aktives Leben kann nur durch die gemeinschaftliche Praxis der Schule selbst erfolgen, indem sie entgegenkommende Verhältnisse für die Erfahrung selbstwirksamen Handelns bereitstellt. Insofern setzt auch und gerade autonomes und eigenverantwortliches Handeln der Individuen die sozialen Kompetenzen voraus, die, wie oben beschrieben, in der Praxis einer solidarisch organisierten Schulgemeinde erworben werden. Und genau dies ist eine Realisierung der Demokratie als Lebensform.

2. Leitkompetenz: Konstruktiver Umgang mit Instrumenten

Die zweite von der OECD definierte Kernkompetenz ist: Instrumente (tools) konstruktiv nutzen können. Der umfassende Begriff der „Instrumente“, Instrumentarien, Werkzeuge kommt der schulischen Tradition am meisten entgegen, umfasst diese Basiskompetenz doch die sprachliche Verständigung ebenso wie die mathematischen Operationen und die modernen Informationstechnologien. Die bisherigen PISA-Studien haben vor allem Kompetenzen in diesem Bereich getestet – Lesekompetenz einerseits, mathematische Kompetenzen andererseits. Beide werden als Kompetenzen zur verständigen Handhabung von tools zur effizienten Lösung konkreter Probleme begriffen. Wir sollten nicht übersehen, welche neuen Anforderungen diese Definitionen der Kompetenzen den traditionellen Schulfächern stellen – Anforderungen, die in den Darstellungen der PISA-Aufgaben deutlich werden und die ziemlich neuartige Ansprüche an den Unterricht stellen, weg vom fachdisziplinären Aufbau, hin zur altersangemessen komplexen Informationsverarbeitungs- und Problemlösungskompetenz. In Zukunft dürfte die dritte Facette der Basiskompetenz, nämlich die Kompetenz zur erfolgreichen Nutzung der Informationstechnologien besondere Beachtung erfahren. Die Definition dieser Kompetenz hebt die Fähigkeit zu konstruktiver und reflexiver Nutzung der Instrumentarien hervor: Dabei spielt die Fähigkeit, die Instrumentarien problemlösend und erfinderisch einzusetzen, eine besondere Rolle. Für die schulische Praxis dürfte dies Gruppenarbeit und Modalitäten der Anerkennung von Gruppenleistungen einschließen, vor allem aber die Arbeit in Projekten, die zugleich die Beherrschung der Werkzeuge, der Mittel und die soziale Organisation ihrer Durchführung in kooperativen Gruppen und funktionalen Teams in den Mittelpunkt rücken.

3. Leitkompetenz: Soziale Kompetenz

Die Anerkennung solcher Gruppenleistungen tritt noch deutlicher in der dritten Kernkompetenz in Erscheinung. Diese wird wie folgt definiert: in heterogenen Gruppen erfolgreich miteinander handeln bzw. umgehen können. Diese Definition kann geradezu als Oberbegriff für die umgangssprachlich als „soziale Kompetenzen“ bezeichneten Qualifikationen verstanden werden, die wegen ihrer überragenden Bedeutung für die schulische Praxis an dieser Stelle noch einmal etwas differenzierter betrachtet werden sollen.
Soziale Kompetenzen sind für einen verständnisvollen Umgang zwischen Individuen in jeder Situation erforderlich. Trotzdem müssen sie von jedem Individuum erst gelernt und erworben werden. Wir wissen heute, dass die Lerngelegenheiten und die Lernprozesse, die zum Erwerb sozialer Kompetenzen führen, in den sozialen Umwelten, die Kindern zur Verfügung stehen, also in Familien, Gleichaltrigengruppen, Stadtteilen, Institutionen und den Kulturen, die ihr Leben und ihre Interaktionen prägen, höchst ungleich verteilt sind und höchst ungleich ausfallen. Die Tatsache, dass die Experten der OECD die Interaktion in heterogenen Gruppen herausstellen, verweist auf die multikulturelle Komposition aller modernen Gesellschaften und die zunehmenden Probleme sozialer Desintegration, die daraus hervorgehen. Die Forderung, die Entwicklung sozialer Kompetenzen zu fördern, antwortet folglich einerseits auf universelle Erfordernisse der sozialen Interaktion. Andererseits antwortet ihre gezielte Förderung auf die besonderen Herausforderungen heterogener sozialer Strukturen, welche die soziale Integration moderner Gesellschaften in Frage stellen. Die Schule muss beides im Auge behalten, den Normalfall sozialer Interaktion in Gruppen und das steigende Risiko sozialer Exklusion.
Die Kompetenzdefinitionen der OECD scheinen freilich mit Blick auf die Kompetenzen, die zur Gestaltung des Lebens in der Zivilgesellschaft erforderlich sind, noch unvollständig. Für ein Leben in der Demokratie und für die Schule in der Demokratie zählen die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme, zur geregelten Teilhabe an Institutionen und politischen Prozessen sowie die Bereitschaft zum fairen Teilen von zivilen Rechten und Pflichten zu den Schlüsselkompetenzen: Schulen sollen Gelegenheitsstrukturen für eingelebte Formen lokaler Demokratie entwickeln. Die Erfahrungen, die Schüler damit machen, sind umso wichtiger und nachhaltiger, je abstrakter und erfahrungsferner Demokratie als institutionelle Ordnung und makrosoziales Regelwerk ihnen gegenübertritt. Für die konkrete Erfahrbarkeit der demokratischen Normen Verantwortung, Teilhabe und Fairness muss die Schule sorgen. Niemand sonst kann sie verlässlich an alle vermitteln (Edelstein & de Haan 2004). Welche Hindernisse dabei die strukturelle Ungleichheit der Chancen in unserem Schulsystem errichtet, kann hier nur erwähnt, aber nicht abgehandelt werden.

Praxis demokratischer Lebensformen

Es gibt ein breites Repertoire sozialer Kompetenzen, welche die Schule durch erzieherische Strategien, durch die sichere Geltung sozialer Normen wie Fairness und Anerkennung, durch eine bewusst gestaltete Praxis demokratischer Lebensformen zu fördern vermag. Einige habe ich vorhin genannt, einige in aller Kürze auch beschrieben. Das Repertoire reicht von sozialer Sensibilität der Teilnehmer an alltäglichen Interaktionen, die im Erziehungsraum der Schule in geeigneten Situationen – aber z.B. auch im Theaterspiel – thematisiert werden können, über die Einübung von Kommunikation und Verständigung mit unterschiedlichen Partnern in unterschiedlichen Situationen, über Verhandeln, Kooperation in Teams, Gruppen und Projekten, bis hin zur Übernahme von Führungsrollen, Maßnahmen zur Verhinderung von Gewalt, Training von Zivilcourage und Methoden des Konfliktmanagements. Besonders relevant und nachhaltig wirksam sind dabei die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und zur Perspektivenübernahme, die kritischer Bestandteil aller sozialer Kompetenzen ist, die Fähigkeit zur Kooperation, die in Teams, Gruppenarbeiten und vor allem in Projekten eingeübt werden kann; und schließlich die Fähigkeit, Konflikte zu bearbeiten, Konflikte fair zu schlichten und zum Vorteil aller Beteiligten (als win-win Situation) zu lösen. Soziale Kompetenzen sind nachhaltig: Sie bestimmen die Schulkultur ebenso wie das Leben nach der Schule – sei es im beruflichen Kontext, sei es im Bereich der Zivilgesellschaft. Hier gilt in besonderem Maße, dass im Kleinen geübt werden kann, was in Großen bedeutsam ist. Deshalb vermitteln Projekte als kooperative Formen des Lernens sowie variable Formen der Team- und Gruppenarbeit nachhaltig wirksame Erfahrungen der Praxis sozialer Schlüsselkompetenzen; und deshalb stellen Klassenrat und Schulgemeinde als Grundzellen demokratischer Lebensformen in den Schulen, nicht zuletzt in Ganztagsschulen, entgegenkommende Verhältnisse für die Entwicklung und Förderung einer schuldemokratischen Praxis dar.

Bedeutung der Förderung sozialer Kompetenzen

Sollten wir nochmals fragen, wozu das gut sei bzw. ob dies nicht der Luxus einer Kuschelpädagogik sei, die in der harten Währung verringerter Leistungsbereitschaft mit nachlassender Performanz teuer erkauft werde, können wir auf die Frage unerwartet deutlich antworten. Demokratische Verhältnisse, die Förderung sozialer Kompetenzen in der Schule sind kein Luxus, und dies aus mehreren Gründen:

(a) Sie verbessern das Schulklima und verringern die Gewaltbereitschaft ebenso wie die tatsächliche Gewalttätigkeit an Schulen, einschließlich der Häufigkeit von Mobbing und sozialen Konflikten.

(b) Mit demokratischer Praxis und dadurch verbessertem Schulklima steigt die Leistungsbereitschaft, nehmen das Engagement für die Schule, das Gefühl der Zugehörigkeit und das Empowerment der Schüler zu und in deren Folge die durchschnittliche Leistung. Nicht von ungefähr propagiert die OECD die Förderung der Kernkompetenzen als Meilensteine auf dem Weg zu höherer Effizienz der Schulsysteme.

(c) Demokratisch integrative Schulen fördern die soziale Kohäsion und binden die Außenseitergruppen, insbesondere Kinder in Armutsverhältnissen, in die Schulgemeinschaft ein. Sie stellen folglich eine besondere Chance dar, die intergenerationelle Vererbung der Armut zu unterbinden, zu der das bestehende Schulsystem in besonderem Maße beiträgt. Eine aktiv demokratische Schule würde mit der Integration der Armen und der Überwindung von Armutskulturen, insbesondere im Kontext bildungswirksamer und integrationsintensiver Ganztagsschulen einen besonderen Beitrag zur sozialen Integration leisten, der in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann.

(d) Und schließlich – eigentlich hätte dies angesichts des Anlasses, aus dem wir hier zusammengekommen sind, am Anfang stehen und als Erstes Erwähnung finden sollen: Nichts wird demokratische Überzeugungen besser festigen als die Praxis der Demokratie, nichts wird zur Sicherung der Demokratie nachhaltiger beitragen als ein aktives Engagement der jungen Generation, ihre Beteiligung an der Gestaltung demokratischer Verhältnisse. Dies wollen wir mit normativen Gründen nicht als Luxus, sondern als Notwendigkeit begreifen, weil wir Demokratie als Wert begreifen, der unser Handeln leitet und informiert. Es ist dabei ein gutes Gefühl, auch im Blick auf internationale Vergleiche, dass demokratische Schulen versprechen, auch die besseren Schulen zu sein. Wir dürfen hoffen, dass dies auch für die Berliner Modellschulen des Programms „Demokratie lernen und leben“ gilt.

Literatur

Edelstein, W. & de Haan, G. (2004). Empfehlung 5: Lernkonzepte für eine zukunftsfähige Schule – von Schlüsselkompetenzen zum Curriculum. In Heinrich-Böll-Stiftung und Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Selbstständig lernen. Bildung stärkt Zivilgesellschaft. Sechs Empfehlungen der Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung. Weinheim: Beltz, S. 130-188.
Rychen, D.S. (2005). Schlüsselkompetenzen für ein erfolgreiches Leben und eine nachhaltige demokratische Entwicklung – ein internationaler Referenzrahmen. PH akzente. Rychen, D.S. & Salganik, L.H. (Eds.). (2001). Defining and selecting key competencies. Göttingen: Hogrefe & Huber. Rychen, D.S. & Salganik, L.H. (Eds.).(2003). Key competencies for a successful life and a well-functioning society. Göttingen: Hogrefe & Huber. Weinert, F.E. (2001). Concept of competence: A conceptual clarification. In D.S. Rychen & L.H. Salganik (Eds.), Defining and selecting key competencies (pp. 45-65). Göttingen: Hogrefe & Huber.